Das Verhältnis des Gottesgeistes zum Menschen

AutorIn: Wolfgang Gädeke

Wr gehen selbstverständlich davon aus, dass sich die Natur, dass sich Pflanzen und Tiere im Verlaufe langer Zeiten verändert, entwickelt haben. Auch wir Menschen als biologische Wesen sind heute anders als vor vielen 1000 Jahren. Aber ob wir uns als geistige Wesen entwickelt oder sogar »verbessert« haben, darüber kann man sehr geteilter Meinung sein. Denn im­mer noch gibt es angesichts äußerer oder inne­rer Bedrohungen und Probleme jene ­archaischen bis tierischen Verhaltensweisen wie ­Aggression und Gewalt, Flucht oder Verdrängung (eine Form von »Totstellen«), die keine wirklichen Lösungen sind, sondern immer neu weitere Schwierigkeiten verursachen.
Indessen wird wohl jeder, der die Geschichte des menschlichen Bewusstseins, des Verhältnisses des Menschen zur Welt der geistigen Wesen, der Götter – also die Religionsgeschichte –, ein wenig überblickt, zugeben, dass sich auf diesem Gebiet, besonders in den letzten hundert Jahren, ­ein radikaler Wandel vollzogen hat, unabhängig davon, wie man diesen Wandel bewertet und beurteilt. Wir können aber auch einmal die Frage stellen: Hat sich vielleicht das Verhältnis der geis­tigen Welt und ihrer wie auch immer vorgestellten göttlichen Wesen zu uns Menschen verändert oder sogar in einer besonderen Weise entwickelt?

Wenn wir mit dieser Frage an die Heilige Schrift der Juden, unser Altes Testament herantreten, so finden wir, dass rund 1000 Jahre vor Christus der Geist Gottes den damaligen Führer des Volkes Israel, Othniel, »überkam«, wörtlich übersetzt: »der Geist Gottes geschah auf ihn« (Ri 3,10). Und in Bezug auf die Führergestalt Simson heißt es: »der Geist des Herrn fing an, ihn umzutreiben« (Ri 13,25). Dasselbe wird von dem ersten König Israels, von Saul berichtet, nämlich dass »der Geist Gottes über ihn kam«, nachdem Samuel ihn zum König gesalbt hatte und er mit einer Schar Propheten in Verzückung (Ekstase) geriet (1 Sam 10,6 und 10; siehe auch 19,20 und 23). Alle diese Formulierungen zeigen, dass die Aktivität, die zur Verbindung eines Menschen mit einem Gott geführt hat, von diesem geistigen Wesen ausging und der Mensch nicht das Subjekt des Handelns war, sondern vom Geiste ergriffen wurde.
Im ersten Buch der Könige wird sogar die Überzeugung geäußert, dass der Geist des Herrn den Propheten Elias »wer weiß wohin entführen« könnte (1 Kön 18,12).
Diese Möglichkeit der Entrückung an einen fernen Ort wird dann viel später als eine Tat­sache beschrieben in einem Zusatz zum Buch Daniel, der nicht im Kanon des Alten Testaments enthalten, aber in der alten griechischen Übersetzung und in der Luther-Bibel unter den apokryphen Schriften überliefert ist.
»Es war aber ein Prophet, Habakuk, in Judäa; der hatte einen Brei gekocht und Brot eingebrockt in eine tiefe Schüssel und ging damit aufs Feld, um es den Schnittern zu bringen. Und der Engel des Herrn sprach zu Habakuk: Bring das Essen, das du trägst, zu Daniel nach Babylon in die ­Löwengrube. Und Habakuk antwortete: Herr, ich habe Babylon nie gesehen und weiß nicht, wo die Grube ist.
Da fasste ihn der Engel des Herrn beim Schopf und trug ihn in Windeseile an den Haaren nach Babylon, oben an die Grube. Und Habakuk rief: Daniel, Daniel, nimm das Essen, das dir Gott ge­sandt hat! Und Daniel sprach: Gott, du hast ja mei­ner gedacht; du lässt die nicht im Stich, die dich lieben! Da stand Daniel auf und aß. Und der Engel Gottes versetzte Habakuk sogleich wieder an seinen Ort.« (Vom Drachen zu Babel, Vers 33–38).
Wir gingen sicher fehl, wenn wir diese Geschichte als Schilderung eines äußeren physischen Vorganges, als ein magisches Mirakel nehmen würden. Sie zeigt aber, ähnlich wie die oben erwähnten Formulierungen, dass das Wirken der göttlichen Welt in vorchristlicher Zeit so erlebt wurde, dass die Initiative zu diesem Wirken von geistigen Wesen, Göttern, und nicht vom Menschen ausging. Die gleiche Dynamik findet sich auch in zahlreichen Göttersagen der Griechen. Dasselbe galt selbstverständlich auch für das Wirken widergöttlicher, dämonischer Wesen, die von Menschen Besitz ergreifen, sie »besessen« machen
konnten. –
Wie einen schwachen Nachklang dieses früheren Geist-Erlebens können wir es empfinden, wenn wir von einem Kunstwerk, einem Natureindruck oder einer Menschenbegegnung sagen, dass wir davon im Innersten »ergriffen« worden sind.
Aber ist dieses »Ergriffenwerden« durch den Geist uns modernen Menschen noch angemessen? Ist das vereinbar mit unserem Bedürfnis und Streben nach Freiheit? Sehnen wir uns nicht danach, der geistigen Welt als souveränes Subjekt gegenüberzustehen, anstatt Objekt ihres Handelns zu sein?
Im Lukasevangelium finden wir einen Hinweis auf die Änderung im Verhältnis der geistigen Welt zum Menschen: »Das Gesetz und die Propheten [gelten, wirken, weissagen] bis auf ­Johannes. Von da an wird das Reich Gottes als frohe Botschaft verkündet und jeder kann mit Kraft in es eindringen« (Lk 16,16). Da der erste der beiden Sätze im griechischen Text kein Verb hat, ist jede Ergänzung durch ein Tätigkeitswort schon eine Interpretation. In jedem Falle aber zeigen die beiden Sätze ein Vorher (»bis«) und ein Nachher (»von da an«) im Verhältnis des Menschen zur geistigen Welt, zum Reiche Gottes. Im Alten Bund war der Mensch Empfänger der Botschaft aus der göttlichen Welt und es kam nur darauf an, ihr in Gehorsam zu folgen. Der mit Christus angebotene Neue Bund ist zwar auch eine Verkündigung aus der geistigen Welt, aber er ist ein Angebot, das die Freiheit des Menschen respektiert. Und diese Freiheit ist nur dann eine Wirklichkeit, wenn sich der Mensch aus eigenem Entschluss mit Kraft und vielleicht sogar mit Mühe der göttlichen Welt aktiv zuwendet.
So können wir verstehen, warum wir in der erneuerten Messe, der Menschenweihehandlung, außerhalb besonderer Festeszeiten zu unserer Beziehung zum Heiligen Geist hören: »Im Ergreifen des Geistes durch unsere Menschheit erfühlen wir den heilenden Gott.«
Wer sich darum bemüht, durch Gebet oder Meditation eine positive Beziehung zur Welt geistiger Wesen zu pflegen, kann die Erfahrung machen, dass diese Bemühung im Laufe der Zeit nicht leichter, sondern eher schwerer wird. Alles positiv Geistige hat die Tendenz, sich zurückzuziehen und will immer neu ergriffen werden, während das Negative sich eher in unserer Seele festsetzt. Wir kennen das auf unterster Ebene, wenn sich zum Beispiel eine bestimmte Melodie wie ein »Ohrwurm« in unserer Seele festsetzt oder ein bestimmter Gedanke uns nicht loslässt. In gesteigerter Form kennen wir dieselbe Tendenz bei psychischen Krankheiten.
In alten Zeiten wirkten geistige Wesen auf den Menschen und in dem Menschen noch zwingend wie eine Naturkraft und trotzdem durchaus im positiven Sinne. Man denke zum Beispiel an ein solches Schicksal wie das der Jeanne d’Arc! Heute sind solche Einwirkungen, die die Freiheit des Menschen nicht respektieren, eher problematisch und negativ zu bewerten.
Unter diesem Gesichtspunkt können wir auch in der Gottferne oder Gottlosigkeit, die sich in unserer Menschheit ausbreitet, etwas Positives sehen: Gott drängt sich dem freien Menschen nicht auf, denn seine Liebe zum Menschen ist nicht mehr die eines Vaters und einer Mutter zum kleinen Kinde, sondern wie die von Eltern zu ihren jugendlichen Kindern, die in die Freiheit entlassen werden wollen, bis hin zum Risiko des Scheiterns. Denn wahre Liebe ist ohne Freilassen des geliebten Gegenübers nicht möglich.
Diese Haltung Gottes gegenüber dem mündig werdenden Menschen wird uns im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32) angedeutet: Der Vater hindert nicht nur den Sohn nicht daran, sich von ihm zu entfernen und zu entfremden, sondern ermöglicht es ihm sogar durch ­Zuteilung des Erbes, dieses zu verschleudern und ins Elend zu geraten. Gott wendet seine ­Allmacht nicht dazu an, den Menschen absolut vor Unglück, Bosheit und Verderben zu bewahren, wozu er aufgrund seiner Allmacht fähig wäre. Damit gibt er der heutigen Menschheit ein Vorbild für das, was diese Menschheit seit dem 20. Jahrhundert dringend lernen muss, wenn es hinfort auf Erden noch eine Menschheit geben soll: nicht alles das zu tun, wozu sie fähig ist, sondern auf Anwendung dieser Macht aus Einsicht freiwillig zu verzichten.
Die Zurückhaltung Gottes gegenüber dem Menschen ist ein Zeichen seiner freilassenden Liebe, die uns in der Offenbarung des Johannes bildhaft beschrieben wird: »Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hört und die Tür öffnet, will ich bei ihm einkehren und das Mahl mit ihm halten und er mit mir … Wer Ohren hat, der höre, was der Geist zu den Gemeinden spricht.« (Offb 3,20–22)

 

Wolfgang Gädeke, geboren 1943, Priester, Kiel