Unerfüllte Liebe geht über die Schwelle
Verliebt zu sein ist, sich durch eine Frau zum Himmel zu strecken«, sagt der Troubadourdichter Uc de St. Circ.1 Bei den mittelalterlichen Troubadouren, und längst nicht nur bei diesen, geht es nicht um die Erfüllung der Liebe, sondern um die Kraft der Sehnsucht, in der das Unerreichbare den Liebenden über die Schwelle führt: in den Himmel und damit oft auch in den Tod. Diese Liebe hat meist eine religiöse Dimension. Der in ihr erzwungene, geleistete und wohl auch mit einem inneren Zwiespalt geradezu gesuchte Verzicht öffnet den Liebenden für eine andere als irdische Erfüllung. Ja, die Erfüllung wird auf dieser Erde quasi nur ersehnt, um in der Unerreichbarkeit über sie hinaus zu kommen. Das ist ein Thema unzähliger Liebesgeschichten in der Literatur – so etwa in Tristan und Isolde, in Romeo und Julia oder Goethes Werther, um nur drei der berühmtesten Klassiker zu nennen. Ziel ist nicht die Vereinigung der Liebenden, sondern eine Überwindung des Irdischen, bei der die Leidenschaft zu einem Vehikel eines Schwellenüberstiegs wird.
Eine etwas weniger bekannte Geschichte als die eben genannten, die dies eindrucksvoll deutlich macht, ist die des Fischers Gilliatt, wie sie Victor Hugo in seinem Roman Die Arbeiter des Meeres erzählt.
Gilliatt ist ein menschenscheuer Sonderling, er hat etwas von einem reinen Tor, ist im Umgang mit Frauen völlig ahnungslos, ein eifriger Leser, ein Kenner der Natur und ein geschickter Handwerker; ein Visionär und Sehnender, der sich schließlich als ein Herkules und ein Sisyphos erweisen wird. Gilliatt lebt auf der kleinen Kanalinsel Guernsey und hat fast keinen Kontakt zu den anderen Inselbewohnern. Dennoch verliebt sich dieser ungewöhnliche Mensch in die hübsche und verwöhnte Nichte des Schiffseigners Lethierry. Diesem gehört eines der ersten Dampfschiffe, die Durande. Das Schiff nun sinkt durch Sabotage. Die Schadenfreude der konservativen Seeleute, die diese technische Neuerung schon immer verwünschten, ist groß, und so findet sich niemand, der bereit wäre, die wertvolle Maschine, die unversehrt geblieben ist, aus dem Wrack zu bergen. Da die Nichte des Reeders, Déruchette, weiß, dass diese Maschine ihrem Onkel alles bedeutet, lässt sie sich dazu hinreißen, dem die Ehe zu versprechen, der dieses Wagnis unternähme. – »Ihr würdet ihn heiraten, Miss Déruchette?«, fragt Gilliatt sich vergewissernd nach, und ihr Onkel gibt dann das Ehrenwort darauf. Ohne dass irgend jemand etwas davon ahnt, macht sich Gilliatt ans Werk, und nach Monaten härtester und lebensgefährlicher Arbeit, in denen er einen furchtbaren Kampf mit den Elementen und schließlich mit einem entsetzlichen Polypen kämpft, gelingt ihm, was keiner für möglich gehalten hätte: Er bringt die freigelegte Maschine in seinem Boot an Land und erfüllt damit die Bedingung für die Heirat mit Déruchette. Niemand sonst hätte sie so »verdient« wie er. Nun aber muss er erfahren, dass Déruchette den Pfarrer Ebenezer liebt. Das Glück der beiden trifft Gilliatt härter als alle Naturgewalten. Hatte er in der Bergung der Dampfmaschine eine wahrhaft zyklopische Tat vollbracht, so hat er jetzt noch das Äußerste zu bewältigen: die Enttäuschung und dann die stille Entsagung. Nach dem Kampf im Äußeren kommt der Kampf in seinem Innern: Gilliatt verzichtet auf eigenes Glück und verhilft noch den Liebenden zur Flucht, da der maschinenbesessene Onkel Déruchettes auf dem versprochenen Handel besteht und erst recht der Heirat seiner Nichte mit einem Geistlichen alles entgegenzusetzen sucht.
Das hier angeschlagene Motiv »Maschine gegen Geistlichkeit« wird in seiner Umkehrung auf höherer Ebene in der Entsagung, die Gilliatt leistet, zur Verwirklichung einer Transzendenz, die ahnen lässt, welche spirituellen Wirkungen der Verzicht haben kann. Maschine und Priesterschaft sind hier die Chiffren für Wille und Verzicht. Nicht die anderen Fischer, nicht der Priester haben das geleistet, was jener Sonderling in einer Stille auf sich genommen hat, in der nur Gott und die Leser davon Kenntnis nehmen. Gilliatt hat beides erbracht und mit seinem Verzicht noch die früheren Leistungen seines Willens übertroffen. Sein Verzicht aber ist es, der ihn einer anderen Erfüllung entgegen führen wird.
Am Ende geht Gillilatts Blick in eine weite Ferne. Er geht in eine andere Welt. So sieht er in seinen letzten Lebensminuten das Schiff mit der Geliebten und ihrem Bräutigam davonsegeln. Er sitzt auf einem Felsvorsprung am Meer, dem Gildholmurstuhl, und lässt die steigende Flut herankommen. Was man äußerlich für einen Selbstmord halten könnte, das ist eine ins Bildhafte gewendete Darstellung eines sich selbst unbekannten Opfers. Für Gilliatts Blick verschmilzt die davon segelnde »Cashmere« mit jenem Stern, der ihn über die Schwelle führt: »Sein starrer Blick war mit nichts auf Erden zu vergleichen. Es lag eine tragische Ruhe darin, der ganze Frieden, den ein nicht erfüllter Traum zurücklässt, der ganze dunkle Verzicht, die Annahme einer anderen Erfüllung. Ein solcher Blick könnte der Flucht eines Sterns folgen. Von Augenblick zu Augenblick umschloss die Finsternis des Himmels immer dichter diese beiden Augen, deren Blick auf einen Punkt im fernen Raum gerichtet blieb. Mit dem unendlichen Wasser um den Gildholmurstuhl stieg die unendliche Ruhe des Dunkels in Gilliatts seelenvollem Auge.
Die Cashmere verschmolz jetzt mit dem Nebel. Um sie noch unterscheiden zu können, musste man wissen, wo sie sich befand.
Nach und nach verblasste ihr Umriss, dann wurde er ganz klein und verblich schließlich ganz.
Im selben Augenblick, in dem das Schiff sich am Horizont verlor, verschwand der Kopf unter dem Wasser. Nichts war mehr als Meer.«2
1 Zitiert nach Peter Normann Waage: Ich. Eine Kulturgeschichte des Individuums, Stuttgart 2014, S. 176.
2 Victor Hugo: Die Arbeiter des Meeres, übersetzt von Lisa Haustein, Reutlingen 1949, S. 471.
Dr. Ruth Ewertowski, geboren 1963, Autorin und Redakteurin, Stuttgart