Wozu überhaupt Religion? (Teil 1) Ein geistiges Wesen wahrnehmen
In Bezug auf Religion finden wir uns heute in einer paradoxen Situation: Einerseits nimmt die öffentliche Bedeutung von Religion im gesellschaftlichen und politischen Leben des Abendlandes immer mehr ab. Andererseits scheint der Einfluss von Religion, besonders der extremen und fundamentalistischen Richtungen der verschiedenen Religionen auf die Weltpolitik immer mehr zuzunehmen. Auf der einen Seite gehen die Mitgliederzahlen der großen Kirchen kontinuierlich zurück, die katholische Kirche leidet unter akutem Priestermangel, und Kirchen werden abgerissen oder umgewidmet, auf der anderen Seite stellen die Soziologen eine neu erwachte Religiosität und Spiritualität in der Bevölkerung fest. Religion ist in unserer von Naturwissenschaft und Technik geprägten Zivilisation wieder ein Thema, nachdem sie lange Zeit tabuisiert worden war wie früher die Sexualität. In unserem wissenschaftlichen Denken, das nur Sinnlich-Materielles als Wirklichkeit anerkennen kann, hat Religion keinen Platz, gehört aber zunehmend wieder als Element persönlicher »Wellness«, als Verschönerung sozialer Anlässe (Taufen und Trauungen) zum Leben dazu. Aber wissen wir überhaupt was Religion ist, warum es sie gibt und was ihre eigentliche Funktion für den Menschen und die Gesellschaft ist?
Was ist Religion?
Zunächst kann man sagen, dass Religion ein Ur-Phänomen in der Menschheitsgeschichte ist. Schon in der Altsteinzeit, vor 400.000 Jahren, haben Jäger die Schädel der von ihnen erlegten Wildpferde mitsamt einer Reihe kostbarer, selbst gefertigter Jagdspeere kultisch niedergelegt, um die Seelen und Geister der getöteten Tiere durch dieses Opfer zu besänftigen, sozusagen um Verzeihung zu bitten. So jedenfalls werden die spektakulären Funde von Schöningen am Elm gedeutet. Schon in dieser Tatsache tritt uns die innere Dynamik jeder Religion entgegen: Der Mensch wendet sich einzeln oder in Gemeinschaft tätig − in Gebet und Kultus − geistigen, übersinnlichen Wesen zu, deren Existenz ihm gewiss ist, ob er sie wahrnehmen kann oder lediglich ein Gefühl ihres Daseins in sich trägt, um sich zu diesen Wesen, von denen er sich abhängig weiß, in ein positives Verhältnis zu setzen. Dieses Gefühl für die Existenz geistiger Wesen (Götter) nennen wir Glaube.
Untersuchungen an Kindern haben gezeigt, dass diese in einer bestimmten Entwicklungsphase ganz selbstverständlich in der Überzeugung leben, dass alle Dinge und Wesen um sie herum nicht nur belebt, sondern auch beseelt sind. Für sie ist es ganz selbstverständlich, dass es Zwerge und Feen, Engel und Geister gibt, solange man ihnen diese Überzeugung nicht auszureden versucht. So war es in der Menschheitsgeschichte durch Jahrtausende auch für die Erwachsenen. Und dieser »Glaube«, diese Überzeugung wurde genährt und gestärkt durch Menschen, die von sich sagten, dass sie solche Wesen gesehen und gesprochen hätten. Man nannte sie Propheten oder Seher, Eingeweihte oder Adepten, Schamanen oder Medizinmänner. Sie schilderten den Menschen diese Götter und ihre Wirksamkeit, so dass sie dadurch Vorstellungen und Empfindungen von deren Wesen bekamen. Diese Schilderungen sind uns in vielen Mythen und ganzen Mythologien überliefert. Die größten dieser besonderen Menschen wurden zu Stiftern von Religionen: Krishna, Buddha, Hermes, Moses, Jesus und Mohammed. Sie sprachen den Menschen von diesen geistigen Wesen oder Göttern und übermittelten ihnen ihre Gebote und die Formen (Gebete, Opferhandlungen, Rituale), durch die sie sich mit diesen Wesen verbinden konnten. Dies gilt für alle Religionen, unabhängig davon, ob es sich um eine Naturreligion, eine Ahnenreligion, um eine polytheistische oder monotheistische Religion handelt.
Ein historisches Beispiel für wirksame Religion
Für die meisten Menschen war es selbstverständlich, dass nicht nur der Mensch, sondern die ganze Natur von diesen Wesen geschaffen ist und dass sie fortwährend weiter in der Natur, im Menschen und in der Geschichte wirken. Noch in der beginnenden Neuzeit, im 15. Jahrhundert trat mit Johanna von Orleans ein achtzehnjähriges Bauernmädchen aus Lothringen beim Dauphin von Frankreich auf und sagte, sie habe den Auftrag des Erzengels Michael und der heiligen Katharina, an der Spitze eines Heeres gegen die Engländer zu kämpfen, um Frankreich zu befreien und ihm die Königswürde zu ermöglichen. Für die damalige Menschheit war nicht die Frage, ob sie die Begegnung mit einem geistigen Wesens gehabt und einen Auftrag von ihm erhalten habe oder nicht, sondern lediglich, ob dieser Auftrag von einem dämonischen oder einem göttlichen Wesen stamme, also vom Teufel oder von Gott oder seinem Boten. Nach eingehenden Untersuchungen durch Theologen vertraute der künftige König Soldaten ihrer Führung an. Und wie bekannt, konnte sie Orleans befreien und ermöglichte ihm die Krönung zum französischen König in Reims. Dieses Ereignis ist historisch so gut belegt, dass es auch vom naturwissenschaftlichen Denken nicht bezweifelt werden kann und hat die europäische Geschichte tiefgreifend geprägt.
Der Verlust von Religion in der Neuzeit
Erst das Heraufkommen der Naturwissenschaft, die die Naturerscheinungen nicht mehr als Taten von Göttern, sondern als Folge abstrakter Naturgesetze beschrieb, und das Abnehmen hellsichtiger Fähigkeiten, die einst weit verbreitet waren, und die Entlarvung von traditionellen Vorstellungen über die Natur, die von der Kirche als unerschütterliche Wahrheit hochgehalten wurden, als Irrtümer (die Erde ist eine Scheibe und die Sonne dreht sich um sie), führten zu einem zunehmenden Vertrauensverlust in die Religion und die religiösen Institutionen. In den letzten beiden Jahrhunderten kam hinzu, dass die naturwissenschaftlichen Anschauungen und Denkweisen eine ungeheure Überzeugungskraft gewannen durch das Funktionieren ihrer technischen Anwendungen. Immer mehr Fragen und Rätsel, die man früher mit dem Wirken geistiger Wesen beantwortet hatte, wurden von der Naturwissenschaft beantwortet und gelöst. Wie und wo konnte da das Dasein und Wirken von geistigen Wesen noch erlebt werden? Religion wurde als einem naiven und kindlichen Stadium der Menschheit zugehörig oder gar als Beruhigungsmittel der Seelen (Opium fürs Volk) angesehen. Friedrich Nietzsche erklärte: »Gott ist tot«, und seit dem Holocaust im 20. Jahrhundert ist es für viele Menschen eine ausgemachte Tatsache, dass es den »gütigen, allmächtigen Gott«, der solche Untaten zulässt, nicht geben kann.
Neue Religiosität und Spiritualität
Trotz alledem gibt es in den allermeisten Menschenseelen Religiosität, das heißt das Gefühl, dass die materielle und sinnliche Welt nicht die einzige Wirklichkeit ist, dass es eine Realität gibt, die sich der Erfassung durch naturwissenschaftliche Methoden entzieht. Von diesem Gefühl ist all das getragen, was sich in der »neuen Spiritualität« und »Esoterik« an Erscheinungen zeigt. Aber lässt sich dieses Gefühl, dass es eine spirituelle Realität gibt, vor unserem denkenden Bewusstsein rechtfertigen, oder muss es als eine Art »Naturschutzgebiet der Seele« mit rein subjektivem Charakter ohne eine objektive Bedeutung betrachtet und behandelt werden? Wie muss die moderne, zeitgemäße Grundfrage bezüglich der Religion lauten, die für Luther noch hieß: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?
Die moderne Grundfrage der Religion
Da es in jeder Religion darum geht, sich als Mensch und Menschengemeinschaft in Beziehung zu einem oder mehreren geistigen Wesen zu setzen und weil es kein Vertrauen mehr in die Überlieferung von Erlebnissen geistiger Wesen durch Eingeweihte oder Religionsstifter gibt, kann die erste Grundfrage bezüglich der Religion nur sein: Wie komme ich dazu, das Dasein geistiger Wesen als eine Tatsache anzusehen und anzuerkennen? Keine Institution und kein anderer Mensch kann in mir die Evidenz bewirken, dass es solche Wesen gibt. Ich kann mich nur selber dazu auf den Weg machen.
Für Menschen, die ein Nahtoderlebnis gehabt haben, ist es keine Frage, ob sie selbst ein geistiges Wesen sind, das − wenigstens in Ausnahmesituationen − unabhängig vom Leibe real ist und Bewusstsein haben kann, auch wenn dieses Wesen mit den leiblichen Sinnen nicht wahrnehmbar ist. Die meisten von ihnen erleben auch andere geistige Wesen, deren Existenz ihnen von diesem Erlebnis an gewiss ist. Aber wie steht es mit uns »normalen Menschen«, die kein solches Erlebnis hatten? Haben wir keine Möglichkeit, ein geistiges Wesen wahrzunehmen?
Eine mögliche Antwort auf diese Frage
Es gibt ein geistiges Wesen, das jeder Mensch als wirklich und damit als wirksam beobachten kann: das eigene Ich, das Zentrum und der Aufmerksamkeitsmittelpunkt unserer Seele. Seine Tätigkeit können wir in uns selber beobachten, denn es ist jeden Tag in unserem wachen Leben wirksam. Wir brauchen uns nur zu vergegenwärtigen, dass wir die Fähigkeit haben, ohne jeden äußeren Anlass und ohne jeden aus dem Leibe kommenden Antrieb unsere Wahrnehmungsorgane bewusst auf etwas zu richten: Ohne sinnlichen Reiz von außen können wir uns ganz willkürlich vornehmen, unseren Blick in eine andere Richtung, auf einen anderen Gegenstand zu lenken. Wir können uns auf Geräusche konzentrieren und ihnen nachlauschen, die im Alltag unbewusst an uns vorüberziehen. Ebenso können wir willkürlich unsere Vorstellungen verändern: in einem Moment können wir uns als Mitteleuropäer vorstellen, in der Eiswüste der Arktis zu sein, wo wir frierend nur Schnee, Eis und grauen Himmel sehen. Und im nächsten Moment stellen wir uns einen heißen, dunstigen und dämmerigen tropischen Regenwald vor. Wir können uns mathematische oder philosophische Denkoperationen vornehmen und durchführen. Wir können es aber auch lassen. In alledem ist eine subtile Kraft unserer Seele wirksam, die wir unser Ich nennen können. Und wir können wahrnehmen, dass dieses »Ich« unabhängig sein kann von unseren Leibesvorgängen und Seelenregungen, weil es in dieselben lenkend und steuernd eingreifen kann. Sogar in unseren Willen, in unser Handeln kann dieses Ich eingreifen: wir können etwas tun, was von keinem äußeren Reiz oder Anlass, von keinem persönlichen Interesse angeregt wird und keinen unmittelbaren Sinn oder Zweck hat, zum Beispiel jeden Tag zur gleichen Zeit in unserem Zimmer an die Fensterscheibe klopfen. Auf dieser grundsätzlichen Fähigkeit beruht unser ganzes soziales Leben vom Lernen bis hin zur Strafjustiz, die nur gerechtfertigt ist, wenn wir annehmen, dass der Mensch fähig ist, aus eigener Verantwortung etwas zu tun oder zu lassen.
Im alltäglichen Leben übersehen wir diese Tätigkeit des Ich; wir blicken einfach irgendwohin, wir lauschen auf etwas, wir nehmen uns etwas vor, wir bewegen Vorstellungen und Gedanken und achten nicht auf den, der all dies tut − auf uns selbst. Und das ist auch nicht verwunderlich, denn unsere normalen Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken und Handlungen sind automatisch, unbewusst und von äußeren Reizen und inneren Antrieben verursacht und gesteuert. Der Anteil unserer Ich-gesteuerten Seelenregungen und Leibesbewegungen ist sehr klein. Aber es gibt sie und sie können vermehrt und gesteigert werden. Wesentlich ist aber für unseren Zusammenhang, dass wir unser eigenes Ich als geistiges Wesen betätigen und bei seiner Wirksamkeit beobachten können. Und da alles Wirksame auch wirklich ist, muss unser Ich selber wirklich sein. Von diesem Erlebnis und Gedanken aus ist kein großer Schritt nötig, um anzuerkennen, dass auch andere Menschen ein solches »Ich« haben und damit im innersten ein geistiges Wesen sind.
Es gibt für den normalen modernen Menschen kein Erlebnis, das ihn in gleicher Weise dahin führen kann, solche geistigen Wesen auch außerhalb des Menschen anzunehmen. Es zwingt uns nichts, die Existenz solcher Wesen anzuerkennen. Und doch taucht in den allermeisten Menschenseelen das Gefühl für die Existenz solcher Wesen, der »Glaube«, immer wieder auf. Woher kommt das?
Fortsetzung folgt in Heft 2/2025
Wolfgang Gädeke, geboren 1943, Priester, Kiel