Die Schwelle

AutorIn: Sibylle Thackray

Lautlos kreist der kleine Zeiger um das Zif­fernblatt an der Wand. Es ist 5 Uhr morgens. Sie beobachtet, wie die Morgendämmerung leise in ihr Zimmer kriecht und den Gegenständen ihre Konturen zurückgibt, denn sie ist schon eine ganze Weile wach. Reglos liegt sie in ihrem Bett und starrt an die Zimmerdecke. Die Auseinandersetzung mit ihrer Nichte, die nun schon eine Weile zurückliegt, hat sie um ihre Nachtruhe gebracht. Widerstreitende Gedanken gehen in ihrem Kopf hin und her und wühlen ihre Gefühle auf, sodass sie nicht zur Ruhe kommt. Vor ihrem Fenster singen die Gartenvögel ihr Morgenlied, doch sie hört sie nicht.

Seit dem Tod ihres Mannes lebt sie allein in dem großen Haus am Rande der Kleinstadt. Fast alle ihre Bekannten sind ihr bereits vorausgegangen. Auch sie wird immer älter und gebrechlicher. Dennoch hängt sie noch immer am Leben, denn sie hat noch einen großen Wunsch. Sie möchte für die vielen Schätze, die sie und ihr Mann zusammengetragen haben, liebevolle Abnehmer finden. Das erweist sich jedoch in der Konsumgesellschaft, in der sie nun lebt, als ein schwieriges Unternehmen. Auf ihren Regalen häufen sich altmodischer Plunder neben noch nützlichen Gebrauchsgegenständen, Familienfotos, aber auch manches wirklich Schöne. Wie soll sie das alles an den Mann bringen? Jeden Morgen sitzt sie vor ihren Kartons, die der Gärtner ihr aus dem Speicher in ihr Wohnzimmer gestellt hat, und sortiert ihren Inhalt von einer Kiste in die andere, in der Hoffnung, dass sich auf diese Weise, doch noch eine Lösung finden werde.

Als sie kürzlich ihrer Nichte ihr Leid klagte, bot sich diese an, ihr zu helfen. Erleichtert nahm sie das Angebot an, aber sie ist dennoch tief erschrocken, als sie feststellt, dass ihre Nichte es mit ihrem Angebot ernst gemeint hat und am nächsten Tag mit ihrem Kombiwagen vor ihrem Haus hält. »Halt, halt«, will sie rufen, als sich ihre Nichte sogleich ans Werk macht, Regale leert und volle Schubladen in ­mitgebrachte Kisten räumt und in den Tiefen ihres Koffer­raums verstaut. »Das geht mir alles viel zu schnell.« Ihre mühsam vorgebrachten Einwände fin­den kein Gehör. »Freu dich doch«, sagt die Nichte nur, »was weg ist, ist weg. Ich werde schon die richtigen Abnehmer finden.« Als die Aktion abgeschlossen und ihre Nichte wieder abgefahren ist, geht sie wie im Traum durchs Haus, das ihr nun leer und fremd erscheint, um zu prüfen, ob wenigstens ihre täglichen Gebrauchsgegenstände noch an ihrem Platz sind. Fast ist sie schon wieder etwas beruhigt, da bemerkt sie, dass die Aktenmappe mit ihren Papieren nicht mehr an ihrem gewohnten Ort ist. Und wo ist das Geld für die Putzfrau geblieben, das auf der ­Konsole lag? Es ist nicht mehr da. Ihre Nichte wird doch nicht …? Sie kann es sich eigentlich nicht vorstellen. Dennoch gibt es keine andere Erklärung. Sie gerät in Panik und beginnt nach allen möglichen anderen Gegenständen zu suchen, und je mehr sie sucht, desto größer wird ihr Misstrauen. So hatte sie sich die Aktion nicht vorgestellt. Da gab es kein Abwägen, kein Be­raten, kein gemeinsames Vorgehen. Ihre Nichte hatte sie einfach übergangen und jetzt auch noch das. Ihr Argwohn wandelt sich in Zorn. Sie ist wütend darüber, dass ihr die Kontrolle über ihr Leben genommen wurde. Auch als sie nach ein paar Tagen alle ihre verloren geglaubten Sachen wiedergefunden hat, ist sie fest entschlossen, so etwas nie wieder mitzumachen.

»Was hast du eigentlich mit meinen Sachen gemacht«, will sie bei ihrem nächsten Besuch von ihrer Nichte wissen. »Ich habe sie an meine Hilfsorganisation für Bulgarien gegeben«, gibt diese arglos zurück. »Und wieso ­ausgerechnet Bulgarien«, fragt sie pikiert. »Warum denn nicht! Was hast du eigentlich gegen mein Land?«, kontert die Nichte. Natürlich hat sie nichts gegen Bulgarien, aber sie muss doch ihren Ärger irgendwie zum Ausdruck bringen. »Also damit machen wir jetzt Schluss«, sagt sie abschließend, »nur dass du es weißt, in Zukunft bleiben meine Sachen in England.«

Nach diesem Besuch hat sie nichts mehr von ihrer Nichte gehört. Auf ihrem Schreibtisch häufen sich die Rechnungen und die Korrespondenz, die ihre Nichte für sie bis jetzt immer erledigt hat. Und was soll nun werden mit all den Formalitäten, für die sie nach ihrem Tod verantwortlich wäre. All das und das schlechte Gewissen lasten auf ihr. Sie leidet und dennoch kann sie sich nicht überwinden, ihrer Nichte das erlösende Zeichen der Versöhnung zu geben.

Wenn sie doch wenigstens beten könnte! Ihre Gedanken wandern zurück in ihre Kindheit und halten bei der Base Lisbeth, die so alt geworden war, dass die Leute von ihr sagten, dass sie nicht sterben könne. Als sie eines Tages mit ihrem Vater an ihrem Haus vorbeikamen und sie auf ihrer Bank sitzen sahen, da rief ihr Vater zu ihr hinüber: »Base Lisbeth, wie geht es denn, Ihr lebt ja immer noch!« »Ich würde ja gerne sterben«, hatte sie geantwortet, »wenn ich nur wüsste, wie es weitergeht!«»Wie gibt es denn das«, hatte der Vater entrüstet gemeint, »jetzt seid Ihr so alt und seid ein ganzes Leben in die Kirche gegangen und wisst es immer noch nicht. Habt Ihr denn das Beten verlernt?« »So ist es, Herr Pfarrer«, hatte sie leise geantwortet. »Dann müsst Ihr es eben wieder lernen. Das Beten verlernt man nicht. Aber man muss es üben«, mahnte er sie, bevor sie weitergingen. – Auch sie hatte das Beten verlernt, seitdem sie nicht mehr in Frieden mit sich war.

Aber was hilft all das Grübeln, es macht alles nur schlimmer. Da gibt es nur eine Lösung: aufstehen und weitermachen. Der Morgen ist schon weit fortgeschritten, als sie sich wieder ih­rer täglichen Beschäftigung mit ihren Kisten zu­wendet. Da fällt ihr ein Foto in die Hand. Es ist ein Bild ihres Vaters. Schonungslos ehrlich und durchdringend ist sein Blick auf sie gerichtet. Er durchstößt ihr Herz wie mit einer Lanze und trifft auf die Dämonen, die sich dort eingenistet haben. Er richtet sich an ihr Gewissen und befiehlt ihr, sich mit ihrer Nichte zu ver­söhnen. Sie schleppt sich ans Telefon und wählt die Nummer. Aber keiner antwortet. Sie ist müde, unendlich müde von all der Last, die sie mit sich herumschleppt, von all ihren Beschwerden und Sorgen um die Zukunft. »Wenn nur jemand käme und mich mitnähme«, der alte Kinderreim geht ihr durch den Kopf von damals, als ihr Vater sie auf seine Schulter genommen und nachhause getragen hatte, wenn sie nicht mehr weiterlaufen konnte. Genauso geht es ihr jetzt. Sie kann nicht mehr und hat ein großes Bedürfnis, einfach alles loszulassen und sich wie damals an den Wegrand zu setzen. Die Augen fallen ihr zu. Doch was geschieht? Ihre Müdigkeit ist gewichen, sie befindet sich auf einem schwimmenden Floß und fährt mit ihm über das weite Meer. Der Himmel ist blau und die Segel blähen sich im Wind. Sie fühlt sich so frei und leicht wie ein Vogel in der Luft. Alle Last ist von ihr genommen. So glücklich war sie noch nie in ihrem Leben. Doch plötzlich bemerkt sie, dass sie nicht allein ist. Sie dreht sich um. Da streckt ein fürchterliches Kriechtier seinen gehörnten Kopf aus dem Wasser und klammert sich mit seinen Krallen an ihr Boot. Hinter ihm sind noch zwei weitere Untiere, die sich an dem weißen Band zu schaffen machen, das sie mit dem Festland verbindet. »Sie werden es doch nicht zerreißen«, hofft sie, denn dann wäre sie verloren auf dem großen Meer. Im selben Moment war es auch schon geschehen. Alle drei klettern zu ihr auf das Floß. »Lieber Gott im Himmel, hilf mir«, murmelt sie in höchster Not, denn sie kann nicht schreien, so sehr sie es auch versucht. In diesem Moment macht das Floß einen Ruck und stößt an Land. Die Tiere sind verchwunden. Schwerelos und befreit von aller Not steigt sie an Land. Sie ist geblendet von dem Licht, das sie umgibt. Es kommt in wunderbar silbrigen Strahlen von oben, und als sie ihnen folgt, sieht sie seine ausgebreiteten Arme und sein von unendlicher Hingabe erfülltes leuchtendes Antlitz. Sie wendet sich ab, denn so viel Liebe kann sie nicht ertragen, und dennoch ist sie erfüllt von unsagbarer Glückseligkeit, dass sie sich auf­genommen weiß in sein Reich. Als sie sich an ihre neue Umgebung etwas mehr gewöhnt hat, entdeckt sie inmitten der Strahlen ihre Nichte. Sie lacht und winkt zu ihr herüber.

 

Sibylle Thackray, geboren 1937, Lehrerin i.R., Falmouth, England