Serie: eine Seite Theologie: Das Heilige

AutorIn: Tabea Hattenhauer

Im Alter von etwa zehn Jahren mag es gewesen sein, als ich erstmals mit einer Freundin an der Sonntagshandlung teilnehmen durfte. Dieses lebendige Bild, bestehend aus dem er­höhten Altar mit farbigem Antependium, Altarkerzen und Christusbild, zusammen mit dem feierlich gewandeten Priester, der die Worte vom Lehrer der Menschenliebe sprach, prägten sich mir tief ein, und ich hatte die deutliche Empfindung: Was ich hier erlebe, ist wahr und heilig!
»Heilig, heilig, heilig, heilig ist der Herr! Heilig, heilig, heilig, heilig ist nur ER« hieß es dann später in einem Lied, das ich – gemeinsam mit anderen Kindern – auf einer Ferien­freizeit lernte. Da verstärkte sich die Gewissheit, dass dieses Heilige etwas mit Gott zu tun haben muss, den wir nicht mit äußeren Augen sehen, aber stark empfinden können. Eine heilige Scheu kam manchmal über mich, die sich bis zu körperlichen Empfindungen steigern konnte: Ein Druck auf den Ohren, eine verstärkte Wahrnehmung der Hautgrenze, ein Brennen in der Herzgegend.
Beim Heiligen scheint es sich um eine vollkommene, heile Welt zu handeln, die nie zerbrochen ist. Die eigene Unvollkommenheit empfindend, haben sich die Menschen seit Abels Zeiten mit Sehnsucht diesem Heiligen zugewandt und durch Opfer versucht, sich mit dieser göttlichen Sphäre wieder zu verbinden (re-ligio).
In alten polytheistischen Religionen war das Heilige stark mit bestimmten Orten verknüpft: mit Hainen, Bergen und Bäumen, in deren ­Um­kreis das Heilige besonders spürbar war. Der ewige Daseinsgrund aller Wesen wurde dort ­erlebbar.
Mit dem Judentum entstand eine Religion, die das Heilige stärker personifizierte und auf den All-Einen Gott konzentrierte. Ihm wurde durch König Salomo ein Heiligtum errichtet: der Tempel in Jerusalem.
Im salomonischen Tempel lag hinter dem Vorhof mit Wasserbecken und Brandopferaltar das Heiligtum mit siebenarmigem Leuchter, Schaubroten und Räucheraltar, in welchem der Priester den Kultus vollzog, so wie es am Anfang des Lukasevangeliums von Zacharias berichtet wird.
Aber noch weiter innen, verborgen hinter ­einem purpurnen Vorhang, lag das Allerhei­ligste, in dem in völliger Dunkelheit die Bundeslade mit den zehn Geboten aufbewahrt wurde. Über der Lade bildeten zwei goldene Cherubim mit ihren Flügeln einen Raum, in dem die Gegenwart Gottes sich verdichtete. Dieser Ort war so heilig, dass er nur einmal im Jahr vom höchsten Priester betreten werden durfte.
Um die Brücke vom allmächtigen Gottes­wesen zum Menschensohn Jesus Christus zu schlagen, und damit von der Heiligkeit Gottes zur Heiligkeit des Menschen, war das Wirken des Heiligen Geistes notwendig. Die klare, lichte Geistigkeit der heilenden Gottheit war es, welche die Verhältnisse ordnete und dem Heiligen den Weg in die Erdenwelt bahnte.
Als Jesus Christus auf Golgatha gekreuzigt wurde, zerriss der Vorhang im Tempel, der dieses Allerheiligste vor den Menschen verbarg. Mit Christus, dem Heiland, ist das Heilige auf neue Weise in die Welt gekommen. Wo zwei oder drei in seinem Namen beisammen sind, da ist er mitten unter ihnen, da spannt sich der Raum des Heiligen zwischen den Menschen auf, wie früher im Allerheiligsten zwischen den Engelsflügeln. Das ist die Christus-Sphäre des Heiligen, sie kann in uns, durch uns lebendig werden. Menschen, die in ihrem Leben besonders von dieser Christuskraft erfüllt waren, nennen wir Heilige.

Tabea Hattenhauer, ­geboren 1975, Priesterin, Hamburg