Gerechtigkeit und die Bergpredigt
Gerecht und Gerechtigkeit sind Begriffe, die uns bei der Anwendung nicht schwerfallen. Wir glauben zu wissen, wer gerecht handelt und was Gerechtigkeit ist. Ein Kind, das in einem wirtschaftlich benachteiligten Land aufwächst und Hunger leidet, empfindet nicht notwendigerweise, dass sein Leben ungerecht sei. Das Kind einer wohlhabenden Familie kann sich ungerecht behandelt fühlen, wenn sein Stück Geburtstagskuchen kleiner ist als das seiner Schwester. Eine Frau, die studieren möchte und es aufgrund patriarchalischer Gesellschaftsformen nicht tun darf, empfindet das System als ungerecht. Auch der Mann, der lieber die Betreuung seiner Kinder übernehmen möchte, anstatt zur Arbeit zu gehen, fühlt sich ungerecht behandelt, wenn die Gesellschaft seine Präferenz verhöhnt. Wir wissen also in aller Regel sofort, was wir für uns als gerecht bzw. ungerecht empfinden. Wir wissen aber deswegen noch nicht, was gerecht in der Empfindung der anderen ist. So zeigen die ersten zwei Beispiele, wie subjektiv Gerechtigkeit empfunden wird; bei den letzten zwei Beispielen scheitert die Gerechtigkeit am jeweiligen Gesellschaftssystem.
Das Denken über die Gerechtigkeit hat sich in der Zeit gewandelt und positive Entwicklungen in der Gesellschaft ermöglicht. Der moderne Staat hat Aspekte der Gerechtigkeit in seine Verfassungen aufgenommen. Der Rechtsstaat schützt den Menschen vor Gewalttaten, indem diese strafrechtlich geahndet werden, sodass Leib und Leben nicht willkürlich in Gefahr geraten. Manche Staaten sehen eine gewisse Solidarität unter den Staatsbürgern vor und sorgen für die nötige Umverteilung. Die meisten westlichen Rechtsstaaten schützen die Bürgerinnen vor ihrer eigenen Willkür, sodass sie sich, bei ungerechter Behandlung, Gehör verschaffen können. Die Demokratie sucht möglichst alle Menschen bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen.
Solche gesellschaftlichen Strukturen wollen wir heute nicht missen und doch sind sie lediglich Platzhalter. Denn die Gerechtigkeit steht als menschliches Entwicklungsideal vor uns. Das heißt, dass nicht das System die Gerechtigkeit verwirklichen kann; nicht die Summe von Rechten oder die Abwesenheit von Ungleichheiten machen die Gerechtigkeit aus. Vielmehr sind wir gefordert, die Gerechtigkeit als Tugend in uns auszubilden und zu verwirklichen.
Bereits Platon hat die Gerechtigkeit als eine und sogleich die herausragendste der vier Kardinaltugenden1 charakterisiert. Der gemäß jeder nur das erfüllt, was seine Aufgabe ist und durch die er die drei Seelenteile, das Begehrende, das Muthafte und das Vernünftige im rechten Gleichgewicht hält.2 Rudolf Steiner nennt diese Seelenkräfte Wollen, Fühlen und Denken und meint auch, dass ihre Ausgewogenheit Voraussetzung sei, um im Verhältnis zu anderen Menschen Gerechtigkeit walten zu lassen. Zusätzlich sieht Steiner in den Seelenkräften den Ausdruck der Ich-Kraft, die Anbindung an das Göttliche sucht.3 Diese Charakterisierung von Gerechtigkeit verortet die Erfüllung der Gerechtigkeit richtigerweise im Verantwortungsfeld des Einzelnen.
Emil Bock meint: »Gerechtigkeit ist das Sein des Guten«.4 Damit kennzeichnet er einen Prozess des Werdens: Gerechtigkeit ist, wenn das Gute da sein wird. An der Gerechtigkeit haben wir vorerst lediglich Anteil über den in uns lebenden göttlichen Funken.5 Gerechtigkeit ist eine Tugend, die in der Herzgegend, in der vermittelnden Rolle zwischen Denken und Tun erarbeitet werden will. Unser Ich hat sich aus dem intellektuellen und logischen Denken herausgebildet. Doch im Zuge dessen haben wir die Fähigkeit verloren, mit dem Herzen zu sehen. Dieses Sehen mit dem Herzen oder Herzdenken6 müssen wir erneut aus unserem Bewusstsein heraus lernen, um das sichere Wahrheitsgefühl gegenüber unseren Mitmenschen wiederzuerlangen. Erst dann werden wir erkennen können, was gerecht in der Empfindung der anderen ist.
Die Bergpredigt
Die Bergpredigt zeigt uns den Weg des Übergangs auf: Nicht mehr das (äußere) Gesetz ist gefragt, sondern das Ich! Die in mir innewohnende Moral ist das neue Gesetz. Jede einzelne Person muss tätig werden, soll die Gerechtigkeit in der Welt dereinst verwirklicht werden. Und, weil die Gerechtigkeit sich im zwischenmenschlichen Verhältnis abspielt, stellt sie den Weg des Einzelnen zum Nächsten in Liebe dar.7
Die drei Kapitel umfassende Bergpredigt (Mt 5–7) im Matthäus Evangelium enthält vier Teile, die als Bestandteile eines Hauses angesehen werden können.8 Ein ganz persönliches Haus, an dem ich bauen kann; das mir hilft, ein gerechterer Mensch zu werden.
Der erste Teil sind die Seligpreisungen (Mt 5,3–12), die zusammen mit den drei Bildern von Salz, Licht und einer Stadt am Berg, einen Einstieg bilden (Mt 5,13–16). Die neun Seligpreisungen können in drei Gruppen unterteilt werden und laden zur Selbstreflexion ein.
Die erste Gruppe (Mt 5,3–5) betrifft den Menschen und wie er in dieser Welt aufgestellt ist. Die Reflexionen darüber können lauten: Erstens: Sehne ich mich nach dem Geistigen? Zweitens: Weise ich das Leid von mir oder entwickle ich mich daran? Drittens: Verfalle ich dem (irdischen) Alltag oder richte ich mich auf?
Die Seligpreisungen der zweiten Gruppe (Mt 5,6–8) sprechen das Verhältnis zwischen den Menschen an. Diese Trias ist im Zusammenhang der Gerechtigkeit von besonderer Bedeutung, weil sich die Gerechtigkeit im zwischenmenschlichen Verhältnis abspielt. Das zeigt sich vor allem, indem das Hungern nach Gerechtigkeit in der vierten Seligpreisung explizit angesprochen wird. Damit könnte die Reflexion gemeint sein: Kümmere ich mich um das Wohlergehen der anderen oder schaue ich lediglich nach meinen eigenen Interessen? Die fünfte Seligpreisung lässt mich über meine Empathie und Toleranz anderen gegenüber reflektieren. Die Trias schließt mit der Frage nach dem geläuterten Herzen, der reinen Agape. Diese kann mit dem Herzdenken erreicht werden, das uns noch nicht zur Verfügung steht, das wir uns aneignen müssen.
Die Seligpreisungen der dritten Gruppe (Mt 5, 9–11) betreffen die Beziehung des Menschen zu Gott und stellen eine Steigerung dar. Denn ich kann erst Frieden (7) schaffen oder mich für Gerechtigkeit (8) einsetzen, wenn ich mit mir selbst im Reinen bin und meinem Nächsten mit geläutertem Herzen begegne.
Der zweite Teil der Bergpredigt umfasst die sieben Gesetzesanforderungen (Mt 5,17–48; 6,1–6). In diesem zweiten Teil geschieht eine Umstülpung des Gesetzes: von außen nach innen, neu wird es in jeden Einzelnen von uns verortet. So beispielsweise, wenn Christus meint, dass bereits im begehrenden Anschauen der Ehebruch beginnt (Mt 5,27–28). Man ist geneigt, zu meinen, es handle sich um eine Verschärfung des Gesetzes. Doch das ist es gerade nicht. Es handelt sich vielmehr um einen Übergang: Das bisher äußere Gesetz wird verinnerlicht. Der Ehebruch, der früher von außen, durch andere gerichtet worden ist, kann als solches erst gerichtet werden, wenn er sichtbar wird. Wenn ich aber eigenständig über mich »richten« soll, weiß ich, dass die Tat schon vor ihrer Sichtbarwerdung begonnen hat. Darin ist der Übergang zum eigenständigen Richten, zur selbstbestimmten Verantwortungsübernahme offenkundig. Solange wir die Qualifizierung unserer Handlungen anderen überlassen, geben wir Verantwortung ab. Die Bergpredigt will aber, dass wir die Verantwortung für das Richten selbst übernehmen.
Die sieben Bitten des Vaterunsers bilden den dritten Teil der Bergpredigt (Mt 6,7–15), das Beten im Allgemeinen. Das Beten-Lernen hilft uns auf dem Weg, Gerechtigkeit als Tugend zu üben und dereinst zu realisieren. Beten heißt, mich im Denken, Fühlen und Wollen mit der Göttlichkeit zu verbinden; ähnlich dem Moment der Transsubstantiation9 in der Menschenweihehandlung. Schaffe ich es, immer inniger zu beten, nähere ich mich Gott. Und, wenn ich »Dein Wille geschehe« innig meine, dann schaffe ich es, meinen Willen mit Erkenntnis und Liebe zu durchdringen. So kann ich lebendiger Zeuge des göttlichen Weltenwillens werden.10
Schließlich bilden die sieben Stufen der Einweihung (wie sie E. Lenz nennt) den vierten Teil der Bergpredigt (Mt 6,16–34; 7,1–23). Die hier erläuterten sieben Elemente knüpfen unterschiedlich an Elemente der anderen drei Teile der Bergpredigt an. So z. B., wenn es heißt: »Verurteilt nicht, damit ihr nicht verurteilt werdet …« (Mt 7,1–5), werden wir erinnert an die Umstülpung des Gesetzes (aus dem zweiten Teil). Wenn das Gesetz nunmehr innere Moral wird und ich die Verantwortung für meine eigenen Handlungen übernehme, bedeutet dies einerseits, dass ich Richter über mich selbst und meine eigenen Taten sein soll. Andererseits heißt es auch, dass ich nicht Richter über andere oder ihre Taten sein darf.
Die Arbeit an jedem der vier Teile der Bergpredigt fordert uns anders heraus. Gelingt es mir, die Selbstreflexionen der Seligpreisungen konstruktiv durchzuführen, aktiviere ich die Seelenkräfte des Denkens, Fühlens und Wollens und bringe sie in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander. Verinnerliche ich das Gesetz so, dass es für mein Inneres Normalität wird, nähere ich mich in Denken, Fühlen und Wollen dem Göttlichen. Mit dem anschließenden Gebet bekräftige ich meine Aufrichte, d. h. die Ich-Gott-Richtung. Dann bin ich auf gutem Weg und wage es allmählich, mich an den Stufen der Einweihung zu messen. Die Arbeit an mir selbst wird es mir dereinst ermöglichen, im Verhältnis zu anderen Menschen Gerechtigkeit walten zu lassen und meinem Gegenüber im Wissen um seine Bedürfnisse (also mit Herzdenken) zu begegnen. Dieser Läuterungsprozess führt uns durch die Enge Pforte und ist sie zugleich (Mt 7,13–14).
Die Bereitschaft, an den Teilen dieses Hauses zu arbeiten, wird versinnbildlicht durch das Gleichnis vom verständigen Mann, der sein Haus auf Felsgrund baut, wo es nicht zerstört werden kann (Mt 7,24–27). Dieses Gleichnis steht am Schluss der Bergpredigt und nimmt das Bild vom Anfang wieder auf: Die Stadt wird am Berg gebaut, damit sie sichtbar bleibt und ihr Licht ausstrahlen kann (Mt 5,14–16). Die Bergpredigt ist der Plan des Neuen Jerusalem, an dessen Bau ich arbeiten kann, um dereinst die heutigen Staats- und Gesellschaftsstrukturen abzulösen – aber im Inneren!
1 Neben Mäßigung, Tapferkeit und Weisheit.
2 Rudolf Steiner: Das Geheimnis des Todes, GA 159, Dornach 1980, S. 23.
3 Ebenda, S. 23.
4 Emil Bock: Das Evangelium. Betrachtungen zum Neuen Testament, Stuttgart 1995, S. 138.
5 Ebenda, S. 138.
6 Vgl. Ausführungen zum Herzdenken bei AnthroWiki mit Referenz zu GA 217.
7 Rudolf Steiner: Über die astrale Welt und das Devachan, GA 88, Dornach 1999, S. 85.
8 Diese Unterteilung entspricht einem Vorschlag von Eduard Lenz. Siehe: Eduard Lenz: Die Bergpredigt. Drei Vorträge gehalten im April 1933 in der Christengemeinschaft Prag, Stuttgart 1982.
9 E. Lenz stellt diese Verbindung fest: Seligpreisungen= Liturgie; Gesetzesanforderungen= Opferung; Vaterunser=Umwandlung; Stufen der Einweihung= Kommunion.
10 Ebenda, S. 37.
Karin Grossmann, 1965, Juristin und Studentin am Hamburger Priesterseminar, Schönenwerd/Schweiz