Die Ungerechtigkeit dieser Welt

AutorIn: Ilse Wellershoff-Schuur

Es geht wahrlich nicht immer gerecht zu im Evangelium. Da arbeiten die einen den ganzen Tag, andere nur eine Stunde, und alle bekommen denselben Lohn, nämlich genau das, was sie am Leben erhält. – Beim Gericht werden die einen sich erlöst finden, die anderen nicht. – Dann sollen auch noch die Ersten die Letzten, die Letzten die Ersten sein.
Aber eigentlich beginnt die gefühlte Ungerechtigkeit in der Bibel schon früher, nämlich in der Hebräischen Bibel: Des einen Opfer wird angenommen, das des anderen nicht. Derjenige, der sich das Erstgeburtsrecht erschleicht, kommt davon, und die Nachkommenschaft des Betrogenen darf nicht den Strom des Volkes fortführen, aus dem einst die Erlösung kommen soll.
Und gehen wir noch weiter zurück, nämlich bis zur Erschaffung des Menschenwesens, dann gibt es weiteren Stoff zum Nachdenken über die Gerechtigkeit in der Welt: Nachdem der Mensch/die Menschin zunächst als Mannfrau/Fraumann geschaffen wurde, das ganze Urbild Gottes in sich vereinend zu einem wahren Menschen, wird dieses Geschöpf Gottes in einer zweiten Schöpfung auseinanderdividiert: Es ist nämlich nicht gut, dass es allein sei. Danach bleibt eine Art polarisierter Restmann, physisch stark und trotz einiger Schwächen im mittleren Bereich der erste Ansprechpartner in Sachen Gottesbeziehung, und daneben und fast im Hintergrund eine Frau aus der Mitte des nun nicht mehr existierenden Ganzmenschen, die vor allem Kinder gebären und dem Mann Gefährtin sein soll. Himmelschreiend nach heutigem Rechtsgefühl – sind denn nicht Mann und Frau gleich gut, gleicherweise gleichberechtigt, gleich viel wert? Dürfen sie nicht ihre Aufgaben im Leben selbst wählen?
So oder so ähnlich schauen wir die Gerechtigkeitsfrage heute in der Bibel an, weil wir sie heute stellen können, und darum aus Erkenntnisdrang auch stellen müssen. Warum ist das so? Oder war das so? Und muss es immer gleich ­bleiben?
Die Frage selbst ist eine Tatsache, die durchaus nicht selbstverständlich war in frühen Menschheitszeiten. Die Menschen der biblischen Zeiten hätten wohl ganz andere Maßstäbe gehabt, und aller Wahrscheinlichkeit nach hätten sie überhaupt keine Frage an die Gerechtigkeit Gottes gestellt. Selbst beim hadernden Hiob geht es noch nicht in erster Linie darum, ob Gott gerecht ist, sondern ob das Schicksal ihn vom Weg mit Gott abbringen kann. Seine Auffassung: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt! kann heute sicherlich kaum jemand teilen. Gerecht ist in der Vorzeit der individuellen Entwicklung des Menschen, was gottgefällig ist, denn das ist in Übereinstimmung mit der göttlichen Ordnung. Und aus der Gerechtigkeit fällt heraus, was sich von Gott ent­fernt. Meist ist es wohl das, was wir Menschen, aus eigenen Stücken und oft abirrend tun auf dem Weg in das Unabhängigwerden von der göttlichen Determination. Die Freiheit beginnt erst sehr langsam zu wirken. Und erst wo wir sie anfänglich verwirklichen, macht es Sinn, von einem Streben nach Gerechtigkeit zu sprechen.


Was ist das überhaupt – gerecht? Und wer soll das beurteilen?

Ganz zu recht empfinden wir es heute tief: Jeder Mensch trägt den Keim des Göttlichen in sich, auch wenn das nicht unbedingt immer und überall bei jedem wahrnehmbar wird. Wir erleben dieses tiefe Gefühl, dieses Streben nach Übereinstimmung mit unserem »wahren Selbst«, das viele sicherlich nicht mehr so nennen würden, aber doch vage empfinden, und möchten es leben können, so gut es geht. Das Menschenrecht, das sich daraus ergibt, ist die Suche nach Selbst-Verwirklichung. Es ist unser wohl tiefster und oft unbewusster Wunsch, so viel wie möglich von dem im Leben zu verwirklichen, was unser Gefühl vom Menschensein ausmacht.
Und weil der Mensch des Gotteswesens Eben­bild und Gleichnis ist und weil das ziemlich weit weg ist von dem, was wir auf der Erde zustande bringen, enden unsere Versuche meistens eher unzulänglich, unvollkommen, anfänglich.
Großer Gott, wie verschieden wir sind! Wie vielfältig unsere Lebenswelten … Kann denn das gerecht sein?
Können wir damit leben, dass die einen alles besitzen, was man sich auf Erden kaufen kann, dass sie sich und den Ihren die bizarrsten Wünsche erfüllen können, während andere nicht nur arm sind, sondern tatsächlich existentielle Not leiden, vielleicht mit leiblichen Mangelerscheinungen verbunden, und im Extremfall an den Entbehrungen ihres Lebens sogar sterben müssen, ganz ohne eigenes Verschulden.
Ist es gerecht, dass es Krankheiten gibt und keine von ihnen so einfach als Folge des eigenen Fehlverhaltens wegerklärt werden kann, dass wir uns leibliche Einschränkungen zuziehen – oder aber pottgesund bleiben? Dass wir sterben, wenn wir schon 102 Jahre alt sind oder 93, 79 oder erst 36 oder 17 – an den unterschiedlichsten Ursachen? Oder dass manche von uns sogar die Erdengeburt erst gar nicht überleben?
Ist es gerecht, dass wir da geboren werden, wo Ruhe und Wohlstand uns einlullen in Gleichgültigkeit, aber einige von uns dabei tatsächlich trotzdem die Dankbarkeit gegenüber der Schöpferwelt und den anderen Menschen entdecken? Oder gar die Rücksicht auf Schwächere und das Verantwortungsgefühl für diejenigen, denen es schlechter als uns ergeht?
Oder ist es gerecht, dass manche von uns in einer Umgebung aufwachsen, in der Kriege, Unruhen, Terror herrschen, so dass wir vielleicht selbst zu Kämpfern, Aufständischen oder Terroristen werden? Dass sie in der Unterwelt nichts anderes kennenlernen als das Gesetz der Straße? Und vielleicht noch die Solidarität mit dem eigenen Clan, in dem Verrat an die Welt des Hellen mit dem Tode bestraft wird? Ist es gerecht, dass wir mit einer fetten Glückshaut geboren werden oder anfällig für jede erdenkliche Unbill?
Was ist das für eine furchtbar ungerechte, ungleiche Welt … Ist das einfach Zufall? Oder macht es irgendwie Sinn – was zu denken herzlos wirken kann, solange wir den Herausforderungscharakter nicht erkennen, der gerade uns, denen es besser geht, fragt: Und was tust du? Oder ist diese Ungleichheit im Schicksal etwas, was mit uns selbst zu tun hat? Was der strafende oder der gnädige Gott uns zudenkt aus uner­findlichen, aber »gerechten« Gründen? Haben wir uns unsere Situation selbst zuzuschreiben nach den unerbittlichen Gesetzen des Karma, die man aber so schrecklich missverstehen kann, wenn man denkt, dass das Gute durch Gutsein verdient, das Schwere durch Verfehlungen verschuldet ist?


Vom göttlichen zum menschlichen Recht

An der irdischen Gerechtigkeit arbeitet die Menschheit seit Jahrtausenden. Zunächst kam die Gerechtigkeit als göttliche Ordnung noch aus der Welt, der wir mit einem großen Teil unseres Seelenlebens angehörten. Die Gesetze des Göttlichen wirkten in uns und schafften eine Ordnung, in der die Lebenswege der Menschen wahrscheinlich viel harmonischer, aber auch noch viel vorbestimmter verliefen. Langsam trat das Gesetz nach außen – wurde den Menschen von Gott gegeben. Und als auch das zu verblassen drohte, wurde die Notwendigkeit deutlich, dass die Menschen selbst für Gerechtigkeit sorgen müssen.
Der Sündenfall geschah nicht in einem Augenblick. Die Freiheit kommt nicht auf einmal. Die Abirrungen, Verleugnungen, seelischen Schwächen waren Ausdruck eines immer selbständiger werdenden Menschenwesens, das zunächst noch mit Hilfe direkter »Strafen« aus der göttlichen Welt »erzogen« wurde, später immer mehr selbst eine Lebenswelt erschuf, in der das Leben von den Folgen der Taten der Menschen bestimmt war. Gemeinsam haben wir daran gebaut, dass unsere Taten soziale und globale Konsequenzen haben, die sich mit den Folgen unseres individuellen Schicksals mischen. Und wir können auch heute noch nicht wirklich unterscheiden, in welcher Form uns die göttliche Gerechtigkeit erreicht. Sollen wir Demut lernen oder kämpfen? Leiden annehmen oder aufbegehren? Geht es um Herausforderungen – und wenn ja, welcher Art?
Innerlich mögen uns solche Fragen bewegen. Wenn uns aber »Unrecht« geschieht, suchen wir Schutz von außen, Gerechtigkeit, in der die Menschengemeinschaft mir beistehen kann, weil sie nach der Götterdämmerung des »höheren Rechts« eine menschliche Rechtsordnung geschaffen hat. Eigentumsrechte, Schuldrechte, Familienrechte, ja sogar Strafgesetze, die mich zur Ordnung rufen dürfen, und Rechte, die ich gegenüber der Gemeinschaft habe, die wiederum ihre Rechte mir gegenüber einfordert. Diese kom­plizierten Rechtsordnungen entwickeln sich in verschiedenen Gesellschaften verschieden. Zu­erst per Dekret der Herrschenden, die den Volkswillen noch mehr oder zunehmend weniger in sich tragen, später versucht man es mit Übereinkunft. Wer dabei mitbestimmen darf, ist lange sehr begrenzt, auch wenn die frühen Formen schon Demokratien heißen. Es entsteht ein Bewusstsein, dass der Einzelne geschützt werden muss vor der Willkür der Herrschenden, der Übermacht der Gemeinschaft, ein Geflecht von »Checks und Balances«, eine Gewaltenteilung, in der die Gerechtigkeit geschützt werden soll. Dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen, aber eine wesentliche Errungenschaft kämpft sich weltweit in das Bewusstsein der Menschen: die allgemeinen Menschenrechte, die das umschreiben sollen, was dem Individuum mehr Gerechtigkeit verschafft.


Gleichheit und Gerechtigkeit

Können diese Menschenrechte uns helfen, die Gerechtigkeit selbst näher kennenzulernen? »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren«, so steht es da gleich am Anfang der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

In Deutschland sind sie speziell ausgestaltet im Grundgesetz. Und was die Gleichheit der Menschen angeht, steht dort:
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.


Gerechtigkeit durch allgemeine Verwirklichung von Gleichheit! Als Jurastudentin begegnete mir dann allerdings auch die wunderbare Interpretation dieses Gleichheitssatzes, dieser Grundregel, die sich heute in fast allen Verfassungen der Welt, die die Menschenrechte achten, findet. Wenn man einen Moment nachdenkt, ist es ja durchaus nicht selbstverständlich, dass alles gleich behandelt werden kann. Nein, »Gleiches gleich und Ungleiches ungleich« zu behandeln ist das Gebot, und es enthebt uns nicht der Aufgabe, festzustellen, inwiefern etwas gleich und wo es eben auch ungleich ist.
Ein Kind, ein alter Mensch oder ein körperlich oder seelisch eingeschränkt belastbarer Mensch kann nicht gleich viel arbeiten müssen wie ein gesunder Erwachsener.
Oder was ist von dem Satz zu halten (einmal abgesehen davon, dass es sich hier nicht um eine staatliche Maßnahme handelt): »Die Tische tragen, das machen jetzt bitte mal zehn starke Männer« (so gehört auf der letzten Synode) … Ein älterer Herr sagte mir dazu spontan: »Wie ungerecht! Die Männer sind doch nicht alle stark, und es gibt auch starke Frauen.« …
Oder würde es Sinn machen, dass alle gleichviel Steuern zahlen? So leicht ist es nicht mit der Gerechtigkeit.

Alle Grundrechte finden ja ihre Schranken in den mit anderen Grundrechten auftretenden Kollisionen, keines gilt unbedingt und grenzenlos und immer. Ich habe das Recht auf freie Meinungsäußerung, aber darf ich deshalb andere beleidigen? Oder betrügen? Ist es Kunstfreiheit, wenn ich das Eigentum anderer auf eine Art in mein Kunstwerk einbeziehe, die dieses zerstört? Ich darf mich entfalten, aber andere dürfen das auch, und es ist klar, dass es da immer Abwägungen geben muss.
Was ist gerecht? So einfach können die Gesetze, die wir uns indirekt ja selbst gegeben haben als Menschengemeinschaft, uns das nicht aufzeigen. Es ist viel guter Wille da, die verschiedenen Sonderbedingungen jeweils einzeln so zu bedenken, dass jede Ausnahme »gerecht« erfasst wird. Aber das ist zunächst einmal nur die Ur­sache für eine immer kleinteiligere Regelungsflut – und damit eine Menge Bürokratie, die keiner mag. So sehr wir auch darauf fluchen – der ganze Verordnungswust entstammt letztlich dem guten Willen, Sicherheit und Gerechtigkeit zu schaffen für jede einzelne und irgendwie abweichende ­Situation. Und hackt man dem Drachen dann auch mal zur Vereinfachung einen Kopf ab, wachsen in der Regel sieben neue nach.


Gerechtigkeit aus freien Stücken

Das alte Denken bringt uns nicht ans Ziel, auch wenn wir noch darauf angewiesen sind, wenn es nicht ganz und gar willkürlich zugehen soll in der Welt. Wer meint, dass Anarchie, dass ­Gesetzlosigkeit schon heute machbar ist auf ­allen Lebensgebieten, der hat noch nicht ganz verstanden, was Freiheit ist und inwiefern wir noch ziemlich selbstbezogen unterwegs sind – auf dem Wege dahin, allmählich ein freies Wesen zu werden.
Im 16. Kapitel des Johannesevangeliums (8–11) findet sich eine Aussage Christi über die Gerechtigkeit, die mir lange sehr rätselhaft blieb, hier aber vielleicht weiterhelfen kann:
Die Gerechtigkeit ist, dass er uns verlässt. Das Gericht über den Herrscher dieser Welt ist schon gesprochen. Und davor, als Ausgangspunkt: Die Sünde ist, dass die Menschen nicht mit ihm verbunden bleiben.
Nehmen wir die beschriebene Entwicklung des Menschen zur Freiheit als Maßstab, dann entsteht die »Sünde«, die Abirrung, Absonderung, die Entfernung vom Guten, dort, wo wir nicht mit der Quelle des Guten verbunden bleiben, was auf dem Wege durchaus ein notwendiger Zwischenschritt ist. Und deshalb ist eben die Sünde nicht zu vermeiden. Eine moralische Beurteilung ist hier nicht gemeint. Und insofern ist es gerecht, dass die göttliche Kraft uns verlässt, ganz grundsätzlich, aber auch am Karfreitag und am Himmelfahrtstag und in jeglicher »Götterdämmerung« danach. Bliebe diese Kraft »von selbst« bei uns, wir könnten nicht aus freien Stücken göttliche Wege suchen.
Das Gericht über den Herrn der Welt, der Gott dient, indem er uns vom Weg des Guten ab­bringt, ist damit gesprochen: Er wird seinen Platz nur in dieser Welt haben, der Welt, in der es ungerecht zugeht. Und er wird uns damit versuchen, dass wir meinen, wir könnten Abkürzungen nehmen zur Erlösung, Wege, die nur auf dem irdischen Plan stattfinden und scheinbar einfache Lösungen anbieten für alle Gerechtigkeitsprobleme der Welt. Schuld sind immer die anderen, welche auch immer, man muss sie nur entmachten, dann wird Gerechtigkeit einkehren …
Der Weg des Menschen ist aber nicht der des Schwarz-Weiß, Gut-Böse, sondern der Weg, der mit den göttlichen Kräften geht, ist widersprüchlich, immer wieder verstrickt in Schuld und die Möglichkeit der Umkehr bietend, aushaltend, dass wir in verschiedenen Welten leben und Verschiedenes lernen dürfen, dass wir Verantwortung füreinander und die Erde fühlen können und beginnen sollten, nach dieser Erkenntnis zu handeln, auch wo es nicht dem eigenen Wohlbefinden dient.
Denn auch wenn sie noch nicht machbar ist mit den heutigen Protagonisten, Anarchie ist angesagt, eine Anarchie aber, in der wir lernen können, die höhere Ordnung aus Freiheit wiederherzustellen. Das ist ferne Zukunftsmusik, aber mitunter gelingt es schon heute, wo Menschen vielleicht in einer aussichtslosen Lage, einer Sternstunde, inspiriert handeln, ohne Selbstgerechtigkeit und in voller Anerkennung des Wollens anderer. Also eher nicht dort, wo es noch Konfliktfälle gibt, leider! Vielleicht ist ein kleines bisschen Anarchie aber sogar der erste Schritt zum gewünschten Bürokratieabbau … Weniger Regeln – mehr Ermessensspielräume, für wohlwollende, von allen anerkannte Entscheider im Sinne »der Gerechtigkeit der Welt«.

 

Ilse Wellershoff-Schuur, geboren 1958, Priesterin, Oldenburg