Kirche – wozu noch?

AutorIn: Christward Kröner

Um die Frage in der Überschrift beantworten zu können, ist erst einmal zu klären, was wir unter dem Begriff »Kirche« verstehen wollen.
Das Wort stammt von dem griechischen »kyriaké«, was so viel bedeutet wie: zu dem Herrn gehörig. Im Lateineischen heißt es »ekklesía« – die Schar der Herausgerufenen. Hier wird im Deutschen auch oft das Wort »Gemeinde« gebraucht.
Paulus spricht von der Kirche als dem Leib Christi.
Im Bekenntnisgebet der Christengemeinschaft heißt es: »Gemeinschaften, deren Glieder den Christus in sich fühlen, dürfen sich ver­einigt fühlen in einer Kirche, der alle angehören, die die heilbringende Macht des Christus empfinden.«
Das reale Sich-verbunden-Fühlen der Glieder einer Gemeinschaft bzw. des Einzelnen mit dem heilenden Wirken Christi ist hier auf zweifache Weise das entscheidende Kriterium dafür, dass Kirche entsteht.
Verstehen wir den Begriff Kirche mit Paulus in diesem Sinne und setzen wir dies Verständnis in Beziehung zu der Eingangsfrage, dann kann schnell deutlich werden: Würden wir diese Kirche abschaffen oder für überflüssig erklären wol­len, dann könnten wir genauso gut die Zukunft der Menschheit und jedes einzelnen Menschen für überflüssig halten.
Bei Paulus heißt es im Kolosser-Brief: ­»Alles ist durch ihn und auf ihn zu geschaffen«. In der Offenbarung Johanni lautet ein Ich-bin-Wort des Christus: »Ich bin das Alpha und das Omega.« Wer in diesem Sinn auf Christus blickt als dem Wesen, das uns unser eigenes höheres Wesen ­
ent­­gegenträgt, und wer sich in seinem Leben darum bemüht, immer wieder in eine tat­sächliche, rea­le Beziehung zu ihm zu treten – der würde, wenn er Kirche für sinnlos und überflüssig ­­er­klären würde, sich selbst für sinnlos und überflüssig erklären. Denn die Kirche Christi bildet sich fortwährend aus der Beziehung der Menschen zu ihm und damit zu ihrer eigenen Zukunft.

 

Kirche – eine Formsache?

Etwas ganz anderes ist die Frage: Wie steht es um die institutionalisierte, sich in bestimmten Formen und Gewohnheiten darlebende und durch Menschen organisierte Kirche als Ausdruck, zum Beispiel, einer Konfession? Wozu braucht es die noch?
Hier ist die Antwort nicht so leicht und eindeutig zu geben. Vielmehr wird es sich um eine tastende Suchbewegung handeln, die vermutlich individuell zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führt.
Es gibt heute Menschen, die bereits die Tatsache einer aus Stein oder Holz gebauten Kirche als Ort der Feier des Gottesdienstes und der gemeinsamen Bemühung um Begegnung mit der göttlichen Welt als eine für sie unerträgliche Einengung empfinden. Noch gesteigert wird ­dieses Erleben dann womöglich durch ein in den Grundzügen immer gleiches Ritual, das die Gemeinde weitgehend stillsitzend und schweigend innerlich miterlebt – und vollzieht –, so wie es etwa in der Christengemeinschaft praktiziert wird.
So wird jemand, für den sich die Frage nach der Kirche entscheidet an der Möglichkeit der vernehmlichen und spontanen Mitwirkung im Gottesdienst, an leiblicher Bewegung und bis ins Äußerliche hinein dargelebter Kreativität und Emotionalität, wohl um die Christengemeinschaft einen weiten Bogen machen und rasch zu der Erkenntnis kommen: Diese Kirche brauche ich nicht.

Auf der anderen Seite gibt es Zeitgenossen, die einen Kirchenbau als Ort der Begegnung und Besinnung schätzen und gern aufsuchen: die gerade die Ruhe (nicht zuletzt vor dem Gottesdienst), die meditative Stille und das Wieder-­Holen und in Erscheinung-Treten des stets ­gleichen Rituals als eine Quelle der Vertiefung, der seelischen Erkraftung und als eine für sie wesentliche Ernährung ihres inneren Menschen erleben. Solche werden sich in einer Gemeinde der Christengemeinschaft beheimaten und dadurch die Frage »Kirche – wozu noch?« auf ihre Weise beantworten.
Hier kann sich die Frage stellen: Sind das nun alles Menschen, denen Spontaneität und Kreativität, Herzlichkeit, menschliche Nähe und Lebensfreude abgehen? Oder ist zu unterscheiden, was wo am Platz und dem jeweiligen Anliegen förderlich ist?
Beschränkt »Kirche« sich auf den gemeinsam gefeierten Gottesdienst? Oder ermöglicht der oben zitierte Satz aus dem Credo nicht vielmehr ein ganz dynamisches Bild von Kirche, die sich durch menschliche Präsenz in jedem Augenblick des Lebens und in jeder menschlichen Konstellation vergegenwärtigen kann?
Dann würden auch alle anderen, künstlerischen, sozialen, pädagogischen und therapeutischen Aktivitäten in der Gemeinde zu dem ­gehören, was Kirche ist oder sein kann. Ebenso würde das christliche Empfinden und Handeln des Menschen am Arbeitsplatz, im Freundes­kreis und auch in der Familie dazugehören. So wie es richtig ist zu sagen: Gott ist überall, so könnte auch »Kirche« überall sein, wenn die entsprechende innere Substanz wesenhaft zu­gegen ist.


Die umgekehrte Frage

Die Perspektive lässt sich aber auch umdrehen, und wir können uns fragen: Wie blickt die Welt der Hierarchien auf unsere Bemühungen um »Kirche«? Was bedeutet es für die göttliche Welt, wenn sich Menschen zum gemeinsamen Gebet vor einem Altar versammeln?
Könnte es sein, dass heute – vielleicht mehr als in alten Zeiten – die Frage gar nicht unbedingt lautet: wozu brauche ich Kirche noch?, sondern: was braucht die Welt, was brauchen die Verstorbenen, die Ungeborenen, die Welt der Engel, der leitende Erzengel unserer Zeit – was brauchen diese Wesen alle von uns, von mir? Was bedeutet das Bemühen um »Kirche« für sie? Vielleicht ist die entscheidende Frage heute: was kann ich beitragen und einbringen? – und nicht so sehr: was kann für mich getan werden?
Bedeutet es etwas für die Welt, wenn da eine betende und sich geistig erhebende Gemeinschaft von in Freiheit vereinten Menschen ihre Kräfte zusammenschließt und dadurch eine bis in die Lebenskräfte hinein wirkende Inkarnationsmöglichkeit für einen Gemeindeengel, für eine freilassende – nicht aus Vergangenheitsbezügen gebildete, sondern mit Zukunftskräften erfüllte – Gruppenseele bildet?
Nehmen wir das Wort des Paulus ernst, der in einem Schreiben an die Gemeinde sagt: Wisst Ihr nicht, dass das Engel-Schicksal von Euch abhängt? – Dass wir davon heute noch nicht so schrecklich viel bemerken, kann ja auch an uns liegen.
Jedenfalls: wenn wir eine ungeteilte Gedanken- und Empfindungswelt annehmen, in der jeder Gedanke, jede Empfindung auch jenseits der Seelengrenze des einzelnen Menschen wirksam ist und sich der ganzen Welt mitteilt, dann bedeutet es doch etwas für das Ganze, wenn immer neu geübt wird, seelische Friedenssubstanz zu empfangen und zu entwickeln, in Gemeinsamkeit und sich wechselseitig verstärkend.

Das Leben Christi ist noch nicht zu Ende. Er entwickelt sich in uns und durch uns weiter. Seine Kirche ist nicht am Ende, aber sie wird durch Metamorphosen ihrer irdischen Ausgestaltung gehen. Dass wir darin mitwirken dürfen, ist eine Gnade und eine Herausforderung zugleich. Niemand muss – ein jeder kann, wenn er will.
Das Wort von Christian Morgenstern gilt auch für das Leben der Kirche: »Wir stehen nicht am Ende, sondern am Anfang des Christentums.«

 

Christward Kröner, geboren 1963, Priester, Berlin