»… der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, produziert stets die Hölle«
Seit wir aus dem Paradies vertrieben wurden, ist die Sehnsucht nach ihm unstillbar. »Utopia« hatte der wohl bekannteste Visionär einer Rückkehr ins Paradies, Thomas Morus (1478–1535), seinen Roman über eine ideale Menschengemeinschaft genannt. Allerdings zeigen die ironischen Brechungen in seinem Werk auch seine Skepsis. Schon der Name »Utopia« spielt mit der Frage nach der Wirklichkeit einer solchen Gemeinschaft, denn das griechische »Eutopia« (glücklicher Ort) klingt im Englischen genauso wie das griechischen »Outopia« (Nichtort). Doch auch wenn der glückliche Ort nirgendwo sein sollte, werden die Menschen nicht aufhören, ihn sich vorzustellen.
Eines der Modelle dafür, wie das Paradies aussehen könnte, hat im 19. Jahrhundert der französische Revolutionär und Publizist Étienne Cabet (1788–1856) entworfen. In seinem Roman Die Reise nach Ikarien beschreibt er eine Gemeinschaft, in der es keine Benachteiligung, Ausbeutung und Unterdrückung gibt, in der vielmehr die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gelebt werden. Am Ende seines Romans fordert Cabet seine Leser direkt dazu auf, in die neue Welt auszuwandern, um dort neue Gesellschaften in Gütergemeinschaft nach dem Prinzip eines demokratischen Kommunismus zu gründen. Tatsächlich kam es zu solchen Ikarier-Kolonien, aber das Paradies auf Erden waren sie nicht. Auch hier gab es Hierarchien, und Cabet selbst erwies sich als dominant und autoritär und mischte sich in die Privatangelegenheiten der Siedler ein. Man war sich uneinig darüber, ob Frauen dasselbe Mitbestimmungsrecht haben sollten wie Männer, und es gab Streit um die Verwendung der spärlichen Gelder. Die Geschichte von Hananias und Saphira, wie wir sie aus der Apostelgeschichte kennen, hätte auch hier spielen können: Man hält doch wieder Geld für sich selbst zurück, das der Idee nach allen gehören sollte. Dem Gesetz der Schwerkraft folgend werden Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bei aller anfänglichen Bereitschaft sehr bald wieder vergessen.
In seinem historischen Roman Ikarien (2017) beschäftigt sich Uwe Timm (*1940) mit Alfred Ploetz (1860–1940), der in seiner ersten Studentenzeit von den Ideen Cabets begeistert war. Als Sozialist und Kommunist trat er für Gleichheit und sozialen Zusammenhalt ein. Später wechselte er vom Studienfach der Nationalökonomie zur Medizin und wurde schließlich als Arzt zu einem der prominentesten Vertreter der Eugenik und dann auch der Euthanasie. Doch zunächst, Ende des 19. Jahrhunderts, war er der Mittelpunkt des kommunistischen Geheimbundes »Pacific« (benannt nach dem lat. Wort für »Frieden«) und wollte zusammen mit seinen studentischen Mitstreitern seine sozialen Ideen einer idealen Gesellschaft auch in die Tat umsetzen.
Im Roman von Uwe Timm hat der historische Ploetz einen fiktiven Freund und Schüler, der in Anlehnung an Goethes Faust, den Namen Wagner trägt. Dieser Wagner wird sich ganz von seinem früheren Freund und Lehrer entfernen. Anders als Ploetz bleibt er bei seiner sozialistischen Orientierung. Als Nazi-Gegner wird er verfolgt, kommt nach Dachau, wird aber durch die Einflussnahme von Ploetz entlassen und versteckt sich dann vor einem erneuten Zugriff im Keller eines Antiquariats, für das er arbeitet. Er ist derjenige, der nach dem Krieg von seinem früheren Freund, dem Begründer der Rassenhygiene, der 1936 im Gespräch für den Friedensnobelpreis war, Zeugnis ablegen kann.1 Ploetz selbst starb bereits 1940.
Der amerikanische Offizier Michael Hansen – ursprünglich ein Deutscher, dessen Familie schon vor der Nazizeit auswanderte – soll herausfinden, wie es zu dem Rassenwahn der Nazis kam und warum so viele Ärzte und Wissenschaftler an der Tötung von Kranken und Behinderten beteiligt waren. Dazu befragt er unmittelbar nach der Kapitulation Deutschlands den nun 81jährigen Wagner. Dieser begleitete noch Ende des 19. Jahrhunderts Ploetz auf einer Reise in die USA, wo sie eine Ikariersiedlung besuchten, um den »Pacificern« von dem konkreten Versuch einer idealen Lebensgemeinschaft zu berichten. Aber was sie dort vorfanden entsprach nicht ihren Vorstellungen. Die damals noch Befreundeten sind enttäuscht. Ploetz zieht daraus für seinen Werdegang entscheidende Konsequenzen. So kann es für ihn keine Gleichheit und Gerechtigkeit unter den Menschen geben, solange sie von Natur aus noch so unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen. Gleichheit kann nur durch eine Entwicklung erreicht werden, in der die Menschen entsprechend geformt werden, was letztlich eine starke und gesunde »Aufzucht« bedeutet. Der Mensch muss biologisch angepasst und veredelt werden, damit die soziale Optimierung gelingen kann.
Als begeisterter Anhänger Darwins und Haeckels sah Ploetz im Menschen das Resultat der Evolution, des Kampfes ums Überleben, der natürlichen Selektion. – Und ließe sich da nicht auch eingreifen? Eine Verbesserung vornehmen? »Wir haben«, so zitierte Wagner Ploetz, »den Schlüssel für die Naturgesetze in der Hand … Die Weltformel. Alles ist machbar.«2
Die Naturwissenschaft ermöglicht die Selbstbestimmung und Perfektionierung des Menschen. Dies hat im Denken von Alfred Ploetz ganz konkrete Konsequenzen: Sein fiktiver Wegbegleiter berichtet davon, dass er einmal mit ihm in der Schweiz die psychiatrische Klinik Burghölzli besuchte. Dort führte sie ein Assistenzarzt durch die verschiedenen Stationen menschlichen Leids. Auf der letzten Station, der für die »psychomotorisch gestörten Idioten«, die im allertraurigsten Zustand dahin vegetieren, bringt Ploetz zum ersten Mal die Frage nach der Euthanasie auf, nach dem sanften Tod, der sowohl die Betroffenen selbst als auch die Gesellschaft von ihrer »Ballastexistenz« befreien könnte. Zwar hat Ploetz nie Patienten getötet, aber später mit seinen Schriften Ziele und Aufgaben der Rassenhygiene und Volksauftrag, Erbkunde, Eheberatung den gedanklichen Boden dafür bereitet. Die Utopie vom perfekten Leben, dessen Bedingungen nach dieser Ideologie in der Hand des Menschen liegen, führt zur Idee der Rassenhygiene, zu der die Vernichtung von »lebensunwertem Leben« gehört.
Weder Ploetz noch Wagner stehen in einem Gottesbezug. An die Stelle Gottes tritt für beide der gestaltende Mensch. Doch während Wagner ein Sozialgestalter und Menschenfreund bleibt, geht Ploetz als Mediziner den Weg der biologischen Optimierung des Menschen über Rassenhygiene und Euthanasie, wobei er sich selbst wohl auch als ein Menschenfreund versteht, dabei allerdings ganz aufs Allgemeine geht: Die Rasse, das Volk ist seine Perspektive. Dem großen Ganzen fällt der Einzelne zum Opfer.
Ploetz macht sich einen Grundsatz Darwins zu eigen, nach dem ein wissenschaftlicher Mann keine Wünsche und Gefühle haben sollte, sondern ein Herz aus Stein. Wagner stellt fest, dass Ploetz als Wissenschaftler die Demut fehlte.
So hatte Ploetz auch ganz die bedeutsamen Worte vergessen, die der Assistenzarzt an ihn und Wagner richtete, als sie im Burghölzli das tiefste Leid mancher Patienten sahen: »Erst sie, die so ganz vom Normalen Abweichenden, bedeuten uns, wer und was wir sind. Sie sind die Geschlagenen. Sie lehren uns Demut. Unser Menschsein ist ein Geschenk, egal, ob aus Kreation oder Evolution hervorgegangen, und dieses Geschenk gilt es zu hüten. Sie sind die Engel des Schmerzes, die uns lehren, was Glück ist, und dem Glück des Gelungenen die Trauer beigeben, ihr tiefes, tiefes Unglück. Denn es kann kein wahres Glück geben, wenn es das Leiden anderer gibt. Sie stehen in ihrem Unglück für die gefährdete Würde, für die Einmaligkeit des Lebens. Sie tragen ohne Bewusstsein den gefährdeten Wunsch nach Gesundheit und Schönheit mit sich. Die Beladenen, Schwachen, Schmerzreichen.«3
Eine solche Dialektik von Glück und Unglück und der Gedanke des Schicksals waren kein Thema im Verstandesdenken von Alfred Ploetz. Fragen der Ergebenheit und der Würde des Menschen sind seinem Denken der Machbarkeit fremd, das eben immer auf das Allgemeine ausgerichtet ist und nicht auf die Einmaligkeit der individuellen Existenz. Das Streben nach Optimierung setzt sich über den Einzelnen hinweg. Das selbstgeschaffene Paradies für das große Ganze kann keine Rücksicht nehmen. Wenn Ploetz an die Stelle der Schöpfung oder der Natur eine biologische Selbstgestaltung und immer vorwärtswachsende Welt setzt, so ist das in letzter Konsequenz tödlich: Aus der Eugenik wird Rassenhygiene, also Zwangssterilisation und Euthanasie – letztlich Auschwitz.
Uwe Timm vollzieht in seinem Roman Ikarien jenen Weg nach, an dessen Anfang die Idee eines Paradieses und an dessen Ende die Hölle steht. Die Idee der Gleichheit führt ins Gleichgeschaltet-Sein. Das auferlegte »Glück« für alle führt zur Unterdrückung des Individuellen. Die Perfektionierung des Menschen führt in die Grausamkeit.
Eine Gesellschaft, die »glücklich« gemacht werden soll, produziert das Unglück. Der Philosoph und Soziologe Karl Popper (1902–1994) hat später ziemlich genau beschrieben, was die ehemaligen Freunde Ploetz und Wagner im Roman an den Ikariern beobachten konnten: »… von allen politischen Idealen ist der Wunsch, die Menschen glücklich zu machen, vielleicht der gefährlichste. Ein solcher Wunsch führt unvermeidlich zu dem Versuch, anderen Menschen unsere Ordnung ›höherer‹ Werte aufzuzwingen, um ihnen so die Einsicht in Dinge zu verschaffen, die uns für ihr Glück am wichtigsten zu sein scheinen; also gleichsam zu dem Versuch, ihre Seelen zu retten. Dieser Wunsch führt zu Utopismus und Romantizismus. … zweifellos wäre eine Welt, in der wir uns alle lieben, der Himmel auf Erden. Aber … der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, produziert stets die Hölle. Dieser Versuch führt zu religiösen Kriegen und zur Rettung der Seelen durch die Inquisition.«4 Und im Sinne des Romans Ikarien kommt hier noch auf physischer Ebene die fatale Vision des Übermenschen hinzu, die in Auschwitz endete.
Ein »völliges Missverständnis« – das Wort ist eigentlich viel zu harmlos – liegt laut Popper, all diesen Utopien zugrunde: Es ist nicht die Pflicht des Menschen, andere glücklich oder perfekt zu machen, denn das bedeutet immer einen Übergriff auf die private Sphäre, das Besondere, das Eigene des Individuums. Demgegenüber besteht unsere Pflicht den anderen gegenüber allein darin, denen, die unsere Hilfe brauchen, auch zu helfen. Das heißt, den Menschen im Burghölzli ihr Leid so weit es geht zu erleichtern. – Für Ploetz war das kein Thema. Die Not des Menschen war für ihn, obgleich Arzt, keine Aufforderung. Nicht der Respekt vor dem Individuum, seinem Schicksal und seiner Selbstbestimmung war für ihn maßgebend, sondern das Endziel des perfekten Menschen. Mit ihm sollte sich das Paradies wiedergewinnen lassen. – Was es aber in diesem Paradies nicht gibt, ist genau das, was mit seinem ursprünglichen Verlust erlangt wurde: die Freiheit.
Jede gesellschaftliche Utopie nimmt dem Menschen die Freiheit. Gerade das ist ein Signum der Hölle. Und so haben Himmel und Hölle das gemeinsam: Die Freiheit gibt es weder hier noch dort. Sie gibt es allein auf der Erde im demütigen Ringen um ein Besseres, das die Freiheit des anderen respektiert.
1 Für den Friedensnobelpreis wurde er vorgeschlagen, weil er vor dem Krieg warnte. Das tat er deshalb, weil er der Auffassung war, dass ein Krieg nachteilige biologische Folgen für die menschliche Fortpflanzung habe, denn in ihm stürben vor allem die Starken im Feld, während sich die Schwachen, die für das Kämpfen untauglich seien, fortpflanzen würden.
2 Uwe Timm: Ikarien, Köln 2017, S. 153.
3 Ebd., S. 280.
4 Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 12, Bern 1980 (1958), S. 445f.
Dr. Ruth Ewertowski, geboren 1963, Autorin und Redakteurin, Stuttgart