Wozu satirische Übertreibung verhilft - Ephraim Kishon zum 100. Geburtstag

AutorIn: Ulrich Meier

Vielleicht waren die Kurzgeschichten des israelischen Satirikers die ersten literarischen Stücke, die ich ohne Anleitung von Erwachsenen gelesen habe. Was ich heute noch am deutlichsten erinnere: In »Jüdisches Poker«1 (1961) wetteifern der Autor und sein Freund Jossele mit lediglich gedachten, aber nicht ausgesprochenen Zahlen, wer mit der höchsten Zahl den Sieg davontragen darf. Während sich die beiden Protagonisten gegenseitig überbieten, kommt der Autor bei jedem Zahlendialog ein bisschen mehr dahinter, was die geheime Strategie seines Gegenspielers ist: Er erfindet so viele neue Regeln, wie es Spielzüge gibt, sodass er die Nase immer vorn hat. Bis schließlich der Autor selbst eine neue Regel setzt und zugleich das Spiel beendet. Ich las den Text immer wieder, um mir das Wechselspiel von ausgedachten Zahlen und Rätseln mit den sich steigernden und schließlich stark übertriebenen Gefühlsausbrüchen der Spieler zu erschließen.
Ich hielt Kishon für einen Spaßmacher, seine Geschichten schienen mir über den Unterhaltungswert hinaus kaum einen tieferen Sinn zu enthalten. Hätte ich damals schon etwas von der Biographie des Jubilars oder vom kulturellen Sinn und Gehalt der Satire, des Witzes und des Humors gewusst, wäre mir vielleicht deutlicher geworden, wie lebensnah, menschenfreundlich und entwicklungsfördernd der berühmte Autor mit seinen Geschichten gewirkt hat. Kann sich doch der Lesende gerade in der starken Übertreibung in seinen eigenen Einseitigkeiten und Schwächen wiedererkennen. Er kommt sich selbst lachend auf die Spur und kann damit vielleicht sein Verhalten aus den eingefahrenen Bahnen destruktiver Routinen befreien. Die ­Geschichte »Chamsin und Silberrausch«2 (1961) führt z.B. den Heimwerker vom Ausgangspunkt eines kleinen Überrests Silberlack unversehens in einen Rausch eines nicht enden wollenden Lackierens, der am Ende selbst den Rasen vor dem Haus und den Postboten mit Silberfarbe verziert. Wer kennt solche sich verselbständigende Tätigkeiten nicht auch – wenigstens im Ansatz – von sich selbst?

Ephraim Kishon wurde am 23. August 1924 als Ferenc Hoffmann in Budapest geboren. Da er in der Nazizeit als Jude nicht an der Universität studieren durfte, begann er 1942 eine Ausbildung zum Goldschmied. 1944 wurden er und seine Familie in ein Arbeitslager in der Slowakei deportiert. 1945 gelang Ephraim die Flucht aus einem Gefangenentransport nach Polen, ein Großteil seiner Familie wurde jedoch in den Gaskammern von Auschwitz ermordet. Seine Eltern und die Schwester Agnes überlebten wie er die Shoah. Noch einmal konnte er 1945 aus einem Gefangenentransport, diesmal auf dem Weg in einen russischen Gulag, entweichen. 1948 reiste er nach dem Studium der Kunstgeschichte auf der Flucht vor der kommunisti­schen Unterdrückung über Bratislava nach Wien und gelangte 1949 mit einem Flüchtlingsschiff nach Israel. Im Hafen von Haifa wurde der von ihm zwischenzeitlich verwendete Name Kishont in Kishon umgeändert und der Beamte trug kurzerhand den Vornamen Ephraim ein, da es den Namen Ferenc nicht gebe. Kishon, der sein umfangreiches Werk (neben zahlreichen Erzählungen und Romanen schuf er Theaterstücke und Drehbücher, die er zum Teil auch selbst verfilmte) teils in Israel und teils im Schweizer Kanton Appenzell verfasste, zielte mit seinen Satiren auf die kleinen Ärgernisse des Alltags, vor allem aber auf die Bürokratie und die große und kleine Politik, speziell die in Israel. Er starb am 29. Januar 2005 in der Schweiz und wurde auf dem Trumpeldor-Friedhof in Tel Aviv beigesetzt.

33 der über 43 Millionen verkauften Bücher Ephraim Kishons erschienen in deutscher Sprache. Der Autor empfand es als Ironie der Geschichte, dass er gerade in Deutschland so beliebt ist. »Ich verspüre Genugtuung darüber, dass die Enkel meiner Henker in meinen Lesungen Schlange stehen«, hat er gesagt. Den jungen Deutschen gegenüber empfand er keinen Hass. Es gebe keine kollektive Schuld, sondern nur kollektive Schande. Mit seinem Humor habe er zur Versöhnung beitragen wollen.

Und wo wir schon bei der Politik sind: Ich schreibe diesen Beitrag am Tag nach der Europawahl. Dabei stoße ich bei der Recherche auf folgende Wendung aus der Feder Kishons: »Immerhin ist auch noch die schlechteste aller Demokra­tien … viel mehr wert als die beste aller erfolgreichen Dikta­turen.«3 Wie verstehe ich diesen satirischen Satz heute? Auf der ersten Ebene erscheint ein anregender Widerspruch: Das Schlechteste kann offenbar mehr Wert sein als etwas Erfolgreiches. Zweite Ebene: Aber was wäre an einer Diktatur erfolgreich? Dritte Ebene: Ist nicht die Schwäche des Misslingens eine häufige und vielleicht sogar naheliegen­de Eigenschaft der Demokratie – und ist der bedauerlicherweise nicht selten eintretende »Erfolg« nicht gerade das Beschämendste an einer Diktatur? Kishon schreibt seinen Satz nicht aus der gesicherten Position vom Spielfeldrand. Diktatur und Demokratie spielen in seinem Leben eine fatale und vielleicht auch brüchige Rolle. Was er anregen wollte – und offensichtlich auch vermocht hat: dass wir uns der Verletzlichkeit unserer Demokratien bewusst bleiben, und dass wir sie dennoch – und mit Humor und Ausdauer – zu stärken versuchen. Das Ziel könnte sein, dem Autor zu widersprechen und sie sogar erfolgreich werden zu sehen.

 1  Ephraim Kishon: Drehn Sie sich um, Frau Lot. Satiren aus Israel, München 1977.

2  a.a.O.

3  Ephraim Kishon: Wer's glaubt, wird selig, Politische Satiren, S. 15, Köln 2000.

 

Ulrich Meier, geboren 1960, Priester, Hamburg