Das Leben ist kein Wunschkonzert – oder doch?

AutorIn: Christward Kröner

Es gehört zu den Redensarten, mit denen Erwachsene zuweilen Jugendliche motivieren wollen, sich auch unangenehmen Aufgaben zu stellen oder irgendeiner auferlegten Pflicht nachzukommen, dass sie sagen: das Leben ist nun einmal kein Wunschkonzert. Und in der Tat, es gehört zu den Erfahrungen des Lebens, dass nicht alles so läuft, wie man es sich im vorhinein vorstellt oder wünscht. Aber: wenn das Leben kein Wunschkonzert ist – liegt das am Leben oder liegt das an mir? Und was ist überhaupt ein Wunschkonzert?
Früher gab es im Radio Musiksendungen, die aus den Wünschen der Hörenden zusammen­gestellt wurden. Das nannte sich dann Wunschkonzert. Nicht selten wurden Einzelne, die einen Wunsch eingesandt hatten, während der Sendung telefonisch interviewt und gefragt, warum sie sich gerade dieses Stück gewünscht hatten und ob sie noch an Tante Paula in Pose­muckel Grüße senden wollten. Schließlich erklang dann die gewünschte Musik im Radio.
Der betreffende Mensch konnte dann erleben, dass das, was sonst stets unverfügbar war – denn in der Regel kann man als Hörer ja nicht beeinflussen, was im Radio gesendet wird –, plötzlich und für eine kurze Zeit so wurde, wie er es sich gewünscht hatte.
Doch das sogenannte Wunschkonzert bestand selbst natürlich nur zu einem Bruchteil aus den persönlichen Wünschen eines Einzelnen, und das meiste war von anderen gewünscht worden. Es war also gar kein reines Wunschkonzert für den einzelnen Menschen, sondern zusammengestellt aus den speziellen Wünschen vieler.
Könnte das eine Ähnlichkeit mit dem wirklichen Leben haben? Unendlich viele, teilweise einander widersprechende Willensströme kommen zusammen und formen das, was wir Leben nennen.
Wie steht es nun aber um unser persönliches Wünschen und Wollen im Verhältnis zu den Auf­gaben, die wir uns selbst stellen oder die das Leben uns stellt? Erscheint uns unser Leben nicht einerseits als eine unergründliche Mischung und Abfolge von Ereignissen, die wir willentlich herbeigeführt haben oder die die Folgen unserer Entschlüsse – oder Nicht-Entschlüsse – sind, durchsetzt mit Geschehnissen, die uns wie von außen treffen, ohne dass eine erkennbare Beteiligung unseres eigenen Willens vorliegt?
Doch wie, wenn auch das uns von außen Treffende auf geheimnisvolle Weise mit den Tiefen unseres eigenen Willens verbunden wäre?
Es ist nicht so einfach, die verschiedenen Ebenen des Wollens und Wünschens überhaupt zu erkennen und dabei auch die vielleicht unbewussten oder halbbewussten Anteile unseres Seelenlebens in den Blick zu bekommen.
Wenn wir Erwachsenen einem Jugendlichen sagen, dass das Leben kein Wunschkonzert sei – wie gehen wir selber mit dem um, wozu wir keine Lust haben, was uns nicht liegt, was lästig und unangenehm ist? Beißen wir die Zähne zusammen, fügen uns in das Unvermeidliche, fluchen im Stillen darüber, dass nach einer Woche schon wieder eine sichtbare Staubschicht danach ruft, dass geputzt wird, um ein alltägliches Beispiel zu wählen? Oder wünschen wir uns alle unangenehme und lästige Arbeit fort, sehnen ­einen Zustand herbei, den man vielleicht – missverständlich – als »paradiesisch« beschreiben könnte, wo fortdauernd und ohne jede An­strengung allseitiges Behagen herrscht, keinerlei Alltagspflichten, Herausforderungen oder Enttäuschungen zu verkraften sind, das Leben in süßem Müßiggang vor sich hinplätschert?
Ich erinnere eine Vorlesungsreihe des Philosophen Byung-Chul Han in Berlin, die eines ­Tages seitens des Studierendenwerkes durch eine Teilnehmerbefragung evaluiert werden soll­te. Eine der ankreuzbaren Einschätzungen der Vorlesungsreihe war: »wird überwiegend als anstrengend empfunden«.
Nie werde ich vergessen, wie sich der Professor, nachdem wir die Fragebögen ausgefüllt hatten, in einem etwa zehnminütigen Exkurs darüber erging, wie sehr diese Kategorie an der Wirklichkeit vorbeiginge, indem er darlegte, dass im Leben Anstrengung oft etwas außerordenlich Positives sei, wie sie der Weg zu großen Errungenschaften sein kann und bei erfolgreichem Erreichen eines Zieles das Gefühl großer Befriedigung und Dankbarkeit entstehen lässt. Dass die Vorlesung als anstrengend erlebt werden könnte, müsse nicht heißen, dass sie schlecht sei. Im Gegenteil.

Es stellt sich die Grundfrage: Wie gehe ich mit Hindernissen und Widrigkeiten im Leben um? Das berührt den Alltag und zugleich eine tiefe Schicksalsdimension.
Ich kann das, was mir Schwierigkeiten oder sogar Schmerzen bereitet, empfinden als nicht zu mir gehörig, als ungerecht, als gegen mein Leben und meine freie Selbstentfaltung gerichtet. Und vielleicht ist es auch so. Diese Empfindung lässt sich nicht leichthin widerlegen. Aber sie lähmt mich tendenziell, raubt mir Energie, lässt mich missmutig und vielleicht sogar depressiv werden.
Ich könnte aber auch einmal – zunächst rein gedanklich – das Experiment machen, mir vorzustellen, mein Ich hätte nicht nur eine Mittelpunktsnatur, von der aus ich in die Welt hineinschaue und handle, sondern auch einen peripheren Anteil, der mir aus dem Umkreis entgegenkommt. Dann würde ich in einer gewissen Weise in dem, was auf mich zukommt, mir selbst begegnen.

Als eine Art »Echo« auf der einfachen, zwischen­menschlichen Ebene, ist uns dies vertraut. Die Weisheit des Volksmundes drückt es so aus: Wie man in den Wald hinein ruft, so tönt es heraus. Ich gewärtige in dem, was mir entgegenkommt, die Folgen meines eigenen Tuns.
Schwieriger ist es auf einer tieferen Schicksalsebene. Da kann es sich ja nicht um ein reines Echo handeln. Rudolf Steiner regt in seinen Betrachtungen zum Karma des Menschen die Übung an, sich vorzustellen, man sei es selbst gewesen, der die Dachziegel gelockert hat, die einem auf den Kopf gefallen ist. Hier geht es natürlich nicht um ein äußeres Geschehen, sondern um eine verborgene Willensebene.
Dieser verborgene Schicksalsbereich umfasst dann auch das Vorgeburtliche, vielleicht sogar vergangene Inkarnationen. Wäre es denkbar, dass ich mir Lebenshindernisse – vielleicht nicht alle, aber doch wesentliche – selbst bereitet habe? Manchmal lässt sich ja erst im Rückblick erkennen, wie sehr wir an einem schmerzvollen Geschehen haben wachsen und innere Entwicklungsschritte machen können, die wir möglicherweise auf keinem anderen Weg sonst hätten tun können. Etwa, wenn in einer Beziehung das Weggehen eines geliebten Menschen dem Ver­lassenen deutlich werden lässt, wie groß der Anteil der Eigenliebe war und dass die wirkliche Liebe nicht klammert, nicht besitzen will, sondern sich im Verstehen des fremden Wollens zeigt, dass echte Liebe niemals Belohnung für Wohlverhalten oder an Bedingungen geknüpft sein kann. Wie wäre dies zu lernen, ohne durch Schmerzen zu gehen? Schmerzen der Selbsterkenntnis, Schmerzen der Selbstüberwindung.
Aber das auf diese Weise Erkannte kann dann Ausgangspunkt einer neuen Fähigkeits­bildung sein. Vieles im Leben zeigt sich plötzlich in einem anderen Licht, das Leben wird erfüllter und sinnvoller. Vielleicht stellt sich sogar nach Jahren die Empfindung der Dankbarkeit ein für das, was einem einst so schmerzvoll widerfahren ist.
Bei Lichte besehen ging es ja mit den Hindernissen und Widrigkeiten des Lebens für uns Menschen in dem Moment los, als des Bleibens im Paradies – wo offenbar keinerlei Widrigkeiten auszuhalten waren – nicht länger war. Dem Augenblick, den Friedrich Schiller in einer Vorlesung in Jena »die glücklichste Begebenheit in der Menschengeschichte« nennt. Weil sie der Ursprungsmoment unserer Freiheit und unseres Schöpferisch-Werdens war. Und dann sagt Schiller in diesem Zusammenhang, dass wir durch das Verlassen des Paradieses die Möglichkeit erhielten, uns fortzuentwickeln von einem glücklichen Instrument hin zu einem unglücklichen Künstler. Das halte ich für eine ganz geniale, weite Entwicklungshorizonte aufreißende Formulierung. In ihr wird die Berufung des Menschen deutlich, schöpferisch und selbstverantwortet sein Leben zu führen. Dazu gehört aber eben auch, durch Erfahrungen des Scheiterns zu gehen, des Nicht-Wissens, wie es weitergehen soll, des Sich-ausgesetzt-, Verlassen- und Unverstanden-Fühlens, der Hilflosigkeit – eben des Unglücklich-Seins.
Entscheidend ist, wie wir aus diesen Erfahrungen hervorgehen, ob wir lernen, sie als Teil unseres Weges anzunehmen. In dem Maße, wie uns das gelingt, können wir bemerken, wie sich unsere Wünsche und Willensimpulse verwandeln. Das Leben wird vielleicht nicht gleich zu einem Wunschkonzert – aber wir können doch in eine größere Harmonie mit dem Verlauf des Schicksals kommen.
Der Christus Jesus verspricht seinen Jüngern, am Tag vor dem Tod auf Golgatha: »Was ihr auch bitten werdet in meinem Namen, ich werde es tun« (Joh 14). Um die Wahrheit dieses Wortes zu erleben ist es gut, sich darauf zu besinnen, was es heißen könnte, in seinem Namen zu bitten. Bei wie vielen unserer Alltagswünsche wäre es ganz ausgeschlossen, sie in seinem Namen zu erbitten. Was kann ich wirklich wünschen und wollen, wenn ich ganz aus dem Wesen und der Kraft des Christus bitte?
Verwandelt sich jegliches Bitten, wenn es sich tatsächlich mit dem Christus eint, nicht in die dritte Bitte des Vaterunsers? – Vielleicht liegt darin die Vollendung unseres Künstlertums im schillerschen Sinn, dass wir so frei von uns selbst werden, jeglicher Schicksalsherausforderung gegenüber nicht aus Resignation oder Schwäche, sondern in vollständiger in­nerer Wachheit und Aktivität zu bitten: Dein Wille geschehe.

 

Christward Kröner, geboren 1963, Priester, Berlin