Gnade und Segen
Gnade und Segen – in den Tagen vor Weihnachten werden gerade diese beiden Worte fast inflationär gebraucht: »Gottes Segen und ein gnadenreiches Fest«, so steht es auf unzähligen Gruß-Karten zum Weihnachtsfest, aber auch zu anderen Anlässen. Ja, diese beiden Worte gehören nicht nur zu unserem religiösen Wortschatz, sie sind in der Tat zentrale biblische Begriffe und haben als solche Theologie und Frömmigkeit von jeher mitgeprägt, insbesondere haben sie in der theologischen Auseinandersetzung in der Reformation Gewicht gehabt.
Dieses Heft wirft auf vielfältige Weise einen Blick auf diese beiden Begriffe. Auch ich schaue auf dieses Wort-Paar, erwähne zunächst aber eine Äußerung, mit der ein Theologe seinen geistlichen Vortrag begann: »Glaube, Liebe, Hoffnung, Gnade und Segen – wir Christen gebrauchen diese Worte unentwegt, und die Leute wollen nur ein Eis«. Was er uns sagen oder eigentlich fragen wollte, liegt auf der Hand. Verstehen unsere Zeitgenossen noch unsere innerkirchliche Sprache? Können sie mit religiösen Begriffen, die sich unserem allgemeinen Sprachgebrauch entzogen haben, noch etwas anfangen? Sind sie noch willens, sich theoretisch mit etwas, was vermeintlich mit ihrem Leben nichts zu tun hat, zu befassen, oder suchen sie nicht vielmehr etwas Handfestes – ein Eis, das man in Händen halten, dass man schmecken und genießen kann?
Also machen wir uns ans Übersetzen. Mit »Übersetzen« meine ich nicht nur das Handwerk eines Theologen, der mit Sprachen ständigen Umgang pflegt, sondern einen Vorgang, der uns alle betrifft: Übersetzen hilft uns, nicht bei uns zu bleiben. Es kann für den, der seine Sprache gefunden hat, beim Selbstgespräch bleiben. Oder wir über-setzen ans andere Ufer, zum anderen Menschen. Wir hören auf, nur die eigene Sicht, eigene Standpunkte oder Besitztümer zu verteidigen. Diese Metapher vom Über-setzen zieht sich im Hintergrund durch meine Gedanken zum Thema »Gnade und Segen«.
Das griechische Wort für Gnade (charis) ist vom gleichen Wortstamm gebildet wie die Wörter Freude, sich freuen (chara, chairein). Die Freude kommt aus der Gnade. Was ist Gnade? Diese Frage drängt sich uns auf. Wir haben in unserem religiösen Denken diesen Begriff wohl allzu sehr verdinglicht, Gnade als ein übernatürliches Etwas betrachtet, das wir in der Seele tragen. Und da wir davon nicht allzu viel oder gar nichts spüren, ist sie uns allmählich belanglos geworden, ein leeres Wort christlicher Sondersprache, das mit der gelebten Wirklichkeit unseres Alltags in keinem Verhältnis mehr zu stehen scheint. Friedrich Nietzsche, selbst in einem evangelischen Pfarrhaus aufgewachsen, sah sich zu einer Aussage veranlasst, die wohl diese Kluft bedrückend zur Sprache bringt: »Bessere Lieder müssten sie [die Christen] mir singen, erlöster müssten ihre Jünger aussehen, dass ich an ihren Erlöser glauben lerne.«1 Vielleicht könnten wir auch nur sagen: Fröhlicher müssten sie sein. Ein leeres Wort oder gelebter Alltag, gelebter Glaube?
Was ist Gnade? In Wirklichkeit ein Beziehungsbegriff: Sie sagt nicht etwas über eine Eigenschaft eines Ich aus, sondern über einen Zusammenhang von Ich und Du, von Gott und Mensch. Ein begnadeter Mensch ist deshalb einer, der ganz aus und in der Beziehung mit Gott lebt; er ist ein hörender und betender Mensch, dessen Sinn und Seele wach sind für die vielfältigen, leisen Anrufe des lebendigen Gottes; er ist ein ganz auf Gott hin ausgestreckter Mensch und darum ein liebender Mensch – mit der Weite und Großmut wahrer Liebe, aber auch mit ihrer untrüglichen Fähigkeit des Unterscheidens und mit der Bereitschaft des Leidens, die in der Liebe ist.
»Ich mag dich leiden!« – Gottes leidenschaftliche Liebe entfesselt unsere Leidenschaft. Ein Blick auf das Kreuz vermittelt uns das Vertrauen in die Gestalt dessen, der leidenschaftlich liebt. Das Kreuz ist das Zeichen seiner Liebe und das Zeichen des Menschen. Wir werden gesegnet im Zeichen des Kreuzes.
Das deutsche Wort segnen ist abgeleitet von dem lateinischen Wort signare, das heißt: bezeichnen, und zwar mit dem Zeichen des Kreuzes: signare cruce. Wer Gott begegnet ist in seiner Liebe, die sich im und am Kreuz gezeigt hat, ist »gezeichnet« durch diese Begegnung, er trägt das Kreuz mit, aber er ist eben dadurch mit Gott verbunden, mit Gott in einer tieferen Beziehung und Gott mit ihm. Er ist mit dem Namen Gottes gezeichnet, und diese signatio gibt seinem Leben einen unverwechselbaren Tiefgang. Und weil das Kreuz Christi ein für allemal das Zeichen seiner Liebe ist, darum ist diese signatio crucis das glaubwürdige und wirksame Symbol dieser Segensfrucht.
Gnade und Segen gehören zusammen wie Weihnachten und der Osterdurchgang. Krippe und Kreuz sind aus demselben Holz. In diesem Sinne wünsche ich: »Gottes Segen und eine gnadenvolle Zeit.«
1 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Bd. 2, Chemnitz 1883.
Karl Schultz, geboren 1957, katholischer Priester, Hamburg