Kirchenfreies Christentum (XI) Alltägliche religiöse Praxis: Rituale priesterlichen Lebens
Die gegenwärtige Krise des Christentums scheint mir vornehmlich eine Krise der Kirche in ihrem Selbstverständnis als Organisatorin religiöser Praxis zu sein. Nicht nur das Vorgeben kirchlicher Lehren für Denken und Glauben, sondern auch eine gottesdienstliche Praxis, in der den Gläubigen überwiegend eine Konsumentenrolle zukommt, geht an der zeitgemäßen Frage vorbei: Wie können Glaube und religiöse Initiative aus der priesterlichen Kraft jedes einzelnen Christenmenschen hervorgehen? Kirche wäre demnach nicht mehr der vorgegebene Ort, dem sich Christen mit ihrem Denken, Empfinden und Handeln ein- und unterordnen, sondern ein freier Platz, an dem sich die Potenziale der Glaubenden erst zu christlicher Gemeinschaft zusammenfügen. Die Beiträge dieser Artikelserie möchten dem Entdecken und Aktivieren religiöser Kompetenzen im Alltag dienen, die als Grundlage einer christlichen Gemeinschaftsbildung aus dem Individuum verstanden werden können.
Der Wandlung entgegen
Im Christentum spielen die Begriffe Glauben und Bekennen eine zentrale Rolle. Geht es beim Glauben vornehmlich um die wahrnehmende und auf religiöse Verbindung gerichtete Kraft des Menschen, der in Gebet, Besinnung und Meditation Schritte unternimmt, Gott nahezukommen, so wird im Bekennen die andere Richtung gesucht: Aus seiner Verbundenheit mit Gott wendet sich der Christ aktiv der Welt und den Menschen zu. In seinem Sprechen und Handeln lebt eine priesterliche Haltung, mit der er dem Gotteswort und dessen schöpferischem Wirken dient. Der mystischen Seite gläubiger Verinnerlichung gesellt sich eine andere, auf die Wandlung irdischer Verhältnisse gerichtete Seite religiösen Strebens hinzu. Als Vorbild zu diesem Anteil kann der Weg Christi in die Menschwerdung angenommen werden. Die Nachfolge Christi muss aus einer tiefen Beziehung zum Göttlichen gesucht werden, dazu kommt die Herausforderung, auch Widerstände und Leiden anzunehmen, deren Ursachen in menschlicher Unvollkommenheit liegen. Gründet sich der Glaube auf das Innenleben des Einzelnen, so wendet dieser sich mit den Äußerungen tätiger Bekenntnisse auch den Weggefährten zu. Die Gemeinschaft der Christen kommt in den Blick. Der im Vorspann dieser Artikelserie erwähnten aktuellen Krise der Kirche als Organisatorin religiöser Vollzüge steht das Ideal einer Gemeinschaft als religiöser Initiative gegenüber, das aus dem bewusst geführten Willen der Einzelnen gespeist wird. Das Wirken Christi auf der Erde zielt darauf, dass »alle Völker« (Mt 28,19) zu Aposteln werden. Diese weltumspannende Größe stand denen vor Augen, die von der einen Kirche Christi gesprochen haben, der alle Menschen angehören können.
Eine Begebenheit im Neuen Testament zeigt urbildlich, wie sich zwei Menschen aus ihrer eigenen religiösen Sehnsucht in der Erwartung des Heils radikal umwenden. Sie geben sich in einer Weise selbst auf, indem sie einem anderen Raum geben: Christus selbst, der als der erwartete Retter eben in die Welt getreten ist. In ihren Worten und Taten spricht sich aus, dass sie das neugeborene Kind, um das es geht, nicht nur in seiner Zukunftsgestalt erkennen, sondern dass sie dessen Wirken tätig dienen wollen, indem sie sich selbst opfern. Die Rede ist von Simeon und Hanna, die nach der sogenannten »Darstellung« Jesu im Tempel, also nachdem die hebräischen Gesetze bereits erfüllt sind, in einem bescheidenen und stillen priesterlichen Akt zu Dienern des in die Welt kommenden Christentums werden. Maria und Joseph trugen Jesus zum Tempel und erfüllten damit das Gesetz, dass alle männliche Erstgeburt Gott geweiht sein sollte (2 Mose 13,2). Simeon bemerkt in seiner Rede, dass sich diese Weihe im Sinne eines weltumspannenden Bogens auf »alle Völker« auswirken soll: Und siehe, ein Mann war in Jerusalem, mit Namen Simeon; und dieser Mann war gerecht und gottesfürchtig; und er erwartete den Trost Israels; und der Heilige Geist war auf ihm. Und es war ihm vom Heiligen Geist geweissagt worden, dass er den Tod nicht sehen werde, ehe er den Christus des Herrn gesehen habe. Und er kam im Geiste in den Tempel. Und nachdem die Eltern das Kind Jesus hereinbrachten, um mit ihm nach der Gewohnheit des Gesetzes zu handeln, nahm auch er es in seine Arme und pries Gott und sprach: Jetzt entlässt du deinen Knecht, Herr, nach deinem Wort in Frieden; denn meine Augen haben dein Heil gesehen, das du bereitet hast vor dem Angesicht aller Völker: ein Licht zur Offenbarung für die Völker und zur Verherrlichung deines Volkes Israel (Lk 2,25–32).
Der greise Simeon sieht sein Lebensziel in diesem Augenblick der Begegnung mit der Zukunft erfüllt und dankt Gott dafür, dass er nun »in Frieden« sterben darf und in den Tod entlassen wird. Wer opfert, gibt nicht nur eine Gabe, sondern zugleich sich selbst im Geben seinem Gott hin. So wird auch Christus nicht nur die gebotenen Opfergaben, sondern sich selbst am Kreuz opfern. Die Eltern Jesu ahnen wohl etwas von diesem Wandel im religiösen Grundverständnis: Und sein Vater und seine Mutter wunderten sich über das, was über ihn geredet wurde. Und Simeon segnete sie und sprach zu Maria, seiner Mutter: Siehe, dieser ist gesetzt zu Fall und Aufstehen vieler in Israel und zu einem Zeichen, das Widerspruch finden wird – aber auch deine eigene Seele wird ein Schwert durchdringen –, damit Gedanken aus vielen Herzen offenbar werden (Lk 2,33–35). Maria wird darauf hingewiesen, dass sich der Widerspruch, den Christus finden wird, auch auf sie selbst beziehen wird. Nicht nur Gabe, sondern Aufgabe, die sich in dem rätselhaften Wort der »Gedanken aus vielen Herzen« andeutet. Nach den Worten Simeons tritt die betagte Prophetin Hanna ebenfalls hinzu: Und es war Hanna, eine Prophetin, eine Tochter Phanuëls, aus dem Stamm Asser. Diese war in ihren Tagen weit vorgerückt; sie hatte sieben Jahre mit ihrem Mann gelebt seit ihrer Mädchenzeit; und sie war eine Witwe von vierundachtzig Jahren, die sich nicht vom Tempel entfernte und Gott diente Nacht und Tag mit Fasten und Beten. Und sie trat zur selben Stunde hinzu, pries Gott und sprach über ihn zu allen, die die Erlösung Jerusalems erwarteten (Lk 2,36–38).
Hingabe und Opferbereitschaft
In den Gestalten der beiden Alten im Tempel zu Jerusalem ist die doppelte Gebärde des Opferns zu erkennen: Das Leben in der Hingabe muss bereit sein, sich selbst preiszugeben. Dieser Akt lässt sich gleichermaßen in der Schöpfung und in der Hingabe Christi in seinem Opfer als dem Beginn einer neuen Schöpfung wiederfinden. Werden und Wandlung, »Substantiation« und Transsubstantiation. Diesen göttlichen Schöpfergebärden nähert sich der Mensch an, der sich im Bekennen selbst hingibt. Rudolf Steiner schrieb 1913 in seinem Buch Die Schwelle der geistigen Welt, welche Entwicklung das Ich-Gefühl und die Liebefähigkeit des Menschen im Verhältnis zu den Vorgängen und Wesen übersinnlicher Welten zu nehmen habe: »Um in diesen Welten bewusst zu leben, ist nämlich ein Trieb der Seele notwendig, welcher in der Sinneswelt nicht in der Stärke zur Entfaltung kommen kann, in welcher er in den übersinnlichen Welten auftritt. Es ist der Trieb der Hingabe an dasjenige, was man erlebt. Man muss in dem Erlebnis untertauchen, man muss eins mit ihm werden können; man muss dies bis zu einem solchen Grade können, dass man sich außerhalb seiner eigenen Wesenheit erschaut und in der anderen Wesenheit drinnen fühlt. Es findet eine Verwandlung der eigenen Wesenheit in die andere statt, mit welcher man das Erlebnis hat. (…) Dieses Sich-Umwandeln, dieses Einfühlen in andere Wesenheiten ist das Leben in den übersinnlichen Welten.«1 Eine solche Kultivierung der Hingabe kann nicht nur als Schlüssel zur Erkenntnis geistiger Wahrheiten und übersinnlicher Wesen gelten, sondern zugleich als Grundlage religiöser Erfahrung und christlicher Lebensführung, mithin für das Leben in Gott ebenso wie für das Zusammenleben unter Christenmenschen.
Ende und Anfang
Für Simeon ist das Lebensende mit seiner Christus-Schau schon in der Weissagung des Heiligen Geistes verbunden: Er werde den Tod nicht sehen, ehe er den Christus des Herrn gesehen habe. Der Hinweis auf diese seltsame Verbindung von Ende und Anfang kann auch ein Hinweis darauf sein, dass sich Glaube und Bekenntnis nicht geradlinig auseinander entwickeln müssen, sondern dass das eine dem anderen aufhelfen kann. Wie auch in der Liebe, kann in der Religion der Hingabe das Opfer und dem Opfer die Hingabe folgen: Glaube wird Bekenntnis und dieses wieder Glaube. Als Alltagsritual kann dies mit einer einfachen Hingabe-Übung erlebt werden: Will ich mich einem Vorgang oder einem Wesen ganz hingeben, muss ich zuvor für die vielen anderen Dinge, die mich beschäftigen könnten, ein Ende finden. Wende ich mich für eine Zeit etwa der Betrachtung einer Wolke zu, muss ich zuvor für alle anderen Wahrnehmungsoptionen, die zur selben Zeit bestehen, durch einen zarten Tod gehen. Ich beginne mit einem opfernden Beiseite-Lassen, bevor ich zur wirklichen Hingabe komme. Da ich mich nach Steiner aber auch in der Hingabe selbst zu verlieren habe, bevor ich Wandlung erfahre, gehe ich wieder auf die Opferseite – und von dort in einen neuen Atemzug der Hingabe.
Solche Übungen sind für sehr viele Menschen in der gegenwärtigen Zeit beinahe ein Dauerzustand. Der Strom der auf mich einstürzenden Wahrnehmungsangebote durch beschleunigte Zeiten und rasche Wechsel des Ortes machen es nötig, dass ich Auszeiten nehme, um mich gezielt auf das einzulassen, was ich mir auswähle. Die Frage ist dabei, ob ich stets beides im Auge behalten kann: Was lasse ich konkret weg, um mich aktiv und ausschließlich einer bestimmten Wahrnehmungsbegegnung zu überlassen? Es geht um den Muskel, der mit Entschiedenheit Nein sagt, um ebenso entschieden Ja sagen zu können. Gelingt es, diese Doppelbewegungen als religiöse Grundmethode in den Ablauf des Alltags aufzunehmen, kommt in der Kultur von Ende und Anfang immer wieder Neues in die Welt. Wie bei Simeon und Hanna wird darin priesterliches Leben fruchtbar für die ganze Menschengemeinschaft.
1 Rudolf Steiner: Die Schwelle der geistigen Welt, GA 17, Dornach 1987, S. 54.
Ulrich Meier, geboren 1960, Priester, Hamburg