Vermächtnisse früher Kirchenväter
Von Kirchenmüttern ist nirgends die Rede. Und das liegt nicht daran, dass Frauen am Aufbau der urchristlichen Gemeinden nicht beteiligt gewesen wären. Im Gegenteil. Ihre Beteiligung lässt sich an den lobenden Erwähnungen und den Grüßen an die Mitarbeiterinnen der Gemeinden aus den Paulusbriefen erschließen.
Eher wird es daran liegen, dass die Frauen sich nicht schriftlich geäußert haben. Dass es nicht ihren Aufgaben entsprach, in der Öffentlichkeit zu stehen, Theologie und Philosophie zu treiben, das Christentum öffentlich zu verteidigen. Stattdessen hat sich ja dann die Kirche selbst später die allumfassende »heilige Mutter Kirche« genannt. Wir haben es also mit Männern zu tun, mit »Vätern«, mit »Kirchenlehrern« und ihrem Vermächtnis. Viele ihrer Werke sind verschollen, aber die erhalten gebliebenen vermachen uns Einblicke: Einblicke in die Entwicklung der christlichen Theologie vor und während der Zeit der großen Konzilien, bevor und nachdem das Christentum zur römischen Staatsreligion wurde. Einblicke in das Denken antiker Menschen in Zeiten großer Umbrüche. Einblicke auch in das Denken der »Ketzer«, der »Häretiker«, gegen die sie argumentiert haben und von deren Werken meist noch weniger erhalten ist als von denen aus dem Hauptstrom des christlichen Denkens. Einblicke in die langsame Entwicklung kirchlicher Hierarchie. Und, wenn auch leider nur ganz wenige: Einblicke in die Entwicklung des christlichen Kultus.
Wer sich einen gut lesbaren Überblick verschaffen möchte, der aus dem Umkreis unserer Christengemeinschaft hervorgegangen ist, dem empfehle ich die beiden – nur noch antiquarisch erhältlichen – Bände Vom Geist des Urchristentums1 und Vom Untergang des urchristlichen Geistes von Robert Spörri.
Was ist denn Theologie? Sie ist unter anderem der Versuch, geistige und religiöse Erlebnisse in Worte zu fassen, die dabei entstehenden Gedanken in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen, sie mit früheren Philosophien und Gedankengebäuden in Einklang zu bringen und weiter zu entwickeln. Das alles geschieht erst nach und nach. Erst in späteren Zeiten kann eine Theologie auch zum rein theoretischen Denkgebäude werden. In der Zeit des Urchristentums waren die Erlebnisse so stark und die Ausbreitung des Christentums im ganzen römischen Herrschaftsgebiet rund um das Mittelmeer so rasant, dass das Nachdenken und das Ordnen kaum hinterherkamen.
Und es entstanden ständig neue, sich teils bekämpfende Denkweisen. Deren Konflikte wurden dann manchmal auf den sogenannten ökumenischen Konzilien gelöst, sie wurden aber nur dadurch gelöst, dass durch Mehrheitsbeschluss Glaubenssätze als Dogmen festgelegt wurden. Diese waren danach verbindliche Vorschriften, es durfte nichts anderes mehr geglaubt werden.
In der Anthroposophie wird diese Zeit der menschlichen Seelen- und Bewusstseinsentwicklung als die Zeit der »Verstandes- und Gemütsseele« bezeichnet. Das Gemüt war erst dann zufrieden, wenn der Verstand eindeutige Antworten gefunden hatte. Die eine Seite musste Recht, die andere Unrecht haben. Manchmal wurde auch beiden Seiten Recht gegeben und ein paradoxes Dogma geschaffen, nur als vereinfachte Beispiele: War Jesus Mensch oder Gott? Dogma: Er war beides! Waren die menschliche und die göttliche Natur in ihm vermischt oder getrennt? Dogma: Sie waren unvermischt und ungetrennt!
So etwas ließ sich dann nur noch auf Autorität hin glauben, nicht mehr mit dem Verstand begreifen.
Wir haben diese Verstandesseele natürlich immer noch in uns und können sie nachvollziehen, wir sind aber durch die Diversität unserer Welt, durch Globalisierung und moderne Physik und eine wachsende Toleranz inzwischen viel besser vorbereitet, auch das anzuwenden, was die Anthroposophie »Bewusstseinsseele« nennt. Wir können die gleichzeitige Berechtigung von Gegensätzen anerkennen und denken, wir können mit begrifflichen Dreiheiten jonglieren und Polaritäten überwinden. Dass eine große Zahl von Menschen vor dieser Unsicherheit Angst hat und zurückfallen möchte in eine kindliche »Entweder-oder-Welt«, in primitives Schwarz-Weiß-Denken, das erleben wir zur Zeit täglich auf der Weltbühne und in den Wahlergebnissen verschiedener Länder. Umso wichtiger ist es, dass wir uns im Überwinden von Polaritäten üben! Man könnte auch so sagen: die frühe Kirche hat ihre Erkenntnisse in Form von Dogmen »eingefroren« und sie so über die Zeiten hinweg gerettet. Heute ist unsere Aufgabe, ein so lebendiges Denken zu entwickeln, dass wir sie wieder »auftauen« und neu fruchtbar machen.
Die Kirchenväter waren von solchen Überlegungen noch weit entfernt. Die religiöse Umgebung des Urchristentums war vielfältig. Fast alle christlichen Gemeinden gingen aus den jüdischen Gemeinden hervor, die im ganzen römischen Reich vertreten und auch als legitime Religion anerkannt waren. Es gab aber auch sonst ein reiches Angebot an Religionen aus »aller Welt« bis hin zu persischen Riten und zum Buddhismus. Schon mit dem Großreich Alexanders des Großen hatte dieser religiöse und kulturelle Austausch begonnen.
Alte und neuere Mysterienreligionen waren dabei besonders vertreten. Vor allem die persische Mithrasreligion hatte sich weit verbreitet. Sie bot, nach intensiver Vorbereitung, ein individuelles Einweihungserlebnis, eine Art »Nahtoderlebnis«, ein Todes- und Auferstehungserlebnis, nach dem das Leben des Eingeweihten neu und verändert, mutiger, kraftvoller erlebt wurde. Und wahrscheinlich ist die rasante Ausbreitung des Christentums auch dadurch zu erklären, dass es an solche Einweihungserlebnisse zwar anknüpfte, sie aber auch in ihrer Exklusivität ablehnte, dass auch die urchristliche Erwachsenentaufe in ähnlicher Weise als Einweihung erlebt wurde, dass aber dieses Erlebnis dann im weiteren Leben auch regelmäßig im Kultus die Teilhabe an Tod und Auferstehung Christi als Gemeinschaftserlebnis, ohne Rücksicht auf Herkunft und soziale Stellung, ermöglichte. Das Urchristentum war nicht politisch revolutionär, es strebte keine Änderung der sozialen Schichten und Verhältnisse an. Aber innerhalb der Gemeinden vereinten sich alle Gesellschaftsschichten, bis hin zu Sklavinnen und Sklaven in der Hoffnung auf eine baldige Wiederkunft Christi und die dann eintretende völlige Verwandlung aller irdischen Verhältnisse. Die Hoffnung darauf war so stark, dass in den bald einsetzenden Christenverfolgungen viele Christen bereit waren, den Märtyrertod zu sterben.
Denn Christ zu sein wurde nun lebensgefährlich. Andererseits stellte sich die Erwartung einer unmittelbar bevorstehenden, äußerlich eintretenden Wiederkunft Christi als Irrtum heraus oder ließ zumindest auf sich warten. So entstanden neue Herausforderungen an die Gemeinden. All das spiegelt sich in den Schriften der Kirchenväter.
Deren Studium wird als »Patristik« bezeichnet. Wir haben hier nicht die Möglichkeit, alle ihre Ergebnisse und Diskussionen darzustellen. Die weisheitsvollen Schriften des Clemens von Alexandrien oder des Origines lassen wir aus. Auch die Bekenntnisse des Augustinus, die als die »erste Autobiographie der Weltgeschichte« bezeichnet worden sind. Wie gesagt, Robert Spörri bietet einen guten und vertieften Überblick. Nur ein Beispiel sei gewählt, weil es uns einerseits als kultusorientierte Gemeinschaft besonders interessiert, andererseits deshalb besonders im Dunkel der Geschichte verborgen liegt, weil die ersten Christen einfach grundsätzlich nicht darüber gesprochen haben, ja oft lieber Folter und Tod über sich ergehen ließen, als darüber Auskunft zu geben: die Geschichte des christlichen Kultus, der Eucharistie, des Abendmahlsgottesdienstes. Einen kleinen Einblick dazu kann uns die Patristik trotz allem geben.
Die erste Generation der Kirchenväter nach den Aposteln waren die »apostolischen Väter«: Clemens von Rom, Polykarp von Smyrna, Ignatius von Antiochien u.a. Von ihnen sind, wie von einigen Aposteln, auch Briefe an Gemeinden überliefert, manche dieser Briefe wären beinahe noch in den Kanon des Neuen Testamentes aufgenommen worden. Sie ermahnen ihre Gemeinden zur Treue und zum Festhalten am Christentum. Sie ermahnen auch zur Anerkennung der sich langsam entwickelnden Hierarchie: Diakone, Presbyter, Bischof. Das Presbyterium war immer ein »Ältestenrat« aus mehreren Personen, langsam wurde aus »Presbyter« das Wort »Priester«, aber was die genauen Aufgaben der drei genannten Hierarchiestufen im langsam entstehenden Kultus waren, wissen wir nicht. Wohl aber kennen wir die folgende Ermahnung des Irenäus von Antiochien – er war als Gefangener auf dem Weg zum Martyrium in Rom, durfte aber Briefe schreiben und Besuche empfangen: »Befleißigt euch, dass ihr häufiger zusammenkommt zur Feier der Eucharistie Gottes und zum Lobe. Denn wenn ihr euch oft versammelt, wird die Macht Satans gebrochen, und sein verderblicher Einfluss wird in der Eintracht eures Glaubens aufgehoben.«2
Erst die nächste Generation der Kirchenväter – die Apologeten des 2. Jahrhunderts – beginnt das Schweigen über den Kultus zu brechen und ihn auch für Nichtchristen zu erklären. Die abenteuerlichsten Anschuldigungen kursierten auch schon vorher, darunter die Behauptung, die Christen würden Kinder schlachten und deren Leib essen und ihr Blut trinken. Als Erster gibt Irenäus von Lyon einen kleinen Einblick in die Gottesdienstpraxis, ohne die Inhalte wirklich zu schildern. Daher wissen wir, dass die Opfergaben zunächst nicht vom Presbyter, sondern von allen Teilnehmenden zum Altar gebracht und dann gesegnet wurden. Erst Justin der Märtyrer gibt in seiner erhalten gebliebenen Apologie einen etwas genaueren Einblick in die inzwischen weiter entwickelte Form: »Alle, die sich von der Wahrheit unserer Lehren und Aussagen überzeugen lassen, die glauben und versprechen, dass sie vermögen, ihr Leben darnach einzurichten, werden angeleitet, zu beten und unter Fasten Verzeihung ihrer früheren Vergehungen vor Gott zu erflehen. Auch wir beten und fasten mit ihnen. Dann werden sie von uns an einen Ort geführt, wo Wasser ist, und werden neu geboren in einer Art von Wiedergeburt, die wir auch selbst an uns erfahren haben; denn im Namen Gottes, des Vaters und Herrn aller Dinge, und im Namen unseres Heilandes Jesus Christus und des Heiligen Geistes nehmen wir alsdann im Wasser ein Bad. Christus sagte nämlich: Wenn ihr nicht wiedergeboren werdet, werdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen …«3
Die Feier der Eucharistie, die die Neugetauften nun zum ersten Male erleben, schildert Justinus dann mit folgenden Worten: »Darauf werden dem Vorsteher der Brüder Brot und ein Becher mit Wasser und Wein gebracht. Der nimmt es und sendet Lob und Preis dem Allvater durch den Namen des Sohnes und des Heiligen Geistes empor und spricht eine lange Danksagung dafür, dass wir dieser Gaben von ihm gewürdigt worden sind. Ist er mit den Gebeten und mit der Danksagung zu Ende, so gibt das ganze Volk seine Zustimmung mit dem Worte: ›Amen‹. Dieses Amen bedeutet in der hebräischen Sprache so viel wie: Es geschehe! Nach der Danksagung des Vorstehers und der Zustimmung des ganzen Volkes teilen die, welche bei uns Diakone heißen, jedem der Anwesenden von dem verdankten Brot, Wein und Wasser mit und bringen davon auch den Abwesenden. Diese Nahrung heißt bei uns Eucharistie. Niemand darf daran teilnehmen, als wer unsere Lehren für wahr hält, das Bad zur Nachlassung der Sünden und zur Wiedergeburt empfangen hat und nach den Weisungen Christi lebt. Denn nicht als gemeines Brot und als gemeinen Trank nehmen wir sie; sondern wie Jesus Christus, unser Erlöser, als er durch Gottes Logos Fleisch wurde, Fleisch und BIut um unseres Heiles willen angenommen hat, so sind wir belehrt worden, dass die durch ein Gebet um den Logos, der von ihm ausgeht, unter Danksagung geweihte Nahrung, mit der unser Fleisch und Blut durch Umwandlung genährt wird, Fleisch und Blut jenes fleischgewordenen Jesus sei. Denn die Apostel haben in den von ihnen stammenden Denkwürdigkeiten, welche Evangelien heißen, überliefert, es sei ihnen folgende Anweisung gegeben worden: Jesus habe Brot genommen, Dank gesagt und gesprochen: ›Das tut zu meinem Gedächtnis, das ist mein Leib‹, und ebenso habe er den Becher genommen, Dank gesagt und gesprochen: ›Dieses ist mein Blut‹, und er habe nur ihnen davon mitgeteilt.«4
Justin wurde während der Regierungszeit Marc Aurels verhaftet, verurteilt und hingerichtet. Wäre ich wohl bereit, für meine Teilnahme am Kultus in den Tod zu gehen? Ich zweifle sehr daran! Aber es ist auch nicht leicht, sich in so eine ganz andere Lebenssituation hineinzudenken. Mutige Menschen, die für ihre Überzeugungen im Kampf für das Gute größte Risiken auf sich nehmen, gibt es auch heute in aller Welt. Sie beeindrucken und inspirieren mich, wie damals die Kirchenväter und Märtyrer ihre »schwächeren« Mitmenschen inspiriert haben. Ich wünschte mir, wenn es darauf ankäme, selbst ebenso handeln zu können.
1 Im Internet abrufbar unter https://christengemeinschaft.de/sites/default/files/Affeldt-Friedrich/p…
2 Zitiert nach Spörri: Vom Geist des Urchristentums, a.a.O., S. 27.
3 Ebd., S. 88.
4 Ebd., S. 92.
Michael Bruhn, geboren 1959, Priester, Zürich