Die anthroposophische Ärzteschaft im Nationalsozialismus
Peter Selg, Susanne H. Gross und Matthias Mochner: Anthroposophie und Nationalsozialismus. Die anthroposophische Ärzteschaft, Schwabe Verlag, Basel 2024, 914 Seiten, € 92,–
Bei dieser jüngst erschienenen Studie, 2016 durch die Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland veranlasst, handelt es sich um die erste systematische Untersuchung auf diesem Feld, bei der die drei Autoren Peter Selg, Susanne H. Gross und Matthias Mochner von einem wissenschaftlichen Beirat des Instituts für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin an der Berliner Universitätsmedizin (Charité) unterstützt worden sind. Angesichts der Brisanz des Themas und der Fülle des Materials eine herausfordernde Aufgabe, deren Ausmaß schon durch den bloßen Umfang des Buches angezeigt wird …
Dass nach 1945 über sieben Jahrzehnte verstrichen, ehe eine solche Aufarbeitung1 für wichtig befunden und in Angriff genommen wurde, sagt einiges über das Selbstverständnis der anthroposophischen Bewegung aus: Durch das Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft von 1935 schien die Sache entschieden zu sein; auch im Fall der Christengemeinschaft, die sechs Jahre später verboten wurde, lag der Ausgangspunkt für die Aufarbeitung, vorgelegt 2021 von Frank Hörtreiter, in der Einsicht, dass die Gleichung »Wir waren ja verfolgt, also auch Gegner«2 keine absolute Gültigkeit hat, sondern die Sache einer differenzierten Betrachtung und Beurteilung bedürfe. Wenn die »Verspätung« ein Gutes hat, dann liegt es darin, dass durch den zeitlichen Abstand, durch die angewachsene Menge an belastbaren Dokumenten sowie durch heutige Möglichkeiten der Recherche (im vorliegenden Fall bis in die Archive von Yad Vashem!) die Folgerungen auf sicherem Boden stehen.
Nach einer Darlegung der Methodik dieser Studie und einer Einführung in den Charakter der NS-Medizin geben die Autoren einen gründlichen Einblick in die Entwicklung der Anthroposophischen Medizin von 1920 bis 1933, zu der Erfolge und Hemmnisse (insbesondere die Dornacher Leitungskrise) gehören. Das folgende Kapitel widmet sich den Reaktionen auf die NS-Herrschaft in Deutschland, die bei maßgeblichen Verantwortlichen von Beginn an uneinheitlich waren: bei Ita Wegman eine klare Einschätzung der völligen Unvereinbarkeit (S. 190ff.) – und ein realistischer Blick auf menschliche und inhaltliche Gefährdungen; seitens des in Dornach agierenden Vorstands hingegen ein Bemühen um Strategien des Selbsterhalts (S. 222ff.), bei dem auch finanzielle Erwägungen eine Rolle gespielt haben mögen; kam doch schon seinerzeit der Löwenanteil der Mitgliederbeiträge aus Deutschland … (S. 252ff.).
Ganz unabhängig von ihrer spezifischen Fragestellung geben die Autoren mit den anschließenden ca. 100 Seiten eine eminent wichtige Gesamtschau über die Situation der Anthroposophie in allen ihren Lebensfeldern unter der NS-Herrschaft. Was hierzu erarbeitet worden ist, ist nicht allein für die angekündigten weiteren zwei Bände dieser Studie3 grundlegend, sondern ganz allgemein maßgeblich für eine Urteilsbildung. Die beschriebenen, wieder höchst disparaten Vorgänge zur Kenntnis zu nehmen, steht jedem gut zu Gesicht, der sich der Anthroposophie verbunden fühlt.4 – Daraus ergibt sich für die Autoren das Rüstzeug, um sich in den nächsten Abschnitten gründlich der Situation und dem Verhalten der Ärzteschaft im NS-Deutschland zu widmen, zunächst im Hinblick auf den Versuch einer Organisation der anthroposophischen Ärztinnen und Ärzte, der letztlich scheiterte, danach im Blick auf die Einzelschicksale, die in vier Rubriken gegliedert dargestellt werden: Überwachung und Repression, besonders eindrucksvoll nachzuvollziehen am Schicksal von Hermann Keiner (1880–1957, S. 534ff.); Anpassung und Kooperation, dabei besonders abgründig die Taten des für seine Menschenversuche berüchtigten Sigmund Rascher (1909– 1945, S. 632 ff.); Verweigerung und Widerstand, wobei uns in der erst 2023 verstorbenen Traute Lafrenz-Page ein Mitglied der Weißen Rose begegnet (S. 712 ff.); sowie Not und Flucht, worin wir die Schicksale von Ärztinnen und Ärzten jüdischer Herkunft nachvollziehen können.
Überaus hilfreich ist, dass sich jeweils am Beginn der insgesamt fünf großen Kapitel dieses Buches eine knappe Zusammenfassung befindet, in der die wesentlichen Linien und Ergebnisse dargestellt werden.
Was sich aus alledem ergibt, wird am Ende in einer kritischen Bilanz zusammengefasst und bewertet, und wie aus dem Vorigen schon deutlich ist, ergibt sich kein einheitliches Bild. Doch können die Autoren generalisierende Verurteilungen der anthroposophischen Ärzteschaft, wie sie vereinzelt seit längerem kursieren und in den letzten Jahren besonders gern (und gelegentlich genüsslich) zitiert werden, schlüssig entkräften (S. 544 und 673). Ebenso deutlich wird freilich, dass jede Art der Selbstgerechtigkeit im Sinne der Pflege eines Opfer-Narrativs den Tatsachen nicht entspricht (S. 17).
Staunen kann man über die Fleißarbeit, die für dieses Buch geleistet worden ist, die sich z.B. an dem detailreichen Blick über die seinerzeitigen Arbeitsumstände der Ärzteschaft ahnen lässt (S. 473ff.). – Mag diese Studie, die hoffentlich weit über ihren Fachbereich hinaus rezipiert werden wird, auch keine erquickliche Lektüre sein, so lässt doch der Eindruck der Redlichkeit der drei Autoren und ihres Strebens nach unbedingter Wahrhaftigkeit, das auf jeder der über 900 Seiten spürbar ist, die Freude an dieser Arbeit wachsen, bei der es sich um eine Tat von moralischem Gewicht handelt.
1 Ausführungen zu diesem Mangel finden sich in der Studie auf S. 551 f.
2 Frank Hörtreiter: Die Christengemeinschaft im Nationalsozialismus, Stuttgart 2021, S. 8
3 Band 2, dessen Erscheinen noch für dieses Jahr angekündigt ist, soll sich mit dem Verhalten der Arzneimittelhersteller Weleda und WALA befassen; der für 2025 angekündigte
3. Band dagegen mit der anthroposophischen Psychiatrie und Heilpädagogik unter besonderer Berücksichtigung der Heime
4 Überhaupt ist zu betonen, dass dieses Buch seinen Wert nicht zuletzt darin hat, dass es als Nachschlagewerk zu bestimmten Bereichen dienen kann, z.B. in Betreff des Kapitels Anthroposophische Gesellschaft und Antisemitismus (S. 273ff.), in dem es pointiert heißt, es habe »Helden, Feiglinge und andere« gegeben (S. 281)