Kirchenfreies Christentum (IX) Alltägliche religiöse Praxis: Rituale des inneren Königtums

AutorIn: Ulrich Meier

Die gegenwärtige Krise des Christentums scheint mir vornehmlich eine Krise der Kirche in ihrem Selbstverständnis als Organisatorin religiöser Praxis zu sein. Nicht nur das Vorgeben kirchlicher Lehren für Denken und Glauben, sondern auch eine gottesdienstliche Praxis, in der den Gläubigen überwiegend eine Konsumentenrolle zukommt, geht an der zeitgemäßen Frage vorbei: Wie können Glaube und religiöse Initiative aus der priesterlichen Kraft jedes einzelnen Christenmenschen hervorgehen? Kirche wäre demnach nicht mehr der vorgegebene Ort, dem sich Christen mit ihrem Denken, Empfinden und Handeln ein- und unterordnen, sondern ein freier Platz, an dem sich die Potenziale der Glaubenden erst zu christlicher Gemeinschaft zusammenfügen. Die Beiträge dieser Artikelserie möchten dem Entdecken und Aktivieren religiöser Kompetenzen im Alltag dienen, die als Grundlage einer christlichen Gemeinschaftsbildung aus dem Individuum verstanden werden können.

 

Das Individuum

Dass der Mensch berufen ist, sich zu einem sich selbst bestimmenden Einzelnen zu ent­wickeln, erleben viele Menschen heute als selbstverständlich. Der Weg zu diesem Ziel wird unterschiedlich beschrieben. In seiner Analytischen Psychologie nennt ihn C.G. Jung Individuation: »Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden.«  Es geht dabei um eine lebenslange Lösung von allem, womit man zunächst »vermischt« war: »Von jeder unbewussten Vermischung und Unabgetrenntheit geht nämlich ein Zwang aus, so zu sein und zu handeln, wie man selber nicht ist. Man kann darum weder einig damit sein, noch kann man dafür Verantwortung übernehmen. Man fühlt sich in einem entwürdigenden, unfreien und unethischen Zustand«.2 Die Anthroposophie Rudolf Steiners bringt die schrittweise Entwicklung des Individuums mit dem aus der römischen Religion stammenden Begriff des Genius in Verbindung. Dieser, so Steiner, sei unser werdendes Geistselbst, das heute noch im Schoß unseres leitenden Engels getragen werde, durch den sich der Heilige Geist offenbare. Wir trügen den Keim der nächsthöheren Persönlichkeitsanteile bereits in uns. Weiter heißt es: »Unser Ich muss jenem Höheren, jenem Geistselbst begegnen, das wir erst entwickeln werden …« Dies geschehe dadurch, dass wir diesem Wesen, das im Sinne einer christlichen Auffassung ein Engel sei, regelmäßig nahe kommen sollten, »… weil dieses Wesen, indem es uns begegnet, an uns geistig dasjenige vornimmt, was uns in die Lage versetzt, einstmals ein Geistselbst aufzunehmen.«3
Im alttestamentlichen Buch Ester wird ein solcher Schritt zur Individuation in Bildern anschaulich. Ester, die als junge Königin am Hof des Ahasverus (Artaxerxes) im persischen Susa lebt, wird von ihrem Onkel Mordechai aufgefordert, sich bei dem König für die verfolgten Juden einzusetzen, denen ein Pogrom durch Intrigen des Höflings Haman droht. Ester weiß um die Lebensgefahr eines solchen Unternehmens, für das sie allen Mut ihres Ichs brauchen wird: Alle Knechte des Königs und die Leute in den ­königlichen Provinzen wissen, dass, wer irgend in den inneren Hof zum König hineingeht, es sei Mann oder Frau, ohne gerufen zu sein, nach dem gleichen Gesetz sterben muss, es sei denn, dass ihm der König das goldene Zepter entgegenstreckt, ­damit er am Leben bleibe (Est 4,11). Um sich zu stärken, beginnt sie ein Fasten und ruft auch Mordechai um Hilfe an: So geh hin, versammle alle Juden, die in Susa anwesend sind, und fastet für mich, drei Tage lang bei Tag und Nacht, esst und trinkt nicht. Auch ich will mit meinen Mägden so fasten, und dann will ich zum König hineingehen, obgleich es nicht nach dem Ge­setz ist. Komme ich um, so komme ich um! (Est 4,16). Die Übertretung des herrschaftlichen Gebots, das Lösen vom bislang geübten Gehorsam und die das eigene Selbst übersteigende innere Haltung, sich um des Lebens der Juden in Persien willen einer Todesgefahr auszusetzen, zeigt die Kraft des Individuums, die sich aber erst in der Berührung mit der Spitze des königlichen Zepters erfüllen wird: … und der König streckte das goldene Zepter, das in seiner Hand war, ­Ester entgegen. Da trat Ester herzu und rührte die ­Spitze des Zepters an (Est 5,2). Rainer Maria Rilke hat diesen Moment in seinem Gedicht ­Esther 1908 in Worte gebracht, als er am Ziel des langen Weges zum königlichen Thron Ester als »die Schwindende« auf den König zukommen lässt: »... Er rührte sie mit seines Zepters Spitze; / und sie begriff es ohne Sinne, innen.« Man kann nach dieser feinen Begegnung und Berührung von einer neuen Stufe inneren Königtums sprechen.


Demut und Zutrauen

Ein sich selbst weiterentwickelndes Ich braucht stets eine realistische Einschätzung davon, dass es zum Erreichen seiner wahren Größe noch »Luft nach oben« gibt. Mit einem alten Wort nennt man das Demut. Der bulgarische Philosoph Georgi Schischkoff (1912–1991) beschrieb sie in seinem Philosophischen Wörterbuch einmal so: »Demut ist das Bewusstsein unendlichen Zurückbleibens, bei dem aller Vergleich versagt. Sie misst das eigene Sein an der Vollkommenheit, so wie sie diese versteht, als Gottheit, als sittliches Ideal oder als erhabenes Vorbild.«4 Es geht nicht darum, dass ich mich künstlich kleiner mache als ich bin, sondern um Bescheidenheit, Wahrhaftigkeit und Liebe, wie sie der Theologe Romano Guardini (1885–1968) in einer Tagebuchnotiz als die drei Stufen der Demut beschrieben hat. Die Königin Ester wusste das Maß ihrer Machtlosigkeit gegenüber dem König gut einzuschätzen und konnte deshalb diese drei milden Gefühle der Demut kultivieren. Ihre innere Haltung verhalf ihr dazu, sich auf das einzustellen, was sich ergeben würde. Dabei nahm sie auch in Kauf, ihre Entscheidung mit dem Leben bezahlen zu müssen: »Komme ich um, so komme ich um!«
Bewegt sich die Seele auf der einen Seite durch Demut zum Kleinen, so rührt sie in der anderen Richtung aus ihrem inneren Wachstumspunkt heraus an ihre Größe. In der Geschichte von Ester ist dieser Augenblick eingetreten, als die Königin ihrem König beim Mahl die Bitte sagte: Wenn ich beim König Wohlwollen gefunden habe und wenn es ihm gefällt, dann möge mir und meinem Volk das Leben geschenkt werden. Das ist meine Bitte und mein Wunsch (Est 7,3). Später fügte sie hinzu: Denn wie könnte ich dem Unglück zusehen, das mein Volk treffen würde? Und wie könnte ich zusehen, wie mein Geschlecht umkommt? (Est 8,6). Anders als ihr Gegenspieler Haman, der vom König heimlich den Befehl zum Massenmord an den persischen Juden erschlichen hatte, tritt Ester offen und mit der Größe ihres Mutes für das Leben der Bedrohten ein. Für unsere Zeit war es Anfang des 20. Jahrhunderts Mahatma (»die große Seele«) Gandhi mit seinen dem Leben zugewandten Methoden des Satyagrahas (Festhalten an der Wahrheit) und der Gewaltfreiheit des Zivilen Ungehorsams, dessen Zutrauen und Mut für die Rechte und das Leben Unterdrückter wirksam wurden. Im Größerwerden des Individuums spielt paradoxerweise vielleicht immer der Bezug zum »Du« oder zum »Wir«, zu anderen Menschen oder Gemeinschaften eine wichtige Rolle. Die Verbindung mit anderen muss hier nicht mehr die Gefahr beinhalten, das ­Untrennbare des Ein­zelwesens durch neuerliche »Vermischungen« zu schwächen, vielmehr wächst in dieser Art Ich-Begegnung mit anderen das eigene Ich am fremden Ich in seine Kraft des Zutrauens und in seine dem Herzen verbundene Größe.


Innere Kraft und äußeres Wirken

Nicht umsonst wird das Individuum oft mit dem Bild des Königtums in Verbindung gebracht. Suche ich im Alltag nach Ritualen zur Stärkung und zur Entfaltung des Individuums, kann der Blick auf mein persönliches »Königreich« gerichtet werden: Wofür trage ich in mir und in meiner Umgebung Verantwortung und wie souverän bin ich in den Entscheidungen, diese Verantwortung zu leben? Für diese Art »Regierungsarbeit« kann ich mir Zeiten wählen, in denen ich das passende Maß meines Reichs besinne. Ist es klein genug, um überschaubar und regierbar zu bleiben? Kann es größer werden, indem ich als Individuum mit anderen Gemeinschaft bilde?
Ein Ritual könnte darin bestehen, dass ich mir meine Tätigkeitsfelder sichtbar mache: Ich zeichne oder lege einen Kreis und markiere mir für die unterschiedlichen Aufgaben entsprechende Zeichen, verschaffe mir also einen Überblick. Dann frage ich, wie viele »Baustellen« angemessen sind und welche vielleicht aufgelöst werden können. Mit dieser Bewegung suche ich nach der Verkleinerung meines Aktionsfeldes, um meine Kräfte zusammen und für Neues offen halten zu können. Dieses entspräche der Fastenübung der Königin Ester.
Ein anderes Ritual kann sich auf das Verhältnis des eigenen Reichs zur Umgebung, zu Reichen anderer Königsindividuen richten. Ging es in dem ersten Fall um die Kraft im Inneren, so geht es jetzt auch um die Ausstrahlung nach außen, die im Raum zwischen den Individuen aufleuchtet. Vor einem anderen, entsprechenden Schaubild kann ich mich nach den zukünftigen Kooperationen fragen, auch nach Hilfen, die ich mir suchen möchte. Fragen können dabei sein: Welche Initiative möchte ich mit wem anbahnen?
Was brauche ich, um dieser Idee nachzukommen? Was ­hindert mich, sie anzugehen? Die Königin Ester musste den König Ahasverus, ihren Widersacher Haman, den Onkel Mordechai und die gefährdeten Juden in Persien im Auge behalten, um ihre Ziele verwirklichen zu können. Was hindert, was hilft?
Die Monarchie als äußere Staatsform wird hoffentlich auch weiter mit Erfolg durch demokratische Formen abgelöst – dem Königtum des Einzelnen wird auch dabei eine wichtige Rolle zukommen.

 

1  C.G. Jung: Gesammelte Werke. 7, § 266, 404

2  C.G. Jung: Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten. Zweiter Teil: Die Individuation. 4. Auflage, München, S. 110

3  Rudolf Steiner: Bausteine zu einer Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha, GA 175, Dornach 1996, S. 53 f.

 4  Georgi Schischkoff: Demut, in: Philo­sophisches Wörterbuch, Stuttgart 1991

 

Ulrich Meier, geboren 1960, Priester, Hamburg