»Er sei in uns …« Gemeinschaft im Geiste Christi 3. Zum Glauben finden (II)
Auf zwei Wegen kann Gott als gegenwärtig erlebt werden: Erfahre ich ihn in der Welt, ist er mir Gegenüber, meinem kleinen Ich ein großes Du. Werde ich seiner im eigenen Inneren gewahr, ist er mir näher, wird er meinem mystischen Ich ein Welten-Ich. Gegenübersein und Innewohnen scheint mir auch ein Bauprinzip christlicher Gemeinschaft zu sein. Begegnen wir uns darin, dass in uns der gleiche Gott anwesend wird, sind wir uns auch einander näher als in der latenten Fremdheit des Gegenübers. In der Nähe Gottes brauchen wir keine Vermittler, auch nicht mehr untereinander. Das meinte der Apostel Paulus wohl, als er an Timotheus schrieb: »Denn es ist nur ein Gott und nur ein Mittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch gewordene Christus Jesus« (1 Tim 2,5). Im Blick auf das Gemeinschaftsleben von Christen soll mit dieser Beitrags-Serie die Frage bewegt werden, was wir einander sein können und wollen, wenn uns einzig Christus als Mittler gilt.
Religiöses Denken
Das 11. Kapitel des Hebräerbriefs beginnt mit einer weitreichenden Aussage über das Verhältnis des Glaubens zur Realität: Der Glaube ist aber ein Feststehen in dem, was man hofft, ein Überzeugtsein von der Wirklichkeit unsichtbarer Dinge (Hebr 11,1). Das klingt deutlich anders als die noch 1989 im Brockhaus verzeichnete Definition des Glaubens als einem »Fürwahrhalten ohne methodische Begründung«. Klingt darin der Zweifel gegenüber einem Glauben an, der sich weit mehr zutraut als die passive Ausführung von Glaubensvorschriften, so spricht der Hebräerbrief von einer aktiven Dimension des Glaubens, dem die Kraft der Erkenntnis zukommen kann: Durch den Glauben erkennen wir, dass die Welten durch Gottes Wort bereitet worden sind, sodass Sichtbares aus Unsichtbarem entstanden ist (Hebr 11.3). Wie sich dieser Glaube des Anfangs von Abel über Noah, Abraham, Isaak, Jakob und Mose bis hin zu den Königen und Propheten des Volkes Israel als Kraft der Einsicht, aber auch der Gestaltung entfaltet hat, wird im weiteren Verlauf dieses Kapitels ausgeführt.
An diesem Zeugnis über den Glauben kann deutlich werden, dass dieser sich als eine religiöse Form des Denkens – anders als die heutige Form naturwissenschaftlichen Denkens – um die Erkenntnis vom Zusammenwirken des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren bemüht. Das hat positiv zur Folge, dass sich das religiöse Denken nicht der Illusion hingeben kann, den Gegenstand seiner Erkenntnis schnell und vollständig überblicken zu können. Das bringt eine Art Erkenntnisbescheidenheit oder, religiös gesprochen, eine demütige Haltung mit sich: Die Dimension des Unsichtbaren bleibt ihm so lange ungewiss, bis sie sich ihm von ihrer Seite her ausgesprochen hat. Der Versuch der Erkenntnis Gottes kommt nicht ohne Gott zum Ziel. Dafür steht das biblische Symbolwort von der Tür, vor der wir als Glaubende stehen: Bittet, so wird euch gegeben; sucht, so werdet ihr finden; klopft an, so wird euch aufgetan! (Lk 9,11). Man kann dies so hören, dass Gott uns zu Bittstellern machen will, man kann es aber auch als sein Versprechen, als Verheißung hören: Wer bittet, sucht oder anklopft, wird durch die Gnade und Offenbarung Gottes zur Erkenntnis gelangen. Auch das liegt in diesem Bildwort: Wir bleiben im religiösen Denken dem Erkenntnisgegenstand nicht fremd. Es gelingt nicht, wenn wir außen vor dem stehen bleiben wollen, was wir zu denken suchen: In der Betätigung des Glaubens halten wir schon Einzug in die Welt dessen, was wir nach und nach erkennen werden.
Gotteserkenntnis
Auf der Suche nach einer Beschreibung des Weges, der die Entwicklung des religiösen Denkens veranschaulicht, bin ich bei dem Apostel Paulus fündig geworden. Im 13. Kapitel des 1. Korintherbriefs schreibt er einen Lobpreis über die religiöse Grundkraft der Liebe. Am Ende des Kapitels preist er Glaube, Hoffnung und Liebe als Bleibende, wobei ihm die Liebe als die größte dieser drei theologischen Tugenden aufgeht. In diesem Zusammenhang ist von der Entwicklung des religiösen Erkennens die Rede, die sich für das Kind anders als für den reifen Menschen darstellt: Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte ich wie ein Kind, urteilte ich wie ein Kind; als ich ein Mann wurde, tat ich weg, was kindlich war. Denn wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem Rätsel, dann aber von Angesicht zu Angesicht; jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie auch ich erkannt bin (1 Kor 13,11–12). Für Paulus ist es die Liebe, die von den Anfängen des Erkennens bis zum Innewerden führt. War bei der Stelle aus dem Hebräerbrief schon von der Hoffnung im Zusammenhang mit Glaube und Erkenntnis die Rede, so nun hier auch von der Liebe. Wie zart Paulus den Weg von der Distanz des Spiegels über die Nähe des Gegenübers »von Angesicht zu Angesicht« bis zur Durchdringung beim Erkennen und Erkannt-Werden zeichnet! In dieser Entwicklungsgeschichte der Einswerdung des Menschen mit Gott und Gottes mit dem Menschen liegt die Erfüllung dessen, was im Johannesevangelium gesagt ist: Ich bin der gute Hirte und erkenne die Meinen und es erkennen die Meinen mich, wie mich der Vater erkennt und ich den Vater erkenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe (Joh 10,14–15). Hier kommt noch eine andere Seite des religiösen Denkens zur Anschauung: Beginne ich, mit dem Erkannten eine Lebensbeziehung, kann es nicht bei einem einmaligen Erkenntnisakt bleiben. Wie wir gesehen haben, dass sich Zweifel positiv auf die Frage nach der Vollständigkeit des religiösen Erkennens auswirkt, so ist es hier die Sehnsucht, die sich nicht mit der Singularität der Einswerdung zufrieden geben kann. Für die ersten Christen war die Feier der Eucharistie der gemeinschaftliche Ort, an dem sich neben dem Hören der Heiligen Schrift auch die Suche nach Gotteserkenntnis im Einswerden mit Christus als liturgisch geordnete Wiederholung ereignete.
Denken in Christus – und wie er in uns denkt
In der Menschenweihehandlung findet sich ein anderer Weg, auf dem sich christliches Denken vertiefen und verwandeln kann. Was auf der Höhe der Wandlungsgebete darüber ausgesagt wird, erschließt sich im Mitvollziehen wohl kaum beim ersten Mal, sodass auch hier das Prinzip der Wiederholung hilfreich sein kann.
Der Ausgangspunkt ist ein besonderer Blick, der nach drei in der Stille über dem Kelch mit dem Wein und der Schale mit dem Opferbrot vollzogenen Segenskreuzen zu dem Gekreuzigten, zu seinem Leib und seinem Blut gewendet wird. Das Gebet beginnt zunächst, indem an die Worte der Hingabe angeschlossen wird, die Christus beim Abendmahl mit den Jüngern über die Einswerdung mit Brot und Wein gesprochen hat. Danach wird gesagt, dass der Leib Christi am Kreuz »das neue Bekenntnis« tragen werde und dass in seinem Blut »der neue Glaube« vom Kreuz fließen werde. Im Gebet folgt die Aufforderung: »Nehmet dieses auf in Euer Denken«.
Gegenüber der Tradition, bei der an dieser Stelle von dem »Gedächtnis« an Christus die Rede ist, wird hier der direkte Bezug zu der eigenen seelisch-geistigen Aktivität betont: Unsere Verbindung mit Christus im Altargottesdienst geschieht von diesem Augenblick an auch als ein erkennendes Glauben. Wir nehmen sein Bekenntnis und seinen Glauben durch unser Denken zu uns. Sie werden von uns empfangen und wir fügen sie in die Welt unserer Gedanken ein.
Im zweiten Schritt geht es darum, das lebendige Gottesbekenntnis und den Gottesglauben denkend anzuerkennen und sie in uns wirksam werden zu lassen. Das Gebet fährt im Blick darauf mit diesen Worten fort: »Und so lebe in unsern Gedanken …« Das Gedachte, so kann es philosophisch gesagt werden, wirkt auf die Denkenden zurück. Wir sind uns im Alltag oft nicht bewusst, dass uns im Vorgang des Denkens eigentlich immer etwas von dem Inhalt zu eigen wird, mit dem wir umgegangen sind. Deshalb sind wir im Denken über und anfänglich schon mit Gott bereits von ihm selbst, von seiner Nähe erfüllt. Gerade in diesem mittleren Schritt wird aber auch deutlich, in welcher wunderbaren Balance der Kräfte die Einswerdung mit Gott in uns vor sich geht: Wir sind es, die ihn in uns aufnehmen, wir lassen uns auf seine Lebendigkeit ein; aber er ist es, der zu uns kommt, um in uns Wohnung zu nehmen.
Das Gebet schließt mit einer Wendung, in der gerade diese seine Einkehr in uns beschrieben wird: »So denket in uns …« Unser aufnehmendes trifft auf sein schenkendes Denken, es wird Erkennen und Erkannt-Werden in einem. In den letzten Worten dieses Gebets wird beschrieben, was nun in uns gedacht – und erkannt – wird: »… Christi Leidenstod; Seine Auferstehung; Seine Offenbarung durch alle folgenden Erdenzeiten.« Neues Bekenntnis und neuer Glaube ist in dieser Einswerdung vielleicht auch schon zu einer Einheit verbunden: Sie sind sowohl Gottes als auch des Menschen. Nun kann das Gesamtbild sichtbar werden, dass Christi Menschwerdung, die in Leiden und Sterben ihre Vollendung erfährt, einen Weg von Gott zum Menschen eröffnet, der zu einer Begegnung mit und in jedem Christenmenschen führen kann, der sich in seinem Glauben, Denken und Erkennen mit ihm verbunden fühlen darf. In der Zukunftshoffnung auf die Offenbarung Christi, die wir auch Apokalypse nennen, können wir auf dieses Einswerden mit ihm vertrauen.
Die Kraft des Anerkennens in der Gemeinschaft
Was wir einander in christlichen Gemeinschaften werden können, ist schon im Bild der Herde und des Hirten angedeutet: Zum Christwerden gehört dazu, dass wir uns untereinander als ebenbürtig erkennen: Uns eint nicht unbedingt die gleiche Vergangenheit, sondern die gleiche Hoffnung auf eine Zukunft in der Verbindung mit Christus. Wie wir ihn erkennen und von ihm erkannt werden, so sollten wir auch untereinander erkennen – und das bedeutet auch anerkennen– üben. »Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich« heißt in der Nachfolge Christi, dass wir mit unserem Bemühen nicht aufhören können, einander mit den Augen Christi anzusehen und zu erkennen.
Ulrich Meier, geboren 1960, Priester, Hamburg