»Siehe, ich bin bei euch alle Tage« Was uns die Gegenwart Christi erschließt
Zeitzeugen des Christus
Ob uns wohl immer bewusst ist, dass wir Christi Taten nicht nur erinnern, sondern dass wir seine Zeitzeugen sind? Dass er nicht nur vor 2000 Jahren gelebt und gewirkt hat, sondern auch in unserer Gegenwart? Ob wir spüren, dass der, dem wir uns in Gedanken und Empfindungen zuwenden, bei uns ist, hier und jetzt und alle Tage?
»Wer hat die Bibel für geschlossen erklärt?«, fragt Novalis. In unser aller Leben setzt sich fort, wovon die Bibel berichtet, aber nicht als Lehre, sondern als Erfahrung.
Das letzte Wort des Auferstandenen, das Matthäus überliefert und mit dem er zugleich sein Evangelium beschließt, lautet: »Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Zeiten.« Im nächsten Augenblick ist er den Blicken der Jünger entschwunden. Um seine Gegenwart zu erfahren, müssen sie und müssen wir die dafür nötigen Sinne erst selbst entwickeln; sie werden uns nicht von der Natur zur Verfügung gestellt.
Im Neuen Testament wird deutlich, wo Christus nach der Auferstehung fortwirkt: in den Menschen. Das im Neuen Testament auf die Evangelien folgende Buch heißt »Die Taten der Apostel«. Darin berichtet uns Lukas von Himmelfahrt und Pfingsten – Taten des Jüngerkreises, der dem Christus Wohnung und Bleibe bereitet über dessen Erdenleben hinaus. Paulus erklärt den Athenern die Beziehung zu Christus mit dem Hinweis: »In ihm leben und weben und sind wir« (Apg 17). Und für Rudolf Steiner ist das Menschsein eigentlich erst dadurch gerechtfertigt, dass es im Dienst des Guten und Schönen steht und sein intellektuelles Wirken vom »wahren, echten Herzblut des göttlich-geistigen Lebens« durchströmt sein lässt.1
Der Mensch ist auf Christus und sein Fortwirken in die Zukunft hinein schon geschaffen.
Zur Freiheit veranlagt
Das kann uns insbesondere in solchen Augenblicken deutlich werden, in denen das Schicksal uns vor die kleinen und großen Entscheidungen stellt und wir uns fragen, was wir tun sollen. Da bemerken wir deutlich: Wir selbst müssen diese Entscheidungen fällen. Nichts in unserer Natur, die uns doch so reich begabt hat, zwingt uns, in die eine oder andere Richtung zu handeln.
In solchen Augenblicken können wir unserer leiblichen Konstitution ablesen, dass wir auf Christus hin und auf sein Fortwirken auf Erden bereits geschaffen sind. Während sich die Tiere nicht nur in ihren Leib, sondern auch in ihr Verhalten hinein inkarnieren, können wir an uns selbst bemerken, dass wir in unserem Verhalten gerade nicht vorbestimmt sind. Selbst die wenigen uns zunächst angeborenen Reflexe (u.a. der Greif- und der Saugreflex) müssen wir abstreifen, um uns gesund als Menschen entwickeln zu können. Besonders deutlich wird das an der Gestaltung der Hand, die für die verschiedensten Tätigkeiten bereit steht, aber für keine besonders spezialisiert ist.
Es gibt zahlreiche weitere solch offene Stelle in unserer Veranlagung; insbesondere auch unsere Seelenkräfte, unser Denken, Fühlen und Wollen, gehören dazu. Sie erlauben uns, ja fordern von uns, dass wir unser Tun und Lassen immer wieder neu selbst bestimmen, aus den moralischen Kräften nämlich, die wir uns im Lauf des Lebens aneignen. Wir inkarnieren uns immer wieder neu aus unseren eigenen Entschlüssen bis in unsere Hände hinein – ein fortwährendes Geburtsgeschehen. So bleiben wir fortwährend uns aus dem Übersinnlichen neu Gebärende.
Selbst das, was als Fähigkeiten in unserer Leiblichkeit von Geburt an veranlagt ist – etwa die Sprache –, können wir nur aus unseren eigenen höheren Entschlüssen auch ergreifen, und nur auf diese Weise können diese uns angeborenen Fähigkeiten tatsächlich wirksam werden, kann in uns erst das wirksam werden, was von den Schöpfermächten in uns gelegt ist.
Das Evangelium – sich in Christi Gegenwart einleben
Die Entfaltung unserer moralischen Entschlusskraft wird durch die Evangelien angeregt. Eine stilistische Eigenart können wir uns in diesem Zusammenhang einmal deutlich machen: Die Evangelien berichten uns von den Ereignissen des Erdenlebens Christi, aber sie tun es im Märchenstil. Märchenstil aber ist, dass das, wovon gesprochen wird, für die Augen unsichtbar bleibt. »Man sieht nur mit dem Herzen gut«, dazu werden wir im Hören von Märchen angeregt. Für den Evangelienhörer bedeutet das, dass er, ohne dass er sich das bewusst deutlich macht, selbst hineingezogen wird in das Erzählte. Denn dieses wird nur dadurch konkret und lebendig für ihn, dass er es in seiner eigenen Seele miterlebt und ihm aus seinen eigenen Seelenkräften Gestalt und Erscheinung gibt. Hörend werden wir selbst diejenigen, die Christus aufsuchen, um von ihm belehrt, getröstet, geheilt zu werden.
Was für die Menschen im Allgemeinen gilt, für die Jünger, die Schriftgelehrten, das Volk, das gilt auch für das Wesen des Christus selbst. Auch er wird nur genannt, nicht äußerlich beschrieben. Indem wir uns in sein Wesen einfühlen, lernen wir ihn aus seiner Haltung und seinen Taten immer besser kennen, man könnte sagen: so gut wie uns selbst. Anders ausgedrückt: Indem wir uns mit seinem Wesen erfüllen und durchtränken, erwachen wir zu dem, der wir in Wirklichkeit sind, zum moralischen Kern unserer selbst. Wir erinnern uns nicht nur an sein Dasein und seine Taten, wir erfahren sein Wirken an uns und in uns.
Zwei neue Festeszeiten
Auf besondere Weise wird das Fortwirken des Christuswesens im Menschen im Kultus der Christengemeinschaft deutlich. Seit ihrer Gründung feiern wir zwei neue Festeszeiten: Johanni und Michaeli, die sich aus den bereits zuvor bekannten Festtagen entfaltet haben. Eine Ahnung für das Neue, das damit gemeint ist, geht uns auf, wenn wir auf die Namen blicken. Die Bezeichnungen der bekannten Feste erinnern an Ereignisse aus dem Christusleben auf Erden: von Advent über Weihnachten und Ostern bis zum Pfingstereignis. Die neuen Feste tragen die Namen von Individualitäten. Was ihr Inhalt sein wird, müssen die Feiernden selbst herausfinden und gestalten und dem Christuswesen damit eine ganz neue Möglichkeit, unter uns gegenwärtig zu sein, bereiten.
Die Kinder empfinden es als ganz selbstverständlich, dass Feste keine Erinnerung an etwas einmal Gewesenes sind, sondern gegenwärtige Ereignisse. Natürlich wird zu Weihnachten das Christkind immer wieder unter uns geboren. Können wir uns diese Gewissheit der Kinder zu eigen machen? Können wir sie hineintragen auch in das Begehen der übrigen Feste? Können wir uns selbst als eine Art heimliches Christus-Fest verstehen, ein Fest, das unseren individuellen Namen trägt?
Die Menschenweihehandlung der Johannizeit ebnet unserem Erleben den Weg für eine überraschende Tatsache: Wir können das Wesen des Täufers in unserer Mitte ahnen und ihn sogar mit »Du« ansprechen. Er ist der einzige Heilige, dem wir uns in unserem Kultus mit diesem größte Nähe bezeugenden Wort zuwenden. Er schaut auf unser Opfer, wie er auf das Opfer des Jesus von Nazareth geschaut hat, als jener zu ihm an den Jordan kam, um sich taufen zu lassen. Er wacht darüber, dass das Christuswesen in uns »leben und weben« kann und unser Tun sich mit seinem Wesen gegenwärtig erfüllt. Er vollzieht die Menschenweihehandlung mit uns immer wieder aufs Neue: als Taufe, d.h. als Wegbereitung für Christus, in uns Mensch zu werden.
Das Fortströmen des Christuslebens
Die beiden neuen Festeszeiten stoßen uns an, das Auferstehungswirken Christi nicht nur erinnernd zu besinnen, sondern unsere aktuelle Verbundenheit damit zu begreifen und zu üben. Im Zeitengebet der Johanni-Epistel wird Christus als derjenige bezeichnet, der »das Leben aus dem Tod geboren« hat. Die Michaeli-Festeszeit fügt dem einen überraschenden neuen Begriff hinzu: den Begriff der »Lebens-Todes-Tat auf Golgatha«, die im Menschen fortwirken soll und für deren Ahnen der Erzengel Michael uns wecken will.
Das klingt zusammen mit einer Schilderung Rudolf Steiners, aus der deutlich wird, dass sich nicht nur das Leben des Christus mit der Erde über Golgatha hinaus fortsetzt, sondern dass das Golgatha-Ereignis selbst nie zu Ende gegangen ist und also in die Zukunft hinein fortwirkt. In der Menschenweihehandlung hören wir den Hinweis darauf, dass der Leib am Kreuz das neue Bekenntnis tragen und im Blut sich der neue Glaube verströmen wird. Das ist kein Geschehen, das auf den historischen Karfreitag beschränkt ist. Rudolf Steiner weist darauf hin, dass dieses strömende Blut Christi sich ätherisiert und seither fortwährend von der Erde aufsteigt, ein glänzender, kristallin glitzernder Lebensstrom.2 Mit diesem Lebensstrom, der im Tod Christi begonnen hat, sich zu ergießen, klingt im Kleinen ein Strom ätherischen Blutes zusammen, der fortwährend in unserem eigenen Herzen gebildet wird und von dort aus zu unserem Hirn strömt. Das aber hat zur Folge, dass wir nicht nur an das denken können, was wir für uns selbst brauchen, sondern dass wir auch für die Not und die Bedürfnisse unserer Mitmenschen und der Welt offen sein können. Dieses Zusammenklingen mit dem Blutstrom vom Kreuz auf Golgatha befähigt uns, moralisch zu denken und zu handeln. Hierin wirkt die Lebens-Todes-Tat auf Golgatha unmittelbar lebendig auch in uns fort.
Die Bilder des Karfreitags
Das Wort von der Lebens-Todes-Tat fordert uns heraus, das Bild der Kreuzigung noch einmal neu und tiefer aufzunehmen. Was wie das Ende der Existenz Christi erscheint, entpuppt sich einem tieferen Nachsinnen als ein fortwährender Neubeginn, ein Lebensquell. Sich dem zu nahen, machen die äußeren Bilder, insbesondere eben das des Kreuzes selbst als Marterholz, schwer. Ein neuer Blick darauf sei hier versucht!
Am Karfreitag wird Christus verspottet, indem ihm der Purpurmantel umgelegt und die Dornenkrone aufs Haupt gedrückt wird. Dazu spricht Pilatus die Worte: »Seht, das ist euer König.« Aber: Was da als Spott ausgegeben wird, ist ja die Wahrheit. Christus ist der König, der aus dem Judentum hervorgehen sollte. Das groteske Bild spricht wahr – aber indem es mit Hohn durchtränkt wird, verstellt es zugleich den Blick auf das in ihm Offenbarwerdende.
Noch tiefer und wahrer spricht das Bild vom Gekreuzigten das Wesen des Christus aus.
Ehe er selbst darauf hinwies, dass er gekreuzigt werden würde, hat er zu seinen Jüngern bereits von dem Kreuz gesprochen, das der auf sich nehmen müsse, der ihm nachfolgen will (Mt 16,24). Was spräche nachdrücklicher davon, dass Christus mit uns verbunden ist und verbunden bleibt an jedem Ort, zu jeder Zeit, in uns lebend und wirkend selbst »in unserem Händeheben«, als das Kreuz, an das er unlösbar geheftet ist, weil er es selbst auf sich genommen hat? Aber angesichts der Verhöhnung, die mit der irdischen Kreuzigung von Menschen zelebriert wird, verdeckt auch hier das Zerrbild die Wahrheit, auf die es eigentlich hinweist.
Das Phänomen der Stigmatisierung, bei dem die Wundmale Christi in den Händen eines Menschen sichtbar werden, kündet auf seine Weise von Christi Nähe bis in unsere Hände hinein. Jede Menschenhand trägt diese Male, wenn auch zumeist nicht für äußere Augen sichtbar. Aber es steht ganz außer Frage, dass unsere Hände zugleich seine Hände sind, auf ihn hin geschaffen, und unser Tun sein Tun.
Dass seine Todes-Tat auf Golgatha auch für Christus in ein neues, fortströmendes Leben fortwirken kann in unserer Gegenwart, ist uns immer wieder neu in die Hände gelegt.
1 Rudolf Steiner: Die Ätherisation des Blutes, in: Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit, GA 130.
2 Ebd.
Georg Dreißig, geboren 1950, Priester, Stuttgart