Vom Überleben zum Leben Bericht aus Odessa

AutorIn: Andrej Ziltsov

Fast drei Jahre dauert der Krieg in der Ukraine. Er wird nicht nur mit Waffen geführt, sondern sehr stark auch durch die Medien. Wir sehen die Katastrophen. Dazu gibt es Darstellun­gen hypothetischer Gefahren und Bedrohungen, auch Lösungsvorschläge und Friedensaussichten. Praktisch zu jedem Ereignis gibt es Meinungen und Gegenmeinungen. Die Nachrichten sind meistens emotional geladen und im über­wiegenden Teil einseitig. Taucht die Seele darin ein, kann sie leicht ins Schwanken zwischen Hoffnung und Bestürzung kommen. Wir fühlen uns oft an die Worte aus der ­Ölbergapokalypse (Lk 21) erinnert, wo von Katastrophen und Ängsten die Rede ist. Möge es gelingen, dass wir »… unsere Häupter aufrichten und die Sinne in die Geistige Welt erheben.«
Zu Michaeli 2024 hat die Gemeinde ihr 20-jähriges Jubiläum gefeiert. Es war ein schönes Fest. Trotz aller  Ungewissheit, trotz Luft­alarm und Blackout haben wir erfüllte Tage erlebt. Mehr als 50 Menschen haben teilgenommen, und es war erstaunlich, dass es nur ein paar Einzelne gab, die »damals vor 20 Jahren« bei der Gründung dabei waren. Es gehört zum Schicksal unserer Gemeinde, dass mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder seit Anfang des Krieges das Land verlassen haben. Durch neu Dazugekommene hat sich die Zusammensetzung der Gemeinde sehr geändert. Wir haben die Festtage mit der Menschenweihehandlung begonnen; wir hörten einen Kurs über das Wesen des Gemeindeengels durch Vicke von Behr, der zur Zeit der Gründung Lenker von Osteuropa war; es gab einen ausführlichen Rückblick mit Blick auf den Engel unserer Gemeinde von Andrej Ziltsov; wir haben gute Gedanken zu den »Mitgliedern im Ausland« gesandt; auch unsere Toten haben wir bedacht und viele Gespräche geführt und Erinnerungen ausgetauscht und auch viel gelacht. Überrascht hat uns, dass in der Atmosphäre dieser Tage zum ersten Mal seit Kriegsbeginn (!) auch das leise Wehen eines Zukunftswindes zu spüren war. Es war zunächst kaum möglich, zu beschreiben, woher dieser »Wind« kam, denn wir haben keine großen Zukunftspläne geschmiedet. Und wir wussten nicht gleich, was er uns sagt. Wir haben einfach bemerkt, dass sich eine »andere« Realität und eine »andere« Zukunft meldete. Denn innerlich fühlt es sich zur Zeit sonst oft so an, als ob es »immer so war«, als ob der Krieg schon immer unsere Realität war. Vielleicht lag es an der Offenheit und dem Interesse gegenüber dem Geist? Es war jedenfalls eine Freude und eine Hoffnung zu spüren, die uns sagte, dass die Gemeinde nicht nur eine reiche Vergangenheit hat und in der Gegenwart besteht, sondern auch eine Zukunft haben kann.
Aus der Fülle der Ereignisse soll hier nur eine Erzählung von einem Gemeindemitglied aufgegriffen werden: »Vor sieben Jahren bekam ich eine Krebsdiagnose. Ich kam damals in die Gemeinde und wollte ein Gespräch mit dem Priester haben. Was ich erwartet habe, ist schwer zu sagen. Trost? Von medizinischer Seite gab es nichts Tröstliches, und der Priester hat auch nichts im üblichen Sinne »Tröstendes« gesagt, sondern: ›Du kannst sterben. Klar. Alle Menschen sind sterblich. Aber wenn du deinen Idealen folgst und machst, was du liebst und deinen Aufgaben nachgehst, kann es sein, dass du von den geistigen Mächten auf der Erde gelassen wirst.‹ Merkwürdig, aber gerade das hat mir Trost gegeben. Ich habe weiterhin alles gemacht, was mir die Ärzte verschrieben haben. Aber ich ging dazu auch mit voller Kraft meinen Aufgaben als Klassenlehrer weiter nach. Meine Krankheit ist trotz der Prognosen ausgeheilt und ich freue mich, mit den Kindern weiter zu wachsen und zu lernen.« Es soll hier nicht spekuliert werden, was genau diese Heilung bewirkt hat, aber gewiss ist, dass die rechte Lebenseinstellung unsere Lebensqualität beeinflusst.
Diese Erzählung ist charakteristisch für den Zustand der Menschen hier. Wir haben gelernt, wie aus der Akzeptanz des Schicksals, so wie es hier und jetzt ist, und aus der Hingabe an die eigenen Aufgaben eine Kraft entstehen kann, die Zukunft ermöglicht: Die Realität, das Leben selbst akzeptieren und trotzdem den Aufgaben nachgehen und über uns die geistigen Mächte wachend wissen. Das ist vielleicht eine wichtige Lehre aus der Zeit des Krieges: Das Bewusstsein des Todes kann dem Leben einen besonderen Wert und eine kraftvolle Qualität geben. Man kann dabei eine Ahnung bekommen: Was ich tue, brauche nicht nur ich, sondern es ist wertvoll für die anderen. Und vielleicht interessiert sich auch die geistige Welt dafür. Diese Einstellung, einmal errungen, kann nicht bleiben, sondern muss stets erneuert werden.
Diese Einstellung war auch nicht von Anfang da. Da war eine Hoffnung vorherrschend: ­»Dieser Albtraum wird nicht lange dauern.« Krieg ist etwas Unmenschliches. Er darf nicht sein. Irgendwoher wird Hilfe kommen. ­Vielleicht dauert der Krieg einige Tage oder Wochen, dann kehrt das Leben zur Normalität zurück. Damals haben wir alle unsere Kräfte eingesetzt, damit diese Hoffnung Realität wird. So haben wir uns am Anfang mehr oder weniger bewusst nach der Vergangenheit gesehnt: Es wird bald alles wie gewohnt, »wie vor dem Krieg«. Aber der Krieg dauerte. Nach etwa einem halben Jahr, mit der ersten ernsten Müdigkeit, kam eine andere Gewissheit: Wir können nichts ändern, aber auch wenn der Krieg noch Monate dauert, halten wir durch, zehren von dem, was wir in friedlichen Zeiten an Kräften angesammelt haben, aber dann kehrt endlich das »normale« Leben zurück. Auch wenn der Krieg ein Jahr dauert – das geht noch. Aber eben »noch«. Diese zweite Phase kann man so beschreiben: »Die Zeit überdauern und das Beste aus den Umständen machen.« Spätestens im Sommer 2023 war klar: Wir wissen nicht, wann der Krieg zu Ende sein wird. Wir müssen das Leben nehmen, wie es ist, und zugleich nicht nur schauen, wo wir unsere Kräfte positiv einsetzen, sondern auch, wo wir die Kräfte schöpfen. Und wenn man die Balance nicht schafft, dann sollte man zumindest schauen, dass das »Minus« nicht allzu groß wird.
Blickt man auf die drei Kriegsjahre zurück – es ist alles wie immer: Es sind täglich Luftalarme zu hören, aber es gab kein einziges Mal in diesen Jahren deswegen eine Panik; es gibt die Gefahr von Raketen- und Drohnen-Angriffen; es gibt Explosionen und Luftabwehr-Geräusche. Die Gefahr ist ständig spürbar. Es gibt viel Bereitschaft zu helfen, wenn etwas Schlimmes eintritt. Sowohl »von offizieller Seite« als auch von freiwilligen Helfern. Es gibt Blackouts von 2 bis 3 Stunden (was ganz »normal« geworden ist), bis 2 bis 3 Tage. Wir haben gelernt, dass auch die vorgestellten Gefahren sehr lähmend wirken können. Auch die falschen Hoffnungen und leeren Versprechungen rauben Kräfte. Denn es gab im Lauf der Jahre viele Friedens- oder Sieg-Versprechen, die nicht eingetreten sind. Auch wenn solche Hoffnungen oder Versprechen für eine Weile Kraft geben, nehmen sie umso mehr Kraft weg, wenn sie sich als falsch erweisen.
Es gibt immer mehr traumatisierte Menschen: junge Männer im Rollstuhl auf den Straßen. Erstaunlich ist, dass man immer wieder verstümmelte Körper, aber strahlende Augen sieht. Oder man sieht glückliche Pärchen, und dann erst bemerkt man eine Prothese bei dem Mann. Es gibt, leider, viel Elend, das man nicht sieht, aber wir hoffen, dass sich auch dort helfende Hände finden. Es gibt auch Zeichen, die Anlass zu ein wenig Hoffnung geben: Es kehren einige, erst einmal einzelne Menschen aus dem Ausland in die Heimat zurück; es gibt immer mehr Menschen, die aus einem eigenen Impuls etwas Positives machen; die Zahl der Kinder in den Waldorfschulen (die diese drei Jahre überstanden haben), steigt wieder an; es wurden im letzten Jahr in Odessa mehr Kinder geboren als in einigen Vorkriegsjahren. Verglichen mit den vielen Nöten sind das nur kleine Zeichen, aber sie zeigen eine zarte Tendenz, die man unterstützen und auf die man bauen will.

Fortsetzung folgt im Märzheft

Andrej Ziltsov, geboren 1963, Priester, Odessa