Das Hohelied der Liebe

AutorIn: Friedrich Schmidt-Hieber

Ein besonderer Weg

Und ich zeige euch noch einen Weg, höher als alle anderen« – so beginnt Paulus das Hohelied der Liebe in seinem 1. Brief an die Ko­rinther (Kap. 13). Man hat immer wieder empfunden, dass dieser Hymnus etwas wie ein Herzstück seiner gesamten Verkündigung bildet.
Paulus geht es um einen Weg, einen Entwicklungsprozess. Einen Weg gehen bedeutet, innerlich rege, aktiv zu werden, immer neue Erfahrungen zu machen, sich immer tiefer mit der Welt zu verbinden. Der Weg ist ein Grundmotiv der ersten Christen, in der Nachfolge dessen, der von sich sagte »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«. Sie nannten sich »die auf dem Wege sind« und bekamen den Namen »Christen« erst später, von außen her.
Als Saulus vor Damaskus seine Begegnung mit dem wiedergekommenen Christus haben durfte, heißt es, dass er sich auf dem Wege befand; und er sollte die Christen gefangen nehmen, die auf dem Wege waren (Apg 9,2–3). In dem »ich zeige euch« klingt die Bestimmung seines Wirkens an, wie sie ihm von Christus ­offenbart wurde: Er sollte Christi Namen zu den Menschen tragen (Apg 9,15).
Der Weg, um den es geht, ist höher als alle anderen und muss insofern immer mitbeteiligt sein.
In erschütterndem Realismus konfrontiert uns Paulus mit dieser Tatsache: Was immer der Mensch als Äußerstes erreichen kann in der Rede, in der Prophetie, in der Erkenntnis, im Glauben, in der Selbstaufopferung – geschieht es ohne Liebe, so nützt es nicht. Dadurch kommt zum Ausdruck, ohne direkt in Worte gefasst zu sein: Zu lieben ist die eigentliche Bestimmung unseres Erdendaseins!

 

Manifestationen der Liebe

In fünfzehn Charakterisierungen wird nun beschrieben, was die Liebe tut und – was sie nicht tut. Alle diese fünfzehn Charakterisierungen, ausnahmslos, sind Tätigkeiten: Liebe lebt ihrem ganzen Wesen nach in Aktivität! Man kann ­fragen: Was bezweckt Paulus mit diesen Charakterisierungen? Man könnte doch sagen: Die Liebe ist ein ganz spezifisches Gefühl in unserer Seele – »Die Liebe ist, was sie ist« – und die angeführten Tätigkeiten sind, jede für sich, auch wieder spezifische Seelenregsamkeiten.
Von dem greisen Jünger Johannes in ­Ephesus geht die Legende, dass er immer wieder den Satz ausrief: »Kindlein, liebet einander!« Wenn Pau­lus nun solche erweiternden Charakterisierungen der Liebe gibt, könnte man es vergleichen mit dem Licht der Sonne, das in den verschiedensten Farben aufleuchtet, wenn es den Dunkelheiten des Irdischen begegnet. So manifestiert sich die Sonne der Liebe in den verschiedenen Färbungen innerhalb unseres täglichen Lebens. Auffallen kann, dass Paulus auch sehr viel darüber sagt, was die Liebe nicht tut. Er sagt da­rüber sogar mehr als über das, was sie tut (8:7). Menschen, die heute einen Weg der Spirituali­sierung des Lebens gehen, mögen vielleicht be­dacht sein, immer nur das Positve anzustreben, das Nega­tive falle dann wie von selber ab. Vergegenwärtigt man sich aber das Gehen eines Weges, dann ist freilich das Wichtigste, dass der eine Fuß Neuland erobert; das kann es jedoch nur, wenn sich der andere Fuß entschieden von dem Zurückliegenden abstößt. Paulus war dieses Sich-Abstoßen vom Negativen wichtig, denn es stärkt, wie wir erleben können, die Ausbildung unseres individuellen Ich.
Ich möchte es der Leserschaft anheimstellen, sich diese fünfzehn Manifestationen, von denen jede wieder eine kleine Welt für sich ist, umfänglicher zu vergegenwärtigen und in sich zu beleben, und werde hier nur kurze Bemerkungen dazu machen.

 

Liebe

… lässt Großmut/Langmut walten. – »Großmut« arbeitet mit dem Bild des Raumes – die große Seele, die den Unzulänglichkeiten, ja ­Marotten des anderen Menschen in sich Raum gibt. »Langmut« mit dem Bild der Zeit – dem Tatbestand Rechnung tragend, dass es bei tiefer liegenden Schwierigkeiten, vor allem im Bereich der Gewohnheiten, oftmals langer Zeit bedarf, bevor der Mensch sie, wenigstens teilweise, überwinden kann. Das griechische Wort kann auch bedeuten »währen«, »ausharren«.
verströmt Güte. – Großmut und Güte liegen sehr nahe beieinander. Großmut nimmt den anderen an, wie er ist. Güte lässt ihm zusätzlich aufbauende, helfende Kräfte zuströmen.
■ Nun folgen in einem Block die acht abwehrenden Tätigkeiten. Paulus wählt also als Darstellungsfigur den Beginn mit dem Positiven. Dadurch bringt er zum Ausdruck, dass der Mensch in seinem tiefsten Wesen zum Guten gestimmt ist, anders als es die christliche Kirche, vor allem seit Augustinus, später sah. Jegliches Streben nach dem Guten ruft aber verstärkt die Widersacher auf den Plan, die das verhindern wollen, und entsprechend folgt nun in acht Beispielen die Auseinandersetzung mit ihnen. Nach dieser »Reinigung der Atmosphäre« können dann weitere positiv orientierte Aktivitäten folgen.
Sie neidet nicht. Es kann auch heißen Sie er­eifert sich nicht. – In der Eifersucht kommen Neid und Sich-Ereifern zusammen.
Sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. – Man kann sich fragen: Wenn Paulus, seinem Stil gemäß, doch sicherlich alles auf das Knappste zu fassen versucht, warum dann zwei Ausdrücke, die fast dasselbe bezeichnen? Es ist eben so, dass Eitelkeit und Ehrgeiz unter all dem, was das Zu­sammenleben und Zusammenarbeiten unter uns Menschen behindert, ganz vornean stehen. Entsprechend setzt Paulus einen starken Kontrapunkt.
Sie missachtet nicht Grenzen. – Das griechische Wort enthält in sich den Begriff der Gestalt. Die Gestalt, mit der wir uns nach außen abgrenzen, korrespondiert unserem Ich, mit dem wir uns als Individualität abgrenzen. Die Liebe verletzt diese Grenzen nicht und dringt nicht unrechtmäßig in das Innere des anderen Menschen ein.
Sie sucht nicht das Ihrige. – Sie denkt und sagt nicht nur immer ich, ich, ich. Dieses von sich selbst Loskommen hat Rose Ausländer in einem berührenden kleinen Gedicht zum Ausdruck ­gebracht: »Wir wohnen / Wort an Wort / Sag mir / dein liebstes / Freund / meines heißt / DU«. Man kann sich fragen, warum bei den positiven Tätigkeiten der Liebe die so wichtige Kraft des Mitleidens nicht aufgeführt ist. Aber ergibt sich das Mitleiden und Mitfreuen nicht gleichsam von selbst aus dem »Sie sucht nicht das Ihrige«?
Sie lässt sich nicht aufreizen. – Man denke z. B., wie leicht es in einzelnen Cliquen, Chat-Gruppen und dergleichen dazu kommt, gegen außenstehende Menschen Stimmung zu machen.
Sie trägt das Böse nicht nach – weil sie ganz auf Entwicklung setzt!
Sie freut sich nicht über Unrecht … – und jetzt der Umschlag zu den positiven Betätigungen: … sie freut sich nur mit der Wahrheit. – Wenn Paulus Unrecht und Wahrheit gegenüberstellt, so ist das ungewöhnlich. Es bringt aber zum Ausdruck, dass Recht nicht einfach nur eine ­Verabredungssache ist, eine Konvention, sondern dass es um die Tiefen unseres Menschseins, um Wahrheit und Unwahrheit geht! Und die Liebe erhebt mit der Freude die Wahrheits­findung aus einer nüchternen, reinen Gedanken­betätigung in ein Geschehen, das den gesamten Menschen durchpulst!
Sie bedeckt alle Blöße. – Man kann an das Wort Nietzsches denken: »Was ist dir das Menschlichste? – Jemandem Scham ersparen.« Das Wort kann auch »ertragen« bedeuten, aber dieses Motiv ist schon durch die letzte der Tätigkeiten abgedeckt (s.u.).
Sie glaubt alles. Sie hofft alles. – Wir hatten oben gesehen: es kann einen Glauben geben, sogar Berge versetzend, aber ohne Liebe. Es gibt aber keine Liebe ohne Glauben und auch nicht ohne Hoffnung. Ein Problem liegt in dem »alles« – gibt es nicht auch den blinden Glauben, die falsche Hoffnung? Wir werden später darauf zurückkommen.
Sie erduldet alles. – In nahegehender Weise hat dies z.B. Goethe bei seiner Christiane anerkannt, die so viel unter seinem unerbittlichen Ausleben der eigenen Intentionen zu leiden ­hatte: »Das ist die wahre Liebe, / die immer und immer sich gleich bleibt, / wenn man ihr alles gewährt, / wenn man ihr alles versagt«. Aber auch hier wieder die Frage des »alles« – man muss sich doch auch zu wehren wissen?

Wir können uns diese zurückweisenden und aufbauenden Tätigkeiten der Liebe zusammenfassen in der Grundbotschaft des Paulus: »Nicht ich, sondern der Christus in mir!«


Liebe und Erkenntnis

Ist die Liebe Grundkraft der menschlichen ­Seele, so ist die des menschlichen Geistes das Erkennen. Will Paulus also das Wesen der Liebe charakterisieren, so ist unerlässlich, dass er sie in Beziehung bringt mit dem Erkennen. Da besteht zunächst der Unterschied, dass die Liebe »immer währt«, das Erkennen aber und auch das Weissagen und Zungenreden »Stückwerk« sind. Rudolf Steiner gibt hier eine einfache, pragmatische Deutung, die er auch gleich in seine Übersetzung des Hohelieds mit einflicht: »Was man weissaget, gehet dahin, wenn es erfüllt ist; was man mit Zungen redet, höret auf, wenn es nicht mehr zu Menschenherzen sprechen kann; was erkannt wird, höret auf, wenn der Gegenstand der Erkenntnis erschöpft ist«.1 Es handelt sich bei unserem Weissagen, unserem Erkennen zunächst einmal um konkrete, abgegrenzte ­Fragestellungen – eben »Stückwerk«. Sind sie gelöst, ist der Erkenntnisprozess für dieses Mal abgeschlossen. Beim Zungenreden, einer alten, atavistischen, zu Ende gehenden Erkenntnisart liegt das Abgeschlossen-, Stückwerksein darin, dass es bald nicht mehr von Menschen verstanden werden wird. In diesem Sinn von abgegrenzten Einheiten zu sprechen, macht bei der Liebe keinen Sinn – sie strömt in die Zukunft hinein, immerzu fort.
Nun kann man bei dieser pragmatischen Deutung freilich nicht stehenbleiben. Rudolf Steiner setzt dann tiefer an. In der Menschheitsgeschichte hat sich die Erkenntnisfähigkeit, die Weisheit durch die verschiedenen Zeiten hindurch immer weiter und weiter entwickelt, also stückweise. Bei der Liebe war das anders: Die eigentliche, die wahre Liebe kam in einem einmaligen Geschehen in die Menschheit herein, als der Christus seine Liebes-Opfertat auf Golgatha vollbrachte.2 Auch gab er durch seinen Sieg über den Tod dem Menschen die Möglichkeit, sein Ich durch den Tod zu tragen. Durch die Begabung mit diesem Ich kann der Mensch in Freiheit seine Liebe Gott, den Menschen und allen Wesen entgegenbringen. Denn wahre Liebe kann nur da sein, wo Freiheit ist.3
Zunächst erscheint die Erkenntnis im Verhältnis zur Liebe als der schwächere Part, sie wirkt blass und dünn gegenüber dem vollen Leben der Liebe. So kann z.B. Dostojewski ­sagen: »Wer den lebendigen Gott von Angesicht zu Angesicht sehen will, soll ihn nicht am leeren Firmament seiner Gedankenwelt suchen, sondern in der Menschenliebe.« Dies ist aber nur die Erkenntnis, von der Paulus sagt: »Jetzt sehen wir in einem Spiegel nur Rätselbilder.« Sie entsteht durch Spiegelung des Geistigen am Gehirn. Diese Erkenntnis kann sich jedoch weiterent­wickeln, sodass es des Gehirns als Spiegelungsorgan nicht mehr bedarf und wir leibbefreit zu erkennen vermögen: »Dereinst aber sehen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dereinst aber werde ich ganz erkennen, wie auch ich erkannt bin.«
Wie verhält sich diese Vervollkommnung der Erkenntnis zur Liebe? Zunächst könnte man bei Paulus vielleicht den Eindruck haben, beides gehe einfach parallel nebeneinander her, ohne weiteren Bezug aufeinander. Dies widerspräche aber unserer Lebenserfahrung. Ist es nicht so: Je interessierter, liebevoller wir uns in einen Menschen oder einen Sachverhalt hineinleben, desto tiefgreifendere, produktivere Ideen kommen uns? Aber wir müssen hier mit einbeziehen, was in dem Brief dem Hohelied vorangegangen ist, und da stellt sich der Bezug eindrücklich dar: »Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keinem Menschenherzen aufgekommen ist, das hat Gott bereitet denen, die ihn lieben. Uns hat es nun der göttliche Weltengrund durch seinen Geist geoffenbart« (1 Kor 2,9–10). Und wie ist es umgekehrt: Fördert die Liebe das Erkennen, fördert dann auch das Erkennen die Liebe? Auch hier spricht wieder die Lebenserfahrung dafür: Denken wir viel über einen Menschen oder einen Sachverhalt nach, erweckt das die Liebe zu ihm. Rudolf Steiner sagt einmal in der Philosophie der Freiheit, dass der Weg zum Herzen heute durch den Kopf geht. Auch hier findet sich an anderer Stelle, dass Paulus diesen Tatbestand einbezieht. Direkt in Worten im Brief an die Römer (5,5): »Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.« Der Heilige Geist ist also beides: Quell der Erkenntnis und Quell der Liebe! Nicht unmittelbar in Worten, sondern durch die Komposition weist Paulus im 2. Brief an die Korinther darauf hin. Er stellt das Wirken des Heiligen Geistes zwischen die Erkenntnis und die Liebe und deren im Hohelied genannten Manifestationen Großmut und Güte.
Liebe, Erkenntnis und Weisheit gehören unabdingbar zusammen. Dies beantwortet dann auch die oben gestellte Frage: Glaubt, hofft, erduldet die Liebe wirklich alles? Ist sie mit Weisheit verbunden, findet sie die Grenzen heraus, bis wohin jeweils gegangen werden kann.
»… einen Weg, höher als alle anderen« – Mit dem Motiv, dass die Liebe das Höchste, die ­eigentliche Erdenbestimmung des Menschen ist, beginnt das Hohelied der Liebe, mit ihm klingt es auch aus: »… die Liebe aber ist die größte ­unter ihnen.«

In dem gesamten Hohelied der Liebe wird immer nur, ganz objektiv, beschrieben, was Liebe ist, was sie tut; es enthält keinen einzigen ­Aufruf, Liebe auch auszuüben. Wie wirkt das auf uns Hörende? Ist es nicht so, dass ein ganz starker Drang hervorgerufen wird, diese Liebe nun auch zu verwirklichen? Wenn Paulus deshalb unmittelbar anschließend, am Anfang des nächsten Kapitels uns aufruft: »Trachtet mit aller Kraft nach der Liebe!«, so fasst er das in Worte, was in uns Hörenden zum Impuls geworden ist.

1  Rudolf Steiner: Die Bhagavad Gita und die Paulusbriefe, GA 142, Dornach 1960, S. 112.

2  Rudolf Steiner: Die Liebe und ihre Bedeutung in der Welt, in: Erfahrungen des Übersinnlichen. Die Wege der Seele zu Christus, GA 143, Dornach 1974,
S. 209.

3  Rudolf Steiner: Christus und die menschliche Seele, GA 155, Dornach 1960, S. 155.

Friedrich Schmidt-Hieber, geboren 1946, Priester, Freiburg