Ist die Gottheit eine Einheit?
Ein klares Ja zu dieser Frage kommt vom Judentum, Islam und Christentum. In letzterem erscheint diese eine Gottheit zudem als eine Dreiheit, als Trinität. Sie ist in sich dreieinig oder dreifaltig, ohne dass ihre Einheit dadurch beeinträchtigt würde. Darin liegt eine alte, schöne und immer neue Aufgabe für christliches Denken und Hinfühlen.1
In anderen Religionen, so bei Indigenen, im japanischen Shintoismus und auch im Hinduismus, erscheint die göttliche Welt als eine Vielheit von Gottheiten, und sie schafft und wirkt als solche und durch sie in vielfältiger Weise.
Schon der biblische Schöpfungsbericht weist auf die Frage hin, denn die schaffende Gottheit ist »Elohim«, eine Vielheit von Schöpfergeistern, ihr Schaffen aber geschieht aus dem Eins-Sein heraus, »sie schuf«. Sehr viel später, in den Zehn Geboten, wird von der Treue zu dem einen Gott Jahwe gesprochen. Jesus Christus selbst wehrt den Versucher ab, indem er sich darauf bezieht: »Du sollst Gott, deinen Herrn, allein anbeten und ihm allein dienen«.2
Wer in dieser Treue und Beziehung zu dem einen Gott lebt, erfährt eine Kraft, die bis heute Menschen in Not zu stärken vermag. Aber der Monotheismus wird auch kritisiert: er führe zu Fundamentalismus und in der Folge zu religiös motivierten Kriegen. Denn wer den einen Gott hat, hat damit den richtigen, und alle anderen haben den oder die falschen …
Vor einigen Jahren wanderte ich entlang des Karnischen Höhenwegs, der auf der Grenze zwischen Osttirol/Kärnten in Österreich und Südtirol in
Italien verläuft. Ich begann in San Candido/Innichen und besuchte in dem quirligen Touristenstädtchen die Stiftskirche (13. Jh.), in deren Zentrum der Blick auf ein großes romanisches Kruzifix fällt. Aufrecht und hoheitsvoll steht er am Kreuz, und die Botschaft ist klar: Einer ist es, der starb und auferstand, der Gottessohn, der mit seiner Tat die Menschheit rettete.
Am Ende des Weges, wenige Jahre später, denn es hatten sich zeitliche Abstände zwischen den Etappen ergeben, erreichte ich, fast schon am Dreiländereck Österreich – Italien – Slowenien, den kleinen stillen Ort Thörl-Maglern mit dem Kirchlein St. Andreas. Im Chor zeigen Fresken aus dem 15. Jh. ein Kreuz, das von zahlreichen Gestalten umgeben ist, und der Himmel vom Kreuzbalken an aufwärts ist in neun großen Bögen erfüllt von engelartigen Wesen. Sie stellen die neun Hierarchien dar, und der Eindruck ergibt sich: mehr Vielheit geht nicht, reichhaltiger könnte die Fülle der Gottheit nicht sein.
Im Rucksack hatte ich »Pfade der Seelenerlebnisse« von Rudolf Steiner dabei.3 Darin fand ich folgende Gedanken: Es gibt zwei Wege zum Göttlichen. Das Anliegen der Mystik ist der Weg über das eigene Innere. Lass die Sinneswelt außen vor und gehe ganz nach innen in den Grund deiner Seele. Du findest Gott dort, den Einen, Ewigen, Ungeteilten. Und wenn du nicht der Versuchung der Hybris erliegst, das heißt zu meinen, das seiest du selbst, weil du ja schon so weit bist, wirst du in ihm wohnen und sein Licht in aller Dunkelheit erfahren. – Es gibt auch den Weg über die Natur. Geh hinaus, schau alle Pflanzen, Tiere, Steine liebevoll an, lerne sie genau kennen und widerstehe der Versuchung, sie nur kausal zu erklären, und du wirst Gott darin finden als eine Vielzahl schaffender, tätiger Geister, einander helfend, dienend, zusammenarbeitend in ewig währender göttlicher Freude und Kreativität. Der göttlich-geistige Weltengrund – »er ist erhaben über das, was Einheit und Vielheit zunächst sind; Vielheit und Einheit sind Begriffe, die gar nicht dahin reichen, wo das Göttlich-Geistige zu fassen ist.«4 – Vom Erfassen mögen wir weit entfernt sein, die beiden Wege aber, die können wir jederzeit gehen.
1 So bei: Michael Debus: Das Rätsel der Trinität, Stuttgart 2023
2 Mt 4,10 und Lk 4,8
3 Rudolf Steiner: Was ist Mystik?, Vortrag vom 10. Februar 1910 in: Pfade der Seelenerlebnisse, GA 58
4 Ebd.
Dorothee Jacobi, Priesterin, geboren 1955, Basel