Ein Wunder des Gelingens – Die Gründung der Christengemeinschaft und ihre Dokumentation

AutorIn: Christoph Führer

Ein Hinweis und eine Einladung möchten diese Zeilen sein. Ein Hinweis darauf, dass das bereits vor drei Jahren angekündigte und mit ausgewählten Abschnitten in dieser Zeitschrift präsentierte Werk über die Gründung der Christengemeinschaft nun tatsächlich erschienen ist. Und eine Einladung, lesend an dem Schicksalsdrama Anteil zu nehmen, das Wolfgang Gädeke in zwei Bänden auf fast 1.300 Seiten entfaltet.
Um es vorwegzunehmen: Mit Gädekes ­Arbeit liegt die bisher bedeutendste Dokumentation zur Entstehung der Christengemeinschaft vor. Sie wird ohne Zweifel für lange Zeit das Standardwerk über die spirituellen Grundlagen und organisatorischen Anfänge der Bewegung für re­ligiöse Erneuerung bleiben.1 Augenfällige Qua­litäten des Werkes stützen diese Gewissheit:

 

■ Der Autor verarbeitet eine große Zahl neuer Quellen.

Dies liegt zum einen an verbesserten Arbeitsbedingungen in den Dornacher Archiven und im Zentralarchiv der Christengemeinschaft, zum anderen an Materialien, welche die bisherigen Bestände in den letzten Jahren ergänzt haben, z.B. Notiz- und Tagebücher von Menschen, die am Gründungsgeschehen beteiligt waren, Lebenserinnerungen, Korrespondenzen und aus Steno­grammen in Langschrift übertragene Texte. Ausführliche Zitate und viele fotografisch wiedergegebene Dokumente (wie Flugblätter zur Erstinformation und Werbung) geben Einblick in altes und neues Material.

 

■ Wolfgang Gädeke beherrscht das Handwerk des Historikers souverän.

Das zeigt sich vor allem im differenzierten, ab­wägenden Umgang mit den Quellen. Deren Interpretation berücksichtigt den Kontext, die Voraussetzungen und Eigenarten der ­Verfasser und Adressaten und nicht zuletzt die Gattung der Texte: So ist ein persönlicher Brief in anderer Weise relevant als eine offizielle Flugschrift oder ein Protokoll. Viele Schilderungen gewinnen durch Empathie: Gädeke vermag es, sich auch in »schwierige« Individuen hineinzuversetzen und aus komplizierten Gemengelagen die Voraussetzungen und Motive ihres Denkens und Handelns zu erheben. Die Gewissenhaftigkeit des Autors erstreckt sich nicht nur auf die exakte Zeichnung der großen Linien, sondern auch auf vermeintliche Kleinigkeiten wie nicht korrekt wiedergegebene Fakten oder falsch er­innerte Daten; die Irrtümer werden durch Hinzuziehung anderer Dokumente korrigiert.

 

■ Das persönliche Engagement des Autors für sein Thema, die Liebe zur Sache sind durchgängig spürbar.

Er wird dadurch jedoch nicht zu Beschönigungen, Auslassungen oder falschen Rücksichten, sondern zu Offenheit, Klarheit in der Sache und wissenschaftlicher Sauberkeit veranlasst.
Inhaltlich schlägt Die Gründung der Christengemeinschaft einen weiten Bogen: Er beginnt mit Rudolf Steiners Weg zum Christentum und zur Religion und endet mit einem Das Wunder des Gelingens betitelten Epilog. Wie oft die entstehende Bewegung für religiöse Erneuerung dem Scheitern nahe war, macht Wolfgang ­Gädekes große Erzählung an vielen Stellen bewusst. Eine erste Hürde war die inflationsbedingt angespannte wirtschaftliche Lage in Deutschland. Dass sie überwunden werden konnte, ist vor allem dem realistischen Sinn Rudolf Steiners zu danken, der gegenüber den ökonomisch großenteils unbedarften Gründungswilligen energisch auf einer soliden finanziellen Grundlage bestand. (Schließlich widmete sich sogar der ehemalige evangelische Pfarrer und spätere Priester der Christengemeinschaft Hermann Heisler eine Zeitlang hauptamtlich dem Fundraising.) Ernste Gefährdungen auf dem Weg zu einer anthroposophisch inspirierten religiösen Gemeinschaft entstanden durch den Konflikt zwischen erfahrenen und bedächtigen Älteren und den mit viel Idealismus, aber unerfahren vorwärts drängenden Jüngeren. Auch prallten im Gründerkreis und selbst an der Spitze der Bewegung extrem verschiedene Charaktere und Mentalitäten aufeinander. Die Schilderung der menschlichen Probleme, in die wohl auch karmische Gegebenheiten hineinspielten, und der schwierige Umgang damit füllen bei Gädeke viele Seiten. Das Wort Schicksalsdrama im Untertitel seines Werkes ist mithin keineswegs eine Übertreibung. Manche Eigenschaften einzelner Persönlichkeiten erwiesen sich auch als ambivalent: So kam die Führungsstärke des jungen Emil Bock einerseits der Bewegung zugute, andererseits leistete er sich als »Alphatier« mit hohem Selbst- und Sendungsbewusstsein allerlei »Diktatürlichkeiten« (F. Rittelmeyer), an denen seine Mitstreiter Anstoß nahmen.

Gädeke gliedert seine Arbeit in zwölf Kapitel. Kapitel I: Rudolf Steiners Weg zum Christentum und zur Religion dokumentiert einen deutlichen Fortschritt in der Steiner-Biographik.2 Steiners weltanschauliche Entwicklung verlief nicht geradlinig und folgte keiner Logik, sondern bewegte sich in einem dramatischen Hin und Her von Position zu Position. Dieser Weg wird akribisch nachgezeichnet. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Zeit zwischen Sommer 1899 und Herbst 1901, in der Steiner durch geistige Erlebnisse, die ihn im Innersten verwandeln, ein vollkommen neues positives Verhältnis zum Christentum und zur Religion generell findet. Früheren Darstellungen dieser inneren Neu­orientierung haftet eine gewisse Unklarheit und Verschwommenheit an, die (mindestens auch) auf mehr ver- als enthüllende Äußerungen ­Rudolf Steiners selbst zurückzuführen ist.3
Kapitel II und III porträtieren die Freunde Friedrich Rittelmeyer und Christian Geyer in den Jahren vor der Gründung der Christengemeinschaft und die beiden jungen anthropo­sophischen Theologen Emil Bock und Rudolf Meyer. Sie stammten aus verschiedenen sozialen Milieus und waren charakterlich so verschieden, dass eine Zusammenarbeit zuweilen fast unmöglich war. Im Abschnitt zu Friedrich ­Rittelmeyer begegnet uns das Motiv der versäumten Frage an Rudolf Steiner, ob und wie religiöse Erneuerung mit Hilfe der Anthropo­sophie möglich sei. Diese Frage sollten später (im Mai 1921) zwei junge Menschen stellen: ­Johannes Werner Klein und Gertrud Spörri.
Das Kapitel IV widmet sich der Frage nach Kultus und Kirche, Kapitel V dem Anfang der Be­wegung. In mehreren Kapiteln (VII, IX, XI, XII) schildert der Autor Persönlichkeiten, die im Zu­sammenhang mit der Gründung besonders hervorgetreten sind, ihre Leistungen, aber auch ihre Probleme. Dies weckt den Wunsch nach umfangreicheren biographischen Studien, die neue Erkenntnisse über ihre zum Teil tragischen Schicksale erwarten lassen. Im Blick auf Gertrud Spörri, die nach Jahren hingebungsvollen Einsatzes ihr Priestertum aufgab und zur Christengemeinschaft und Anthroposophie auf Distanz ging, merkt dies Wolfgang Gädeke selbst an.
Von Juni 1921 bis September 1922 fanden Treffen der künftigen Priester und bis fast zuletzt auch anderer Menschen statt, die den Weg in die neue Gemeinschaft schließlich doch nicht mitgehen konnten oder wollten. Von besonderer Bedeutung waren die drei Theologenkurse, die die spirituellen Grundlagen der Christen­gemeinschaft legten und ihre Organisation vorbereiteten.4 Existentielle Fragen wurden aufgeworfen und von Rudolf Steiner beantwortet – ohne dass dadurch eine nachhaltige Klärung erreicht worden wäre.
Eine Frage war die nach der Ehe von Priesterinnen, die von Rudolf Steiner (mit Ausnahme der ersten Priesterin Gertrud Spörri) bejaht, von hochrangigen Vertretern der Christengemeinschaft (wie Emil Bock) aber abgelehnt wurde. Eine andere Frage war, ob Homosexua­lität ein Hindernis für das Priestertum sei: Rudolf Steiner negierte dies, gleichwohl outeten sich homo­sexuelle Priester und lesbische Priesterinnen noch jahrzehntelang nicht. Die Darstellung der häufig von starken Emotionen begleiteten Ereignisse ist atmosphärisch dicht und zieht Leserinnen und Leser mit offenem Herzen sehr bald in das bewegte Geschehen hinein. Sie zeigt auch, wie intensiv Rudolf Steiner das Gründungsgeschehen begleitet, ja mitbestimmt hat. Dies bezieht sich zunächst auf die »spirituelle Ausstattung« der Christengemeinschaft, ihre theologischen Grundorientierungen und die Grundlagen ihrer Praxis, vor allem des Kultus, aber auch auf richtungweisende, zuweilen lebensentscheidende Einzelberatungen und die Mitsprache bei Personalfragen. Rudolf Steiner war am Ende sogar bereit, die Erhebung Friedrich Rittelmeyers zum Erzoberlenker – allerdings nur ausnahmsweise – selbst vorzunehmen, wozu es dann jedoch auf Grund seiner schweren Erkrankung nicht kam. Steiner war für alle an der Gründung der Christengemeinschaft Beteiligten der verehrte Lehrer und eine im Grunde nicht zu hinterfragende Autorität; seine Empfehlungen (die er meist auf eine ausdrückliche Frage hin aussprach) galten faktisch als Weisungen. Bei Meinungsverschiedenheiten fügte sich auch Friedrich Rittelmeyer.
In Kapitel X: Die Geburt der Christengemeinschaft erreicht die Darstellung ihren Höhepunkt. Die Lektüre beantwortet so wichtige Fragen wie die folgenden: Wie hat es ausgesehen, als Rudolf Steiner den neuen Kultus vermittelt hat? Auf welche Weise hat er es getan? Und: Wie sind die erste Menschenweihehandlung und die ersten Priesterweihen im Einzelnen vollzogen worden?
Das elfte Kapitel Der Beginn der Arbeit in den Gemeinden erzählt anhand mehrerer Beispiele von mühsamen Anfängen und ersten Gottesdiensten. Und es berichtet von einem Vortrag Rudolf Steiners am 30. Dezember 1922, in dem er sich scharf von der Christengemeinschaft ab­grenzte, was deren Mitglieder verständlicherweise tief verunsicherte und irritierte. Die Christengemeinschaft hatte in den vorausgegangenen Monaten viele Anthroposophen aufgenommen und Steiner befürchtete – ebenfalls verständlicherweise – eine Schwächung der An­throposophischen Gesellschaft durch die von ihm selbst ins Leben begleitete religiöse Gemeinschaft. Bisher hatte es an einer sauberen Klärung des Verhältnisses von Anthroposophischer Gesellschaft und Christengemeinschaft und ihrer verschiedenen Aufgaben gefehlt. Diese notwendige und endlich auch gelungene Klärung ging aber mit Verletzungen und Schmerzen einher.
Kapitel XII: Die Vollendung der Gründung orientiert über die Vervollständigung des Kultus durch die Übergabe noch ausstehender Texte (u.a. der Episteln für die Epiphanias- und Johannizeit), die Vollendung der Hierarchie durch das Amt des Erzoberlenkers und die letzten Kurse Rudolf Steiners über die Apokalypse und über Pastoralmedizin, die dem Schwerkranken gerade noch möglich waren.
Mit einem reichhaltigen Literaturverzeichnis schließt der zweite Band. Zu empfehlen sind die beiden Bände allen, die sich gründlich, ­detailliert und auf dem neuesten Stand der Forschung über die Menschen und Ereignisse informieren möchten, die mit der Gründung der Christengemeinschaft verbunden waren. Man muss die Bücher freilich nicht unbedingt ganz und im Zusammenhang lesen: Sie eignen sich auch vortrefflich als Nachschlagewerke zu Einzelthemen. Mit großem Respekt vor der Leistung Wolfgang Gädekes habe ich sein Opus ­magnum aus der Hand gelegt.

1  Als Ergänzung ist anzusehen: Rudolf F. Gädeke: Die Gründer der Christengemeinschaft. Ein Schicksalsnetz,
Stuttgart, 2. bearbeitete Auflage 2021.

2  Dass dies wahrgenommen und anerkannt wird, konnte ich kürzlich im Gespräch mit einem jungen Pfarrer der Christengemeinschaft feststellen.

3  Gädeke würdigt in diesem Zusammenhang eine innovative Leistung von David Marc Hoffmann: Rudolf Steiners Hadesfahrt und Damaskuserlebnis. Vom Goetheanismus, Individualismus, Nietzscheanismus, Anarchismus und Antichristentum zur Anthroposophie, in: Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Rahel Uhlenhoff, Berlin 2011, S. 89ff.

4  Vgl. Rudolf Steiner: Vorträge und Kurse über christlich -religiöses Wirken I– V: GA 342–346.

Wolfgang Gädeke: Die Gründung der Christengemeinschaft. Ein Schicksalsdrama, 2 Bände, Verlag Urachhaus, Stuttgart 2024, 1296 Seiten, € 68,–