Vorsätzliche Entwicklung

AutorIn: Alexander Capistran

Vor den Sätzen kommen die Vorsätze. Ein Satz hat Gültigkeit, er steht für sich, kann auf Wahrheit und Falschheit überprüft werden, er entfaltet seine Wirkung, sei es ein »Ich möchte dich heiraten« oder ein »Hiermit schließe ich das Kaffeekapsel-Abo auf Lebenszeit ab«. Wenn Sätze wie Erwachsene sind, sind Vorsätze wie ihre ungezogenen Kinder: noch nicht ganz für voll zu nehmen, weniger verbindlich, und manchmal etwas listig. Das muss aber nicht so sein. Wir können aus der vermeintlichen Schwäche der Vorsätze oder besser der Menschen, die sie sich vornehmen, Wunderbares bergen und sie aktiv für unsere Entwicklung nutzen.
Vorsätze sind den meisten Menschen nur um den Jahreswechsel herum ein Begriff: Etwas ­Regelmäßiges, meist Vernünftiges, was man sich vornimmt, ist ein Vorsatz: gesünder leben, Rauchen aufgeben, mehr Sport treiben. Oft bleiben dann Vorsätze im Zwielicht der ­Gewissensbisse. Wir wollen hingegen das Gegenteil ­behaupten: Jeder ernsthaft an Selbstentwicklung oder Selbst­schulung Interessierte kommt um Vorsätze nicht herum. In ihnen drückt sich der Wille aus; sie sind eines seiner besten Instrumente. Manchmal sind sie aber das Perfideste aus der Trickkiste des inneren Schweinehunds.
Persönlich habe ich viel mit Vorsätzen experimentiert im Laufe meiner Selbstformung. Nach dem Abitur wollte ich die Orientierungslosigkeit durch übertriebenen Aktionismus wett­machen und absolvierte jeden Tag fünfzig Liegestütze. Mit dem Resultat, dass ich mir nach wenigen Wochen eiserner Disziplin eine Sehnenscheidenentzündung zuzog, die das Projekt erst einmal beendete. Seit einigen Jahren mache ich jeden Tag fünfzig Liegestütze. Manchmal reicht etwas mehr Zeit auf dem Erdenrund und schon ge­lingen auch bereits gescheiterte Vorsätze. Nicht zufällig begann ich um die 28er-Schwelle herum begeistert mit Willensübungen, die meine Persönlichkeit in dieser Zeit sehr formten und festigten. Am Schwersten von allen Vorsatz-Experimenten war für mich die Pünktlichkeitsübung: für einen Monat bei jedem Termin, jeder noch so kleinen Sache, pünktlich zu sein. Es mag Typen geben, für die das keine Herausforderung sein mag, bei zehn bis zwanzig Terminen pro Tag, seien es Seminare, Verabredungen, Freizeittreffen immer pünktlich zu sein, war kein Leichtes für mich. Diese Wochen fühlten sich an, als wäre ich mit der Uhrzeit zusammen, aber mein Verhältnis zu Zeit, Zeiteinteilung und Pünktlichkeit hat sich durch sie nachhaltig verbessert. Besonders eindrücklich waren die vier Elemente-Routinen: Jeden Tag für mehrere Jahre widmete ich jedem der vier Elemente eine kleine Tätigkeit. Für Feuer war es der Vorsatz, jeden Tag einmal kräftig zu schwitzen, zum Beispiel durch die erwähnten 50 Liegestütze oder durch Sauna. Wasser wurde metaphorisch durch einen Tanz repräsentiert, es waren ­unzählige Lieder, die mir in dieser Zeit halfen, in den Fluss zu kommen. Oft tanzte ich auch barfuß und verband so das leidlich Angenehme mit dem Nütz­lichen, schließlich war ein Vorsatz, einmal täglich barfuß die Erde zu berühren – für die Stärkung des Erdelements natürlich. Luft wurde wieder metaphorisch verstanden, statt einer sicherlich sinnvollen Atemübung verstand ich das Element eher als »Inspiration«. Meine Routine dafür war das Freestyle-Rappen: mindestens eine Lieddauer lang wie ein Hip-Hop-Sänger einen Sprechreim zu improvisieren. Ich denke schon, dass mich diese Routinen stärker mit den Elementen verbanden, viel wichtiger war aber der Selbstwirksamkeitsbeweis des freien Willens.
Jeder Vorsatz hat seine Zeit. Biographisch kom­men Vorsätze zunächst von außen auf das Kind zu, die Eltern und die Umgebung setzen sie ihm im wahrsten Sinne des Wortes vor, die innerliche Reflexion ist noch nicht sehr ausgeprägt. Sie werden wieder relevanter wenn die 28er-Schwelle naht, hier können sie als Willensstärkung die sanguinischen Rudimente überwinden helfen. In ihrer puren, einfachen Form, wie sie aus Rudolf Steiners Nebenübungen vielleicht bekannt ist, werden Willensvorsätze hier besonders wirksam: Jeden Tag zu einer bestimmten Zeit ein Streichholz entzünden, jeden Tag um 4 Uhr morgens aufstehen? Smartphones zu bestimmten Zeiten nicht benutzen? Das schult die Selbstverantwortung in einer Lebensphase, in der einem gesellschaftliche und andere Engel mehr und mehr den Rückenwind versagen. Wird der Mensch älter und hoffentlich selbstloser, können Vorsätze eine tiefere Bedeutung bekommen, die über einfache Anweisungen und moralische Vorschriften hin­ausgeht. Vorsätze können dann zu Tugenden oder meditativen Mantras werden: Ich möchte immer aufrichtig und wahrhaftig sein, ich will gelassen durchs Leben gehen, ich werde mit ­innerer Dankbarkeit und Demut durch den Tag gehen. So können Vorsätze die eigene Reifung und Entwicklung stimulieren, wenn sie auf den fruchtbaren Boden eines offenen Ichs fallen.
Sätze bilden den sichtbaren Teil der Sprache. Vorsätze sind das Dahinterliegende, verweisen auf einen geistigen imaginativen Gehalt, sie sind gewissermaßen unsichtbar, das Geistige hinter einem Verhalten. Zu Vorsätzen in diesem ausgezeichneten Sinn kommt man durch Nachdenken. Wir machen Erfahrungen, probieren im Leben vieles aus. Im Nachhinein reflektieren wir unser Tun. Dieses Nachdenken führt gewissermaßen zu »Nachsätzen«. Das kann zum Beispiel sein: Ich müsste mehr Sport machen, wenn ich weiterhin so viel sitze oder auch »Mein Mangel an Selbstsicherheit und Anerkennung wird in Verbitterung umschlagen, wenn ich nichts dagegen unternehme«. Richtet sich der Wille dann konkret auf die Gestaltung der Zukunft aus, kommen Vorsätze ins Spiel, werden die Nachsätze zu Vorsätzen. Besonders motivierend wirken dabei Vorbilder. Das sind Menschen, die unsere Vorsätze schon gekonnt verkörpern, sie sind personifizierte Vorsatzbündel. Sätze, Nachsätze und Vorsätze formen eine Art innere Architektur unseres Denkens und Handelns. Während Sätze das Greifbare und Gegenwärtige benennen, sind Nachsätze wie ein Kompass, der durch Reflexion die Richtung aus vergangenen Erfahrungen ableitet. Vorsätze hingegen verwandeln Erkenntnis in Intention.
Dieser spielerische Ernst im Umgang mit Worten und Silben erinnert an den Philosophen Martin Heidegger. Was hätte er wohl zum Thema Vorsätze zu sagen gehabt?
Für Heidegger ist Sprache »das Haus des Seins«, das Medium, in dem sich das Sein selbst enthüllt. Aber das Vorsprachliche, beziehungsweise Vorsätzliche, bekommt bei ihm eine besondere Bedeutung: Schon von den ersten Atemzügen und Gehversuchen her haben wir ein erstes Weltverständnis, weil wir intuitiv Dinge verstehen und uns mitteilen. Freilich sind die ersten Tastversuche in dieser Welt noch ­keine bewussten Vorsätze, aber sie sind doch ein Verstehen der Welt, folgen gewissen Gesetzmäßigkeiten, seien es menschliche Liebe oder die Schwerkraft. Das sind also die impliziten Vorsätze, die noch vor den eigentlichen Vorsätzen kommen. Schon vom ersten Moment an lassen sich Vorsätze mit Heidegger als bewusste Entwürfe des Menschen denken: Ich entwerfe mich auf eine bestimmte Möglichkeit in der Zukunft hin, indem ich Vorsätze fasse und beherzige. Der kleinere Teil des Eisbergs der Sprache wird durch Sätze gebildet, Vor- und Nachsätze bilden den weit größeren, unsichtbaren, unterbewussten Teil, der die Sprache und das Leben so reich und tiefgründig macht. Lenken wir unser Bewusstsein auf Vorsätze, können wir uns ganz anders und viel umfassender entwickeln, als wenn wir nur äußeren Zielvorgaben hinterherjagen.

Im Ergebnis zeigt sich: Es kann sich lohnen, Vorsätze zu fassen. Nach der Besinnung auf das wesentliche Potenzial von Vorsätzen, wie wir sie hier vorgestellt haben, kann auch ein ganz einfacher Neujahrsvorsatz seine Wirkung entfalten. Die Frage bleibt nur: Welchen Vorsatz werden Sie sich vornehmen? Vielleicht ja, einmal ein Heidegger-Buch durchzuackern.

Alexander ­Capistran, geboren 1990, ­Philosoph, Königstein