»Das Licht ... es ist in uns« Zum 100. Geburtstag von Jacques Lusseyran (1924–1971)

AutorIn: Kirsten Rennert

Man tötet das Ich, wenn man dem Ego alle Rechte einräumt. Das Ich ist eine Verheißung, die dem Menschen gegeben ist, dass er eines Tages sein wird wie das Universum, dass er eines Tages die Welt mit hellwachen Augen wird anschauen können, ja, dass er sich selbst gleichermaßen wird wahrnehmen können und wird erkennen können, dass ein Ordnungsbezug, eine notwendige Beziehung zwischen ihm und dieser Welt besteht.

Die Aufmerksamkeit ist in der Tat nicht einfach eine Tugend der Intelligenz oder das Ergebnis einer Erziehung und etwas, worauf man leicht verzichten könnte: sie ist ein Zustand des Seins. Es ist der Zustand, ohne den wir nie fähig sein werden, vollkommen zu sein. Es ist im eigentlichen Sinn der Horchwinkel des Universums.

Als Pierre Lusseyran seinen neugeborenen Sohn am 19. September 1924 in den Händen hält, ahnt er noch nicht, dass er einmal über ihn – der vor ihm sterben sollte – sagen würde, er habe trotz all der Prüfungen und dem plötzlich-unerwarteten Ende seines Erdenweges nie seinen Glauben, sein Vertrauen in den Menschen, seine unermessliche Liebe zu allen Wesenheiten sowie seine unerschütterliche Hoffnung auf und in das Leben verloren.
Jacques erlebt eine glückliche Kindheit auf dem Pariser Montmartre. Der Vater ist Chemieingenieur und Zweigleiter der Anthroposophischen Gesellschaft, die Mutter Physikerin und Biologin. Beide arbeiten mit der Geisteswissenschaft und sind für ihn als Kind »… vollkommen Schutz, Vertrauen, Wärme. Das … Glück meiner Kindheit …, diese magische Rüstung, die … Schutz gewährt für das ganze Leben.« Mit 4 Jahren erlebt er sich bewusst als Ich: »Ich lief … auf ein Dreieck aus Licht zu … aus Sonnenlicht [und sagte mir]: ›Ich bin vier Jahre alt, und ich bin Jacques.‹ Der Strahl allumfassender Freude hatte mich getroffen, ein Blitz aus wolkenlosem Himmel.« Später erlebt er: »Das Licht gebar neues Licht, rief sich von Fenster zu Fenster, von einem Stück Mauer zur Wolke hinauf, drang in mich ein, wurde Ich. Ich war glücklich, mit dem Licht Freundschaft zu schließen, als sei es der Inbegriff der Welt.«
Und auch Wohlgerüche saugt er auf: »des Milchladens, … der Konditorei, … der Schusterwerkstatt, … der Farbenhändler.« Und er liebt den Garten seiner Großeltern in Juvardeil, wo er in den Osterferien 1932 im Abschiednehmen plötzlich erlebt: »… ich werde nie mehr den Garten sehen.« Drei Wochen später sollte es Wahrheit werden. Ein Unfall in der Schule lässt ihn mit acht Jahren sein Auge und damit das Sehvermögen verlieren, er erblindet. Die Eltern sind so weise, ihn nicht zu bedauern, sondern zu ermutigen, ein Leben als Kind zu führen – mit all den Entdeckungen der Welt durch alle Sinne und Mutproben, mit Blindenschrift in der ihm vertrauten Schule. Jacques erlernt Cello und befreundet sich später mit Olivier Messiaen. »Ich schaute nunmehr von innen auf mein Inneres«, und er entdeckt: »Licht und Freude haben sich seither in meinem Erleben niemals mehr vonein­ander getrennt …, zusammen besaß oder verlor ich sie.«
Als Erwachsener wird ihm bewusst: »Jeden Tag danke ich dem Himmel dafür, dass er mich schon als Kind … blind werden ließ. Ein kleiner Mann von acht Jahren … ist bereit, das Leben anzunehmen, so wie es ist, zu ihm Ja zu sagen. Und aus diesem ›Ja‹ können Wunder erwachsen.« Er nennt sein Blindwerden sein »größtes Glück« und beobachtet, dass das Sehen nicht aus der Tätigkeit der Augen allein besteht und dass er das Licht in seinem Inneren unversehrt wiederfindet. »Die Freude kommt nicht von ­außen; sie ist in uns, was immer uns geschieht. Das Licht kommt nicht von außen; es ist in uns, selbst wenn wir keine Augen haben.«
Die zweite Entdeckung ist ihm: »Um das innere Licht betrachten zu können, gab es nur ein Mittel, nämlich zu lieben.« Denn das Licht lässt nach, »wenn ich Angst hatte …: sie machte mich blind. Dieselbe Wirkung hatten Zorn und Ungeduld … Die schlimmsten Folgen aber hatte die Boshaftigkeit … sofort legte sich eine Binde über meine Augen, ich war gefesselt … und … hilflos. Wenn ich dagegen glücklich und friedlich war, wenn ich den Menschen Vertrauen entgegenbrachte und von ihnen Gutes dachte, dann wurde ich mit Licht belohnt.« Der »Vorteil des Sehens: es stellt uns in den Mittelpunkt einer Welt, die viel größer ist als wir selbst.«
Später bemerkt er: »Das Sehen ist ein oberflächlicher Sinn«. Steiner beschreibt den Sehsinn als einen Sozialsinn (zwischen Körper- und Erkenntnissinn), der uns Licht- und Farberleben vermittelt und uns helfen kann, seelisches Erleben in eine Selbsterfahrung zu bringen. Lusseyran entwickelt eine Art Tastsehen: »Wahrnehmen wäre dann also das Eingehen in ein Gleichgewicht des Druckes«. Zugleich verfeinert er die anderen Sinne und bemerkt: »Der Schatten eines Baumes … ist hörbar. Die Eiche, die Pappel … haben jeweils eine spezifische Tonlage«. Moralität kann er riechen. Die Hände lernen immer feiner und sicherer tasten. »Die Hände müssen das, was sie richtig berührt haben, lieben.«
Er fragt, »ob nicht die Aufmerksamkeit eine Art Berühren ist.« Die Substanz des Universums verdichtet sich wieder, wo er zunächst nur Leere findet, wenn er »aus der Nähe« schaut. »Nach und nach lernte ich verstehen, dass Lieben Sehen bedeutete und Hassen Blindheit war.«
Aus dem Umgang mit den verschiedenen Sinnen und der eigenen Selbsterziehung erschließt er sich die Natur des Ich, dessen Heimat die Welt des Geistes ist, das Ordnung erzeugen kann und
seiner Substanz nach hingebende Liebe ist. »Und jeder Mensch trägt in sich eine einzigartige ­Melodie.« Er beendet die Schule mit hervorragenden Noten und beginnt mit dem Literaturstudium, wobei er auch musikalisch und naturwissenschaftlich begabt ist.
Noch in der Schule begegnet Lusseyran seinem Freund Jean Besniée, mit dem er 16jährig beschließt, »uns die Wahrheit zu sagen, die reine Wahrheit, und wenn wir das nicht können, zu schweigen.« Sie übernehmen Verantwortung für das, was sie denken und für wahr halten, und begründen somit in ihrer Freundschaft eine ehrliche, reine Beziehung von Ich zu Ich. »Er war mein Freund vor und über allen anderen. Er war der Spiegel, in dem ich den besseren Teil meines Ichs wiederfand.« Kurz vor Buchenwald verlässt Jean seinen Leib.
Seit 1938 ringt Lusseyran darum, in den Kriegs- und Propagandanachrichten Wahrheiten herauszuhören und sie seinen Mitschülern zu vermitteln. Mit der Besetzung von Paris weiß er – ein gewissenhafter und furchtloser Geschichtslehrer trägt seinen Teil dazu bei – um die Notwendigkeit zu handeln, wird krank, erkennt »Meine Krankheit ist die Besatzung« und gründet folgerichtig siebzehnjährig die Widerstandsgruppe Volontaires de la liberté (schon bald mit über 600 Mitarbeitern), die ab 1943 Teil der ­nationalen Widerstandsorganisation ­»Défense de la France« wird. Er verantwortet u.a. die landesweite Verteilung der Untergrundzeitung »Le Tigre«, die Koordinierung, das Adressverzeichnis (sämtliche 1050 Telefonnummern erin­nernd) sowie das Prüfen der Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit der neu Hinzukommenden. Da­bei begegnet ihm ein Mensch, bei dem er sofort spürt: »So schnell wie möglich sich von ihm trennen! … er hatte einen zu festen Händedruck … Etwas wie eine schwarze Lichtwand hatte sich zwischen sie geschoben.« Sehr präzise und sinnlich kann er mit seinem Ich-Sinn die Unwahrhaftigkeit des anderen Ich beobachten und beschreiben. Und doch behalten sie ihn und werden schon bald verraten, am 20.7. verhaftet, für ein halbes Jahr in Einzelhaft in das Gefängnis Fresnes ­verbracht, brutal gefoltert und verhört und schließlich, zusammen mit 2000 anderen Franzosen, am 22. Januar 1944 in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Er überlebt und wird am 11. April 1945 befreit.

Weimar: »In meinem Schädel stiegen Wörter wie kleine Ballons auf: Weimar, Goethe, Herzog Carl August, Frau von Stein, Bettina Brentano.« Mit seinen Sprachkenntnissen dolmetscht er im berüchtigten Kleinen Lager illegale Informatio­nen – sein angeblicher Beruf ist ein Schutz – und erlernt weitere Sprachen, kann zur Verständigung untereinander beitragen. In der ersten Zeit wird er ständig bestohlen, beobachtet seine kindliche Angst und sein Umfeld: »… viele starben ganz einfach vor Angst. Angst ist der echte Name der Verzweiflung.« Das Abgeben der persönlichen Dinge, das Scheren der Haare entwürdigt die Männer, sie fühlen sich nicht mehr lebend und sterben sehr schnell: »... gestorben an Ich-Mangel, am Aussetzen des Ich«. Das Über­leben hängt einzig und allein von den »Bewegungen des Ichs« ab.
Er selbst wird auch sterbenskrank und aufgegeben, beobachtet jedoch selbst die Phasen seiner Erkrankung bewusst mit, wie die Organe nach und nach »abschalten«. »Mein Körper schickte sich an, diese Welt zu verlassen. Er wollte nicht ohne weiteres hinübergehen ... überhaupt nicht hinübergehen.« Jedoch: »Im Gegenteil – das Leben, erstaunlicherweise das Leben, hatte ganz und gar von mir Besitz ergriffen. Ich hatte noch nie so intensiv gelebt. Das Leben war eine Substanz in mir geworden.« Von den folgenden 330 Tagen hat er keine einzige schlechte Erin­nerung. »Ich hatte es kaum nötig, an mich selbst zu denken. Ich konnte endlich den anderen helfen. Ich barg in mir eine solche Fülle an Licht und Freude, dass davon auf sie überfloss.«
Als sich die Front nähert, weiß er, dass es besser ist, im Lager zu bleiben. Nach 15 Monaten verlässt er Buchenwald: »… wie, weiß ich nicht. Nicht ich bin es, der mein Leben lenkt. Gott lenkt es.« Nach der Befreiung setzt er sein Studium der Literatur und Philosophie an der Sorbonne fort, schließt sich den »Citoyens du ­Monde« an, begleitet die Verurteilung des Verräters. Er erhält das »Croix de Guerre avec ­Palmes«, wird »Chevalier de la Légion d’Honneur« und »Officier de la Résistance«.
Er heiratete Jacqueline Pardon, einst Sekretärin von Philippe Viannay, die ihm die neuere Literatur vorliest. Drei Kinder kommen zu ihnen und doch trennt er sich von ihr in Freundschaft. Eine zweite Ehe mit Jacqueline Hospitel geht ebenfalls auseinander.
Von 1947 bis 1958 wird er Dozent für französische Literatur und Philosophie in Saloniki, an verschiedenen französischen Hochschulen und wird wieder als Blinder – aufgrund eines Gesetzes aus der Vichy-Zeit, das die Beschäftigung von Invaliden im Staatsdienst verbietet – benachteiligt. In mehreren autobiographischen Büchern verarbeitet er seine Lebenserfahrungen und geht 1958 in die USA als Gastdozent ans Hollins College (Virginia), an die Western Reserve University (Cleveland Ohio) sowie ab 1969 an die Universität von Hawaii.
Er beobachtet bewusst seine Beziehung zu den Hörern – eine Liebesbeziehung: »Von Bedeutung ist die Atmosphäre der Klarheit, die er [der Redner] bewusst in sich selbst, während er spricht, herstellen kann … Nicht der Text … bestimmt in Wirklichkeit die ganze Rede … Wesentlich sind die inneren Räume, die er durchquert, bevor er das Publikum erreicht.«
Er verlässt Amerika nach einer leidenschaftlichen Begegnung mit der noch verheirateten Studentin und Mutter, Malerin und Schriftstellerin Tony Marie Berger und geht mit ihr als seiner dritten Ehefrau zurück nach Frankreich. Dort begegnet er Georges Saint-Bonnet, einem Heiler, der für ihn zum geistigen Lehrer wird. Er ist weiter schriftstellerisch tätig und erhält 1953 von der Académie Française den »Prix Louis Barthoux«. Er hält Vorträge in Basel und Dornach und bedankt sich dafür, dass er an diesem Ort, seiner »spirituellen Wiege«, dank Rudolf Steiner den Mut zum Überleben gefunden hat. Als ein anthroposophischer Freund die Zusage bekommt, dass eine Professur an der Universität Basel möglich wäre, verunglückt Lusseyran mit Marie am 27. Juli 1971 nahe Juvardeil tödlich.

 

Werke

Das wiedergefundene Licht (Autobiographie), Stuttgart 1966.

Das Leben beginnt heute, Stuttgart 1975.

Bekenntnis einer Liebe, Stuttgart 1994, 3. Auflage 1996.

Gegen die Verschmutzung des Ich, Stuttgart 1972.

Blindheit – ein neues Sehen der Welt. Der Blinde in der Gesellschaft, 2 Vorträge, Stuttgart 1970.

Ein neues Sehen der Welt. Gegen die Verschmutzung des Ich, 5. Auflage, Stuttgart 2020.

 

Kirsten Rennert, geboren 1960, Priesterin, Leipzig