Kirchenfreies Christentum (VIII) Alltägliche religiöse Praxis: Rituale der Vertrauensbildung und Ermutigung

AutorIn: Ulrich Meier

Die gegenwärtige Krise des Christentums scheint mir vornehmlich eine Krise der Kirche in ihrem Selbstverständnis als Organisatorin religiöser Praxis zu sein. Nicht nur das Vorgeben kirchlicher Lehren für Denken und Glauben, sondern auch eine gottesdienstliche Praxis, in der den Gläubigen überwiegend eine Konsumentenrolle zukommt, geht an der zeitgemäßen Frage vorbei: Wie können Glaube und religiöse Initiative aus der priesterlichen Kraft jedes einzelnen Christenmenschen hervorgehen? Kirche wäre demnach nicht mehr der vorgegebene Ort, dem sich Christen mit ihrem Denken, Empfinden und Handeln ein- und unterordnen, sondern ein freier Platz, an dem sich die Potenziale der Glaubenden erst zu christlicher Gemeinschaft zusammenfügen. Die Beiträge dieser Artikelserie möchten dem Entdecken und Aktivieren religiöser Kompetenzen im Alltag dienen, die als Grundlage einer christlichen Gemeinschaftsbildung aus dem Individuum verstanden werden können.

 

Das Unbewusste

Schon Augustinus von Hippo (354–430) ging davon aus, dass es einen Bereich des menschlichen Geistes gebe, der dem Bewusstsein verborgen bliebe, aber dennoch stetig präsent sei. Er nannte ihn Abditum mentis, was mit Versteck oder Verborgenes des Geistes übersetzt werden kann. In der Zeit zwischen der Klassik und Romantik schrieb Jean Paul (1763–1825): »Das Mächtigste im Dichter, welches seinen Werken die gute und die böse Seele einbläset, ist gerade das Unbewusste. (…) Wenn man die Kühnheit hat, über das Unbewusste und Unergründliche zu sprechen: so kann man nur dessen Dasein, nicht dessen Tiefe bestimmen wollen.«1 An die romantische Tradition der Medizin und Naturphilosophie anknüpfend bestimmte Carl Gustav Carus 1846 das menschliche Seelenleben durch ein bewusstseinfähiges und ein bewusstseinunfähiges Unbewusstes. Die Tiefenpsychologie des beginnenden 20. Jahrhunderts griff die Rede vom Unbewussten auf und verschaffte ihr eine bis heute anhaltende Beachtung. C.G. Jung unterschied in seiner Analytischen Psychologie zwei Arten des Unbewussten: »Während das persönliche Unbewusste wesentlich aus Inhalten besteht, die zu einer Zeit bewusst waren, aus dem Bewusstsein jedoch entschwunden sind, indem sie entweder vergessen oder verdrängt wurden, waren die Inhalte des kollektiven Unbewussten nie im Bewusstsein und wurden somit nie individuell erworben, sondern verdanken ihr Dasein ausschließlich der Vererbung.«2
Heute finden sich zahlreiche wissenschaftliche und künstlerische Annäherungen an die Sphäre dessen, was im menschlichen Inneren zwar gegenwärtig, aber dem bewussten Zugriff entzogen ist. Die religiöse Dimension des Unbewussten hat mit einer fundamentalen Erfahrung auf der Suche nach der Begegnung und Erfüllung mit göttlichen Welten und Wesen zu tun. Denn es gehört zum Grundgefühl der religiösen Seele, dass in ihr etwas existiert, lebendig ist und wirksam werden kann, was ihr waches Bewusstsein übersteigt und ins Gebiet des Unbewussten weist. Rudolf Steiner sprach 1910 in einem Vortrag mit dem Titel »Das Wesen des Gebetes« über solche Stimmungen:
»Und diese Andacht gegenüber dem Göttlichen, das uns aus der Vergangenheit anschaut, das wir ahnen können als etwas, was auf uns wirkt, dem wir aber mit unserm Bewusstsein nicht gewachsen sind, erzeugt die eine Gebetsstimmung …, die wir bezeichnen können als diejenige, welche zur Gottinnigkeit führt.«3 Steiner geht es dabei um den Anteil des Geistigen, der im eigenen Inneren vorhanden, aber noch nicht vom Ich ergriffen wurde: »Denn was wird die Seele wollen können, wenn sie still und intim sich diesen Empfindungen und Gefühlen gegenüber solcher Vergangenheit hingibt? Sie wird wollen können, dass das Mächtigere, das sie unbenutzt gelassen hat, das sie mit ihrem Ich nicht durchdrungen hat, in ihr gegenwärtig werde.« Das Wort »Gottinnigkeit« erscheint heute vielleicht als veraltet. Ich verstehe Steiners Schilderung so, dass er auf eine religiöse Kultur des Betens zielt, bei der es um eine schrittweise Annahme, um Stufen des Erwachens gegenüber dem zunächst noch unbewussten Göttlichen in der Seele geht. Ich lerne fühlen, was als Gött­liches unbewusst bereits in mir war und erlebe es als etwas wie »Gott in mir«.


Traum und Intuition

Dass der Traum – und sogar der Schlaf – nicht als Abwesenheit des Bewussten, sondern als Schritte der Bewusstwerdung gelten können, kommt auch in der Bibel vielfach zum Ausdruck. Im Schlaf handelt und redet Gott mit den Menschen. Engel erscheinen als seine ­Boten vielfach nur im Traum. Einer der großen und begabten biblischen Träumer war Joseph, der zweitjüngste Sohn des Jakob mit der Rahel. Als deren Lieblingskind erzählt er den älteren Brüdern ohne Scheu von einem Traum: Siehe, wir banden Garben auf dem Feld, und siehe, da richtete sich meine Garbe auf und blieb stehen; und siehe, eure Garben stellten sich ringsumher und warfen sich vor meiner Garbe nieder! (1 Mose 37,7). Die Brüder bemühen sich nicht um eine vorsichtige Deutung, sondern fällen ein schnelles Urteil. Sie empfinden die Rede Josephs als Anmaßung des jüngeren Bruders, der sich ihnen überlegen fühle. Sie können das Ende der Geschichte nicht ahnen, das uns als Lesern der Genesis erzählt werden wird: Weder der hinterlistige Verkauf Josephs und dessen vorgetäuschter Tod durch seine Brüder, noch die falsche Anschuldigung durch die Frau des Potiphar, die ihn für Jahre ins Gefängnis bringt, können verhindern, dass Joseph am Ende vom Pharao zum Vizekönig Ägyptens eingesetzt wird und dadurch auch seinen Brüdern und deren Familien das Leben retten kann. Was hat das mit Traum und Intuition zu tun? Im Gefängnis deutet Joseph die Träume zweier Mitgefangener, sodass er später gerufen wird, als niemand die Träume des Pharao deuten kann. Ihm gelingt die sich später erfüllende Deutung der Träume. Er vertraut dabei nicht nur darauf, dass im Traum die Stimme Gottes geschehen könne, sondern dass auch die Deutung durch Gott gegeben würde. Er kann sowohl im Traum selbst als auch in der ins Bewusstsein einkommenden Intuition seiner Deutung den Gott ahnen, ihn aus dem Unbewussten aufsteigend als gegenwärtig erfahren. So spricht er, als er den Brüdern schließlich ihre Verbrechen vergibt: Ihr habt Böses gegen mich im Sinne gehabt, Gott aber hatte dabei Gutes im Sinn, um zu erreichen, was heute geschieht: viel Volk am ­Leben zu erhalten (1 Mose 50,20).
Patrick Roth, einer der zu religiösem ­Erleben anregenden Schriftsteller unserer Tage, schöpft seine Erzählungen aus dem Umgang mit ­seinen Träumen, die er als Botschaften des Unbewussten erlebt. Die behutsame Behandlung dieses flüchtigen »Stoffes« inspiriert ihn im literarischen Schaffen. Mit seinem großen Roman »SUNRISE«4 würdigt er einen anderen bib­li­schen Träumer, einen anderen Joseph: den Vater des Jesus von Nazareth. Aus dem Leben mit Träumen und dem Lesen der Bibel schöpft er Bilder und Kompositionen, die dazu dienen können, das Leben mit dem Unbewussten als religiöse Aufgabe, als mystischen Weg zu verstehen. Auch er kennt die beiden Bewegungen, die schon den alttestamentlichen Joseph betrafen: Auf der einen Seite steht das, was als unbewusst-bewusstes Bild in kurzer Zeit aus dem Traum ins Tagesbewusstsein gehoben werden kann. Ihm steht gegenüber, was als Intuition eine längere Zeit der Reife braucht, in der sich durch geduldiges Erwarten die Deutungsan­sätze im Bewusstsein als Intuition einstellen. Was daraus als literarisch-religiöse Kunst entsteht, bleibt auch für den Leser ein immer verletzliches, durchaus der Skepsis und dem Zweifel offenes Bilderwerk aus Worten, das die Seele nährt.


Gottvertrauen und Zukunftssinn

In zwei Richtungen müssten die Alltagsrituale wirksam werden, die dem Unbewussten zugewandt sind: Die eine bezieht sich auf das, was als Geistiges unerkannt aus den Tiefen der Vergangenheit in die Gegenwart einströmt. Die andere führt zu dem, was als Zukünftiges aus dem Unbekannten in die Welt des Möglichen eintreten will. Kann ich darauf vertrauen, dass ein Göttliches fraglos in mir und in der Welt existiert, auch wenn ich es bisher nicht erkannt habe? Kann ich den Mut fassen, das Unwahrscheinliche für möglich zu halten, das als neue Gegenwart Gottes – als seine Wiederkunft – aus der Zukunft heraus in die Welt der Tat­sachen und auch in mich eintreten will?
Gerade gegenüber dem Unbewussten kann sich der Verstand nicht auf Beweise einrichten. Das bloße Nachdenken über den in Ewigkeit anwesenden Gott in allem kann das ersehnte Gefühl des Gottvertrauens nicht erzeugen. Und ein gedanklicher Existenzbeweis Gottes würde noch keine Gewähr dafür bieten, dass er auch in Zukunft gegenwärtig wird. Es gibt hier keine Sicherheit, sondern zunächst nicht mehr – aber auch nicht weniger – als die Sphäre von Traum und Intuition.
Für entsprechende Rituale wähle ich mir Zeiten tiefer Stille und innerer Ruhe. Fruchtbar wurde hier für mich das meditative Bewegen von Gebetsworten aus der Menschenweihehandlung. Für die erste Richtung sind es: »Unsere Substanz ist seine Substanz« und »Unser Sein ist sein Sein«. Mehr und mehr empfinde ich als feine Frucht dieses Übens die Bildung einer Art seelischen Grundes, auf dem sich mein Gottvertrauen »lagern« kann. Für die zweite Richtung sind es die Worte: »Unser Schauen sei durchtränkt von seinem Geist-Lichte« und »Unser Erkennen nehme er wohlgefällig in sein geistleuchtendes Leben auf«. Im meditativen Bewegen stellt sich dabei nach und nach eine zarte Empfindung der Zuversicht ein, dass mein intuitives Bemühen um ­geistoffenes Schauen mit einem Licht in Resonanz geht, das nicht von mir ausgeht, aber ermutigend in mir wirksam wird.

 

1  Jean Paul: Werke, Bd. 5, Vorschule der Ästhetik. Erste Abteilung, III. Programm, § 13, München 1959–1963.

2  Carl Gustav Jung: Gesammelte Werke (GW) 9/1: § 88, Ostfildern 1995.

3  Rudolf Steiner: Metamorphosen des Seelenlebens – Pfade der Seelenerlebnisse. Zweiter Teil, GA 59, Dornach 1984, S. 112f.

4  Patrick Roth: SUNRISE. Das Buch Joseph, Göttingen 2012.

 

Ulrich Meier, geboren 1960, Priester, Hamburg