Der Tröster
Wer von uns erinnert sich nicht daran, von seiner Mutter oder seinem Vater getröstet worden zu sein? Wie war dieses Erlebnis? Vielleicht waren wir hingefallen oder hatten etwas verloren, das uns wichtig war. Vielleicht waren wir krank, oder etwas hatte uns traurig gemacht. Und dann – wunderbare Erleichterung – ist ein Erwachsener da. Er versteht mich; er fühlt meinen Schmerz. Und sein Trost gibt mir die Zuversicht, dass alles wieder gut werden wird.
Dieses Bedürfnis nach Trost ist so grundlegend, dass Kinder, denen er vorenthalten wird, Entwicklungsstörungen entwickeln können. Sie suchen dann Trost an Orten, an denen er nicht zu finden ist, oder lehnen ihn ab, wenn er ihnen angeboten wird.
Auch als Erwachsene brauchen wir manchmal Trost. Selbst wenn wir wissen, dass der Mensch, der uns tröstet, in der Sache gar nicht helfen kann, hilft uns doch sein Trost. Es geht auch nicht darum, den Inhalt der Zusicherung zu glauben; es ist vielmehr die einfache Tatsache, dass ein anderer Zeuge unserer Not ist, auf uns zugeht und unseren Schmerz teilt, was uns den Mut gibt weiterzumachen.
Dies spiegelt sich im englischen Wort »comfort« wider, das »Kraft geben« bedeutet, sowie im deutschen Wort »Trost«, das mit den Worten »Treue« und »trauen« zusammenhängt. – Wenn wir getröstet werden, gewinnen wir Vertrauen in das Leben.
Einige moderne Denker tun die Religion als ein Hirngespinst ab, weil sie vorgibt, uns vor der rauen Wirklichkeit zu schützen. Tatsächlich aber leben wir in einer Welt ohne Trost. Die religiös tröstlichen Phantasien können sich nur halten, wenn sie uns einen evolutionären Vorteil verschaffen. Die Illusion des Trostes hilft den Menschen also, in einer beängstigenden Welt zu überleben. Jetzt aber, da die aufgeklärten Geister der modernen Biologie die Illusion durchschaut haben, ist jeder, der weiterhin glaubt, dass er von einer übersinnlichen Wesenheit getröstet werden könnte, ein Phantast.
Diese Kritik kann als Weckruf für die Gefahr einer naiven Religiosität dienen, die Trost als Bequemlichkeit, als Erleichterung von Leid und Schmerz interpretiert – als ob wir noch Kinder wären. Das sogenannte »Wohlstandsevangelium« verfällt in diesen Irrtum und erinnert an die Freunde Hiobs aus der hebräischen Bibel: Wer betet, gute Werke tut und deshalb von Gott begünstigt wird, den wird kein Leid treffen; er wird ein »komfortables« und damit gewissermaßen beständig »getröstetes« Leben haben. Das führt zu der grausamen Schlussfolgerung der Freunde Hiobs: Wenn Hiob leidet, dann hat er sich etwas zu Schulden kommen lassen und kann von Gott nicht geliebt werden.
Wer könnte heute auf die Welt schauen und sagen, dass Gott jedem, der darum bittet, die Not einfach wegnimmt? Was würden wir über diejenigen sagen, die unerträgliche Qualen und Quälereien erleiden: die Kinder, die in Kriegsgebieten aus Mangel an Nahrung oder Medikamenten sterben; politische Gefangene und Opfer der Grausamkeiten unseres Wirtschaftssystems? Könnte es sein, dass sie alle einfach versäumt haben, um Trost zu bitten? Oder dass sie das, was sie durchmachen müssen, irgendwie verdient haben?
Leider ist solch ein vereinfachtes Denken immer noch weit verbreitet, auch unter religiösen und spirituell orientierten Menschen.
Mir scheint, dass viele moderne Atheisten auf das alte Bild von Gott reagieren, als einem, der die Menschen in jeder äußeren Notlage beschützt und sie davor bewahrt. Vielleicht kommt die Bitterkeit mancher religionskritischer Autoren nicht aus der Vernunft, sondern aus der Enttäuschung. Sie hatten auf einfachen Trost für sich und andere gehofft und wurden wütend, als dieser ausblieb. Dies ist z.B. der Standpunkt von Iwan in Die Brüder Karamasow. Er bringt drei Beispiele für unsägliche Grausamkeiten an Kindern, die Dostojewski in den Zeitungen seiner Zeit gefunden hatte, um seinen frommen Bruder Aljoscha mit der Frage zu konfrontieren: Wie kann ich einen Gott verehren, der so etwas zulässt? Entweder ist er machtlos, das Leid zu verhindern, dann ist er nicht wirklich Gott (Gott ist die höchste Macht im Universum), oder er will, dass das Leid weitergeht, dann ist er ein Ungeheuer. Iwan hat beschlossen, dass es unerträglich ist, in einem Universum zu leben, das von einem Gott regiert wird, der den Leidenden keinen Trost spendet. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als seine Rebellion gegen Gott durch Selbstmord zu zeigen.
Gerard Manley Hopkins (1844–1889) war von der konventionellen Religion seiner Zeit enttäuscht. Auf der Suche nach einer Spiritualität, die in einer Welt der Bedeutsamkeit verwurzelt ist, konvertiert er zum katholischen Glauben und wird Jesuit. Das bedeutete, dass er zum gesellschaftlichen Außenseiter wurde.
Leider war er für die Aufgaben eines Jesuitenpriesters ungeeignet und er war davon überzeugt (zu Unrecht, wie es heute scheint), dass seine Vorgesetzten ihm nicht gestatten würden, Gedichte zu schreiben – was seine eigentliche Berufung war – und sie gar zu veröffentlichen. Seine Gedichte dokumentieren seinen Weg in die schlimmste Verzweiflung, so etwa in diesen Zeilen ohne Titel:
Kein Schlimmstes, es gibt keins. Über allen Kummer hinaus,
Mehr Pein wird, geschult an Vorpein, wilderes Ringen.
Tröster, wo, wo ist dein Trost?
Maria, unsere Mutter, wo ist deine Erleichterung?
Auch in diesem Gedicht dokumentiert er die Verzweiflung:
Ich suche nach Trost, den ich nicht mehr finden kann,
Indem ich trostlos herumtaste, wie blinde
Augen in ihrem Dunkel am Tag oder der Durst,
Der überall nur Durst findet in einer Welt voller Nässe.
Doch dann – ohne Erklärung – erhebt sich eine neue Kraft in seiner Seele:
Seele, Selbst; komm, armer Schalk, ich rate dir
Du, müde, lass sein; rufe die Gedanken eine Weile ab
Anderswo; lass Trost Wurzelraum, lass Freude groß werden
Zu Gott weiß wann zu Gott weiß was; wessen Lächeln
Nicht abgerungen ist, siehst du; unvorhergesehene
Zeiten eher – wie Himmel zwischen Bergen – leuchtet eine schöne Meile.
Er nimmt eine Doppelrolle ein, indem er seine eigene Seele mit einer rührenden Vertrautheit als »Jackself« – armer Schalk – anspricht. Dies stellt eine Verbindung zu einem anderen Gedicht her: Die Natur, ein heraklitisches Feuer und der Trost der Auferstehung. Das Gedicht beginnt mit einer Besinnung auf die Macht der Natur und die Vergeblichkeit menschlichen Bemühens. Hopkins versinkt in Verzweiflung, wenn er dies bedenkt: Der Mensch, wie schnell ist sein Feuerschlag, sein Brandmal des Geistes, verschwunden!
Er fürchtet, dass seine Seele noch einmal Schiffbruch erleiden wird. Doch dann – zwischen zwei Sätzen – erwacht eine neue Kraft in ihm:
Genug! Die Auferstehung,
Eine Herz-Fanfare! Hinweg des Kummers Keuchen, freudlose Tage, Schwermut-Befleckung!
Es wies mir auf sinkendem Schiff den Halt
Ein Leuchtfeuer, ein ewiger Strahl.
Wo findet er Trost? In der Erkenntnis, dass er –
niedergeschlagen, nutzlos, eine Art Witz – durch
die Auferstehung verwandelt worden ist:
In einem Blitz, einem Trompetenstoß
Bin ich auf einmal, was Christus ist, denn er war, was ich bin, und dieser Fant
Namens Hans, Scherz, dürftige Scherbe, Flicken, Zündholz, unsterblicher Diamant,
Ist unsterblicher Diamant.
Der Trost der Auferstehung erwächst aus der Verzweiflung der menschlichen Seele – des armen Jackself –, die ihre Eitelkeit angesichts der gewaltigen Kräfte von Raum und Zeit erkennt. Hier halten die Atheisten vielleicht eine Wahrheit für uns bereit: Keine Macht von außen kann uns aus der existenziellen Verzweiflung unserer Zeit retten. Der Gott, der dem Menschen innewohnt, der durch den Tod zu neuem Leben übergeht, bildet den unsterblichen Diamanten in uns. Dies klingt in den Worten der Osterepistel an: der Tröster geht uns in unserem irdischen Dasein voran.
Wer ist nun der Tröster, den Christus verheißt? – Die Gabe des Heiligen Geistes liegt im Geheimnis des Augenblicks verborgen, in dem wir die Kraft Christi in uns selbst finden. Wir haben in den Gedichten gesehen, wie dieser Moment fast unbemerkt vergehen kann, in der Pause zwischen zwei Sätzen, in der Fähigkeit, sich gleichsam von außen anzusprechen. Das ist das Kennzeichen des Heiligen Geistes, der das Subjekt zum Objekt und das Objekt zum Subjekt spiegelt und nicht aus sich selbst heraus spricht.
Im zuletzt zitierten Gedicht offenbart sich der sonst verborgene Augenblick in seinem pfingstlichen Charakter: Aufleuchtende Flammen und mächtige Klänge leiten die Erkenntnis ein: »Ich bin auf einmal, was Christus ist, denn er war, was ich bin.«
Tom Ravetz, geboren 1964, Priester, Forest Row, Großbritannien