Ich bin dann mal Weg – Von kleinen und großen Pilgerschritten

AutorIn: Eva Scheffler

Ich möchte mit dir sprechen. – Aber dieses Mal musst du dir mehr Zeit nehmen.« »Ich möchte das eigentlich auch, aber du weißt ja, dass ich die Zeit nicht habe.« »Ich hatte ja auch gesagt, du musst dir die Zeit nehmen.« »Das geht nicht.« »Das glaube ich nicht. – Es gab Zeiten, da ging es wirklich nicht. Aber jetzt? – Du hast es noch nicht versucht.« »Können wir das nicht irgendwie nebenher schaffen?« »Wie? Soll ich dich wieder mitten in der Nacht wecken? Du brauchst deinen Schlaf. Und tagsüber? Eines deiner Kinder sucht deine Hilfe, dein Mann, der nächste Termin, die Vorbereitungen für die Arbeit, der Haushalt … Wir werden doch ständig unterbrochen. – Oder fürchtest du dich?« »Vor dem Gespräch?« »Nein, davor, dir die Zeit zu nehmen; davor, den anderen das zuzumuten; davor, dich entbehrlich zu machen.« »Meinst du, ich nehme mich zu wichtig?« »Lass uns in Ruhe darüber reden, was wichtig ist.« »Das wäre eigentlich wirklich dran …« »Na also, dann mach dich auf den Weg und nimm dir die Zeit.«


Das war Ende 2022. Es war mein eigentlicher Aufbruch: der Anstoß zum Aufbruch. Es gibt immer einen Anstoß zum Aufbruch: eine Frage, eine Sehnsucht, eine Ahnung … Wer ist es, der da fragt, ahnt, sich sehnt … und anstößt?

1993 wurde ich beim Ausstellen des Pilgerausweises noch gefragt, welches mein Pilgermotiv sei: »sportlich«, »kulturell«, »spirituell« und »religiös« konnte man ankreuzen. Ich hatte mir vorher keine Gedanken darüber gemacht und kreuzte spontan alles an, außer »sportlich«. ­Natürlich hat das Wandern von rund 900 km auch eine sportliche Komponente, aber ich wollte mich selbst ermahnen, dass mich kein sport­licher Ehrgeiz vorwärtstreiben sollte. Beim zweiten Mal hatte ich meinen Pilgerausweis bereits beim Aufbruch in der Tasche, online ­bestellt; niemand hatte mir eine Frage gestellt. Ich hätte wieder die selben drei Motive angekreuzt – obwohl alles anders war 2023.
Dreißig Jahre zuvor hatte mich der Weg gefunden: Ich war mit einem meiner Studiengänge gerade fertig geworden, war beruflich noch nicht festgelegt, familiär ungebunden. Ich wollte nur einfach wandern – mein Rucksack und ich – wie schon so oft. Weil es gut tut. Weil es befreit. Weil es klärt. Ich fand ein Buch in einer Buchhandlung, das einzige über einen Pilgerweg, noch kein Pilgerführer in dem Sinne, wie es heute unzählige gibt, sondern eher ein Kulturführer mit ein paar handgezeichneten Skizzen. Ich wusste sofort: Das ist mein Weg!

Was »Pilgern« ist habe ich unterwegs allmählich begriffen. Ich stellte aber fest, dass ich dieses Pilgern bereits längst kannte, ich hatte es nur bisher nicht so genannt. Wie oft war ich schon als Kind, als Jugendliche oder junge Erwachsene zu Fuß lange Strecken durch den Wald oder über Felder gegangen, weil mich etwas so berührt hatte, dass ich nicht auf einem Stuhl sitzen bleiben oder ruhig in einem Bett liegen konnte? Meine Schritte, die gleichmäßige Bewegung meines ganzen Körpers beim Gehen, bringen dann allmählich Ruhe, Ordnung, Klarheit, Verstehen in all das, was mich innerlich aufgewühlt hatte. Ich merke: Was mich da so berührt, in Unruhe versetzt hat, es ge-hört zu mir. Es will gehört werden. Es geht mich etwas an, es stellt sich mir in den Weg, damit ich es be-merke und damit um-gehe. Es will von mir zu-gänglich, ein-gänglich gemacht werden. – Habe ich deshalb ­einen Leib, der immer wieder schmerzt, wenn ich mich nicht genug bewege?
Auf dem Weg habe ich gemerkt: Das Pilgern ­gehört zu mir. Nein, ich bin nicht zur »Profi-­Pilgerin« geworden, wie man sie auf dem Jakobsweg und in der »Pilger-Szene« heute immer wieder treffen kann. Die Profis sprechen nur vom »Frances«, »Norte«, »Primitivo«, »Portugues«, viel­leicht auch mal vom Franziskus- oder Olavsweg. Sie sind diese Wege alle gegangen, sogar mehrfach. – Nein, dazu hat mir meine Biographie ­weder die Zeit noch die finanziellen Mittel eingeräumt. Auf andere Weise muss ich versuchen, Pilgerin zu sein.

Was ich unterwegs erlebt habe? Von einem Tag erzähle ich. Aber bitte: das ist nur die Außenseite! Es war der 26. Februar 2023. Saint Jean Pied de Port/Frankreich am Fuße der Pyrenäen. Am Abend davor hatte ich im Pilgerbüro einen Plan mit den Öffnungszeiten der Herbergen bekommen; schließlich bin ich völlig außerhalb der Pilger-Saison unterwegs. Als unheilbare Frühaufsteherin stehe ich mal wieder weit vor Sonnenaufgang und vor der Müllabfuhr (Unsinn: Es ist Sonntag!) mit dem Pilgerstab in der Hand zum Aufbruch bereit auf der Straße des noch schlafenden Städtchens. Der Rucksack ist nicht schwer, schließlich habe ich fast alle Kleidungsstücke, die ich dabei habe, übereinander an. Es soll auf den dick verschneiten Pyrenäen, zu denen ich heute aufsteigen möchte, tagsüber maximal ­–7° Celsius haben. Meine einzige Sorge – abgesehen von bellenden, freilaufenden Hunden – gilt der Kälte. Nur Leidensgenossen mit starkem Raynaud-Syndrom werden nicht schmunzeln über meine doppelten Handschuh- und Strumpfkonstruktionen über fettreichen Cremeschichten. Aber ich war erfolgreich: An diesem und an den folgenden Tagen bleibe ich tatsächlich von weißen Fingern und Zehen verschont. Und das, obwohl (oder weil?) ich in Barfußschuhen gehe. Auf dieser ersten Etappe geht es fast nur bergauf, das ist mein Glück. Das Aufwärtsgehen macht warm, nur kann ich keine langen Pausen machen. Ich treffe auch nur einen herrenlosen Hund und der hat Angst vor meinem Stock. Dann bin ich viel zu früh am Ziel meiner heutigen Tagesetappe angekommen: Roncesvalles. Die Herberge, bzw. der kleine Winterraum, öffnet erst in drei Stunden. Das gibt mir die Dame an der Rezeption auf meine in schlechtem Spanisch hervorgebrachte Frage zu verstehen. Ein Restaurant habe aber geöffnet. Dort tummeln sich unzählige Wintersportler in bester Feierlaune. Es ist voll, laut, stickig, verqualmt. Ich bin ganz schnell wieder draußen. Nein, das passt jetzt gar nicht!

Wie anders war ich dreißig Jahre zuvor hier in Roncesvalles empfangen worden: Ein fröhlicher Herr, der sämtliche Sprachen fließend zu beherrschen schien, hatte mir schon auf dem Hof des Klosters den Rucksack abgenommen, mich ins Haus geführt, mit mir geplaudert und mir einen Pilgerpass ausgestellt, von dessen Existenz ich bis dahin nichts gewusst hatte. Dann hatte er mir noch einen Stock in die Hand gedrückt und mir erklärt, dass ich nicht ohne Stock unterwegs sein sollte. –

Und plötzlich ist sie da, die Kälte! Schnell und schonungslos kriecht sie durch alle nur irgend zu findenden Ritzen meiner dicken Verpackung. Ich versuche es mit der Kirche. Dort ist es besser und hilft für kurze Zeit, aber ich merke schnell: nicht für drei Stunden! Ich krame meine Liste mit den Herbergen aus dem Rucksack. 3 km weiter müsste eine Herberge geöffnet haben. Ich zögere: Eigentlich wollte ich hier ja die Pilgermesse besuchen und den Pilgersegen empfangen … Aber ich gehe weiter und werde wieder warm. Der kalte Schweiß kommt mir allerdings vor dem Schild an der nächsten Herberge: »cerrado« (geschlossen). Ein Blick auf meine Liste: »ouverte toute l’année« (ganzjährig geöffnet). Also nochmals ca. 4 km weiter. Im nächsten Ort dasselbe: »cerrado«. Ich klingle da und dort, ich frage. Nichts. Mein Handy mag diese Temperaturen nicht. Es lässt sich nicht starten. Zwei ­Polizisten in einem Polizeiauto erklären mir: Zurück nach Roncesvalles. Der Abend dämmert. Ich mache mich auf den Rückweg. Schneesturm hat eingesetzt. Allmählich merke ich, dass ich heute schon einiges hinter mir habe. Alle Übungen, die ich mir für unterwegs vorgenommen hatte, habe ich für heute eigentlich schon gemacht. Trotzdem: Langsam und dieses Mal laut spreche ich noch einmal die Worte der Menschenweihehandlung in das eisige Schneegestöber, während ich schnellen Schrittes vorwärts eile. Dazwischen singe ich Lieder – nicht die, die sonst dort gesungen werden, sondern solche, die ich mag, die meine Seele jubeln lassen. Und mit einem Mal stehe ich wieder in Roncesvalles. Es reicht noch zur Pilgermesse; sie hat gerade eben angefangen. Ich stehle mich in die Kirche, stelle meinen Rucksack neben mich auf die Kirchenbank – und bin unendlich glücklich und dankbar. Wir sind nur zu dritt, die heute den Pilgersegen empfangen. Dann eile ich zur Rezeption: Da sitzen die zwei Polizisten und plaudern mit der Dame am Empfang. Sie schimpft ein wenig mit mir. Ich versuche mich zu rechtfertigen, indem ich ihr die Liste mit den Herbergsöffnungszeiten hinhalte. Aber sie erklärt mir: »tienes que preguntar« (du musst fragen). Sie hat recht. Ich werfe die Liste in den Müll und beachte den Rat von da an und muss die nächsten vier Wochen kein zweites mal kehrt machen. Die Polizisten fahren mit quietschenden Reifen davon, als sie mich sicher unter Dach wissen. Dieser erste Pilgertag geht zu Ende. Es brennt noch ein Gaskocher in unserem Zimmer, eine Frau bekommt eine Panikattacke, ehe sie überhaupt aufgebrochen ist. Sie und ihr Mann reisen spät abends noch mit dem Taxi wieder ab. Aber ich bin für heute angekommen, um morgen wieder aufzubrechen. Ich unterhalte mich mit den vier anderen Pilgern: französisch, spanisch, englisch (statt portugiesisch und südkoreanisch). Ich telefoniere mit zu Hause, damit mein Mann und meine Kinder beruhigt sind. Ansonsten bleibt das Handy aus. Ich schreibe noch das in mein Tagebuch, was hier nicht steht.
Es folgen weitere 27 Pilgertage, 27 verschiedene Herbergen (die wenigsten geheizt), unterschiedlichste Wege, Landschaften, Witterungen, Dörfer (die meisten ausgestorben), Städte, Kirchen (viele geschlossen), Klöster (oft verlassen) … Menschen! Tagsüber gehe ich alleine. Ich will es dieses Mal so, und es ist gut so. Aber abends, wenn ich nicht gerade die einzige in der Herberge bin, mag ich die Gespräche mit anderen Pilgerinnen und Pilgern oder mit den Herbergseltern. Es braucht kein langes Kennenlernen. Man spricht über Lebenspraktisches und über Tiefsinniges, über Blasenpflaster und Sinnkrisen. Und es wird viel gelacht. Man ist solidarisch, erschöpft und zufrieden, man teilt Mitgefühl und Essensvorräte. Spät lasse ich es nicht werden. Fürs Aufstehen morgens habe ich meine Technik entwickelt, die andere möglichst nicht weckt. Kein endloses Rascheln mit Plastiktüten, kein Leuchten mit der Taschenlampe und Kramen in Schränken und unter dem Bett. Das Wichtigste habe ich abends schon im Rucksack verstaut, oder es hat mit mir die Nacht im Schlafsack verbracht. Ich muss also nur leise aus dem Schlafsack kriechen, den Schlafsack samt Inhalt greifen, das Einmallaken vorsichtig von der Matratze ziehen und den Rucksack über eine Schulter hängen. Dann so leise wie möglich durch die Tür und in einen Waschraum, wo ich alles Weitere erledige. Die Schuhe warten im Flur auf mich. Und wieder bin ich vor Tagesanbruch auf dem Weg. In Barfußschuhen hat man Augen auf den Fußsohlen. Es braucht keine Taschenlampe, höchstens um ein Wegzeichen zu suchen. Der unberührte Tag ist für mich ein heiliger Raum. Ich gehe durch eine Einsamkeit, die keine ist. Und irgendwann geht die Sonne darin auf: vier Wochen lang immer im Rücken. Ich muss mich umwenden, so wie bei jeder Kirche, die ich betrete. Beides macht mich fromm. Ich glaube, die Pilger haben das Morgenlob und das Dankgebet erfunden …
Nach 25 Tagen erreiche ich Santiago de Compostela. Zu dieser Jahreszeit gibt es wenige Pilger in der Kathedrale und im Gottesdienst.
Ich gehe weiter bis ans »Ende der Welt«, bis nur noch Wasser vor mir liegt. Zurückgekehrt nach Santiago, stehe ich schließlich vor dem Portico de la Gloria. Ich blicke auf zum Auferstandenen, der segnend die Hände ausbreitet über Jakobus als Pilger. Er kann und will es gar nicht vermeiden, auch mich zu segnen.
Es ist nicht ganz leicht, heimzukommen ohne nur einfach zurückzukehren. Der Alltag geht ja weiter. – Oder gehe ich ihn? In immer neuem Aufbruch und Dialog? Es ist einen Versuch wert.
Als Pilgerbegleiterin suche ich jetzt neue Wege, die nicht immer weit weg, lang und fern vom Alltag sind: Wege, die hier und jetzt und jederzeit gangbar sind für jede und jeden. Auch das ist einen Versuch wert.

 

Eva Scheffler, geboren 1967, Priesterin und Pilgerbegleiterin, Hamburg,
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