Vertriebene
Nach der Umsiedlung ergreift der Wald die Felder. Holzbalken und Steine werden vom Boden verschluckt. Sie verschwinden einfach und die Erde wächst wie eine Narbe zu.
Meine Mutter war erst fünf. Es war 1946. Aber darüber wollte sie nicht reden. Sie wollte lieber wissen, ob wir nicht hungrig seien und ob wir noch etwas essen wollten. Zu jeder Tagesstunde. Ich wollte lieber wissen, wie es war. Aber sie verschwand wieder in der Küche und brachte einen Teller mit gedünstetem Sauerkraut und geräuchertem Schinken. Sie wollte nicht zu denen gehören, die vertrieben wurden, die alles verloren hatten und deren verbrannte Häuser mit der Zeit vom Boden verschluckt wurden. Sie wollte anwurzeln und ein Haus haben, unbedingt ein Haus mit Garten und einer großen Scheune für die Kühe, Hühner und Ferkel. Neben dem Stall sollte eine Sommerküche stehen, wo man aber auch im Winter für das Vieh kochte. Neben der Sommerküche sollte noch ein Holzschuppen sein: geräumig, damit niemand frieren muss. Im Heu sollten die Katzen sich mehren und der Hund den Hof bewachen. So wie es in ihrer Erinnerung war.
Geschosse am nächtlichen Himmel, Gestank des Verbrannten, Pferdekutschen bis zu den schwarzen Baumkronen mit der letzten Habe und Kindern beladen. Geschrei in der Ferne von denen, die lieber sterben wollten, als ihre Häuser verlassen. Und dann noch das unerträgliche Heulen der Hunde. Sie konnten weder Hunde noch Katzen noch Hühner mitnehmen. Manchmal sah sie in der Nacht einen angeketteten Hund und hörte sein Jaulen.
Ich bin die dritte Generation der Auswanderer und Vertriebenen. Die Kinder meiner Schwester schon die vierte. Wie viele davor waren, weiß keiner. Jetzt waren sie Proletarier, die Bauern geblieben sind. Sie gingen in die Fabriken der Städte und danach versorgten sie Kühe und Ferkel.
Die beladenen Kutschen zogen nach Osten in die Fremde. Zurück blieb Dębno, Leżajsk, Rzeszów, Jarosław, das ganze Nadsanie, das Haus mit Apfelbäumen, die Scheune, die Mühle und das Heulen der Hunde im nächtlichen Rauch. Dębno war ein großes Dorf mit einer Schule und einer Kirche. Alles ethnische Ukrainer. Jetzt waren sie gezwungen, ihr Dorf zu verlassen, um in die UdSSR deportiert zu werden. 500.000 Ukrainer insgesamt. So plötzlich: Häuser räumen und verschwinden. Natürlich, wollte niemand. Warum auch? Es war ihr Land, das sie liebten. Ein anderes kannten sie nicht. Jemand zog auf der Landkarte neue Linien und pferchte die Leute in die neue Identität. Auf sie alle wartete ein Fleischwolf, der aus diesen bunten Tüchern und gestickten Hemden eine undefinierbare braune Masse mit dem Gestank einer Kolchose präparierte. Der Fleischwolf war immer hungrig nach neuem Fleisch.
Es begann schon 1944. Stalin wunderte sich, dass niemand freiwillig in die neu entstandenen Sowjet-Republiken ging, nicht mal mit dem Versprechen, ihre eigenen Sprachen weiter leben zu dürfen und ein Stück Land zu bekommen. So befahl er der polnischen Regierung, den Widerspenstigen auf die Sprünge zu helfen. Er würde als Gegenleistung alle Polen in ihrer neuen Heimat verscheuchen. Die Polen wehrten sich auch. Die Ukrainer organisierten sich zum bewaffneten Widerstand und verteidigten ihre Dörfer. Die polnische Regierung schickte eine Armee. Dann war nur noch verbrannte Erde und Gestank des brennenden Fleisches. Die letzte Bastion war noch die Kirche. Der Bischof Josaphat Kozilowski und Bischof Hryhorij Lakota wurden verhaftet und der Sowjetregierung ausgeliefert. Beide starben in russischen Lagern. So schleppte sich der lange Zug nach Osten. Drei lange elende Jahre.
Ich mochte die Sommerküche nicht. Dort waren viele Fliegen. Noch mehr Fliegen gab es im Stall. Sie saßen sogar in den Augenwinkeln der Kühe und auf ihren Fladen. Sie bildeten eine seltsame Verbindung zwischen den großen glasigen Mandeln, die sehnsüchtig vor sich hin träumten und dem stinkenden Rest des vergangenen Tages. Für mich sollte es keine Kühe und keine Sommerküche geben. Ich mochte keine Fliegen. Mein Zug fuhr in die andere Richtung: Lviv, Przemyśl, Rzeszów, Tarnów, Krakau, Warschau, Berlin. Aus dem Zugfenster sah ich das Schild: Jarosław. Blieb aber sitzen. Hinter dem Fenster verschwand eine Stadt, die einst der Kyjiwer Fürst Jarosław der Weise gründete und ich verspürte dabei keinerlei Regung.
Sie wollte wissen, warum ich immer weg will. Sie konnte es nicht verstehen, wie man sein eigenes Haus verlassen kann, mit all den Sauerkrautfässern, geräuchertem Schinken, gepökeltem Speck, Borschtsch, Warenyky, Holubzi, getrocknetem Obst und zum Zopf geflochtenen Zwiebeln, mit all den Kuchen und Küchlein, gefüllt mit den Gaben des Feldes und des Gartens. Ob mir das alles gleichgültig wäre?
Ich liebte den Geruch der Äpfel. Besonders im Winter, wenn sie aus dem Keller in die Küche getragen wurden und erst jetzt, in der Wärme, ihren Duft verschenkten. Der Apfelgeruch ist mir nicht gleichgültig. Ich wollte wissen, ob sie nicht ihre alte Heimat besuchen möchte. Sie wollte nicht. Was soll dort schon sein? Und wer soll hier alles versorgen? Ich könnte es für ein paar Tage. Sie lachte und humpelte in den Stall, mit einem Bein tiefer in die Erde stampfend, mit dem anderen leicht in der Luft hängend, um mir ein paar frische Eier zu holen. Noch warm. Hast du irgendwo in deinen Welten solche Eier gegessen? Eigelb wie die Sonne? Nein, habe ich nicht. Sie lachte und humpelte um den Tisch. Wir könnten zusammen fahren. Wohin? Nach Polen. Willst du was essen? Ich aß. Es war der einzige Weg zu kommunizieren.
Einmal haben wir sie überredet, mein Sommerhaus in den Karpaten zu besuchen. Es lag nur 80 Kilometer entfernt: 36km nach Kolomyja über eine gute Straße und 44km etwa bis nach Schepit über Pistyn, Brustury, Scheschory über eine miserable. Meine Schwester hatte schon ein Auto. Wir beluden es, damit uns das Essen nicht ausgeht: nahmen viele Dutzende Eier mit dem Eigelb wie die Sonne mit, Fleisch, Kartoffeln, Tomaten, Gurken, Zwiebeln, Zwetschgen und auch noch eine gefüllte Gasflasche für den Herd und fuhren in die Berge. Den ganzen Weg über fragte sie uns, warum wir nicht lieber zu Hause sitzen wollen. Dort haben wir doch alles. Kurz vor dem Berg begann sie zu jammern und zu stöhnen. Sie wollte, dass wir umdrehen. Wir ließen nicht locker. Sie aber auch nicht. Es blieb nur noch die letzte steile Waldstraße, die direkt zu meinem Haus führte, und in zwanzig Minuten wären wir oben. Aber sie wollte nicht mehr. Ihre Stimme wurde immer dünner. Wir mussten anhalten. Mir reichte es. Ich stieg aus, nahm mein Zeug und ging weiter zu Fuß. Sie blieb im Auto sitzen. Mein Berghaus hat sie nie gesehen, wie sie ihr Geburtsdorf Dębno nie mehr gesehen hatte. Überhaupt verließ sie ihr Haus mit der Sommerküche ungern. Was ist, wenn in der Zwischenzeit ihr Haus von Fremden okkupiert wird? Und wenn jemand vergessen hat, etwas auszuschalten und es verbrennt? Und dann dieses schreckliche Heulen der angeketteten Hunde.
Der kleine Andrij hatte keine Hunde zu Hause. Er konnte einen Teddybären mitnehmen und ein paar Kleider. Er weiß schon was Okkupation ist, und weiß, dass man an den fremden Streckenposten schweigen muss, damit man nicht stirbt. Vater hat ihm gesagt: sie spielen, er sei stumm, und unter keinen Umständen darf er etwas sagen, nur: U-u-u. Er hat kein Haus mehr und kein Meer, auch keine Mutter. Cherson erscheint manchmal in Träumen, aber nicht mehr oft. Er liebt Borschtsch und Warenyky mit Kartoffeln und Speck, und wenn wir uns sehen, sprechen wir zum Spaß mit karpatischem Dialekt und lachen. Ich würde ihn gern in mein karpatisches Haus mitnehmen, weil er die Berge liebt. Er war hier vor dem Krieg, aber es geht nicht. Er hat Angst vor Bomben, Silvester-Raketen und wenn jemand in der Schule ihn plötzlich von hinten erschreckt. Dann rennt er weg, versteckt sich und beißt sich in die Hand oder schlägt sich ins Gesicht, um nicht zu weinen. Weinen will er auf gar keinen Fall. Er ist schon groß und es ist Krieg. Drei lange elende Jahre schon.
In einem Bunkerkeller in Berlin hat man vor Kurzem eine Schrift entdeckt. Nach mehr als 80 Jahren war sie noch gut an den Wänden erhalten: 14 Frauennamen der Ostarbeiterinnen aus der Ukraine, die ihre kurzen Geschichten, wie auch ihre Namen für die Nachwelt aufgeschrieben hatten. Das Schreiben beginnt so: Hier waren Mädchen aus dem Gebiet Tscherkasy: Mokra, Pojdun, Tschernetscha, Warjanyzja, Manyk, Rudenko, Prytschadko … Man wolle herausfinden, was mit ihnen geschehen war. Vielleicht wolle man sogar über sie ein Buch schreiben.
Es fühlt sich einsam an, vor dem Haus zu sitzen und in die Berge zu schauen. Jedes zweite Haus steht leer. Auch ich gehöre nicht mehr hierher. Und wann gehörte ich irgendwohin? Heute kam ein Priester mit zwei Diakonen vorbei, um mein Haus, wie auch jedes andere Haus, ob leer oder nicht, mit geweihtem Jordan-Wasser zu segnen. Die Männer kletterten geübt über den Holzzaun und versanken im tiefen Schnee. Der Priester freute sich. Noch nie war er in diesem Haus, sei es gesegnet. Ich musste etwas sagen. Ob er nicht müde sei, über die weiten Berge durch den Schnee zu stapfen? So will es der gute Brauch, damit Jordan-Wasser das ganze Böse aus jedem Haus vertreibe und aus unserem Land. Die Diakone sangen noch kurz einen Segen und ich bekam heiliges Wasser ins Gesicht. Das Haus ist geliebt, sagte der junge Priester kurz und schaute sich um. Wenn jedes Haus geliebt wird, wird das Böse keinen Einlass zu ihm finden. Und was wir lieben, verteidigen wir. Es ist unser Recht und unsere Pflicht, sagte er wie zu sich selbst, und machte sich auf den Weg zu anderen Häusern. Wie oft wurden wir in diese Berge verdrängt, wie oft aus ihnen vertrieben? Jemand hat sie freiwillig verlassen, jemand starb für sie, jemand wird für sie sterben.
Maria erzählte, wie diese Berge in den 50er-Jahren von Sowjets erobert wurden. Leicht war es nicht. Männer wie Frauen verteidigten sich, so lange sie konnten, aber die Russen hatten viele Waffen und Panzer. Sie hatten nicht vor, in diesen Bergen selber zu wohnen. Sie wollten nur die Huzulen aus ihren Berghütten vertreiben. Als niemand freiwillig die Berge verlassen wollte, schnappten Soldaten, meistens nachts, die Männer, zwei, drei, vier auf einmal und schlugen sie so lange, bis sie ein Papier unterzeichneten, das ein Beweis sein sollte für ihre freiwillige Umsiedlung in die von den Polen verlassenen Häuser im Lviv-Gebiet. Auch Marias Vater mit dem Bruder und Onkel wurden erwischt. Und als sie am nächsten Tag mit blutigen Hemden heimkehrten, packten alle schweigend das Wichtigste. Die Pferdekutschen standen vor dem Haus bereit und warteten. Auf einer saß ein Mann in Uniform. Er rief immer das gleiche Wort, das Maria nicht verstand, aber alle merkten, dass er bald die Geduld verlieren würde. Maria war vierzehn und schon groß gewachsen. Bevor sie die Kutsche bestieg, schmierte die Mutter ihr etwas Ruß vom Ofen ins Gesicht und wickelte um ihre dicken Zöpfe ein altes Kopftuch. Die Erde hinter Lviv war sehr fruchtbar und die Häuser waren gut. In den Gärten wuchsen Kirschen und Morellen. Sie wusste nicht, dass sie so groß sein können. Zeit zum Pflücken gab es kaum, da alle von früh bis abends in der Kolchose arbeiten mussten. Nachts kamen manchmal die vertriebenen Polen und suchten im Garten und in der Scheune ihre Wertsachen, die sie vor der Deportation versteckt hatten. Da hatte Maria Angst. Viele hatten es. Es war ungeheuer, in den fremden Häusern zu leben, wo doch ihre eigenen leer in den Bergen standen. In den besser gebauten Häusern der Juden lebten die Parteigenossen.
Eines Tages ging Maria mit Freundinnen Kirschen pflücken. Da war ein leerstehendes Haus, niemand wohnte dort. Es war schade um die Kirschen. Da sahen sie an einem Baum einen Mann hängen. Er war leicht. Sein Körper schlug im Wind an den Baumstamm. Maria weinte zuhause. Von der Arbeit in der Kolchose hatte sie Rückenschmerzen. Nach einem Jahr packte ihr Vater ihre Sachen auf die Pferdekutsche und sie verschwanden nachts Richtung Karpaten. Nach und nach verließen die Huzulen die fremden Häuser und kehrten in ihre Berge zurück, zu ihrem harten unfruchtbaren Boden, zu ihrer Tannenluft und dem Heu.
Die mit der Sense gemähten Wiesen, die dunklen Felder ergreift der Wald. Es gibt nicht genug Männer, die gegen das Wachstum der Bäume ankämen. Iva hat uns im letzten Jahr noch geholfen. Jetzt ist er auch weg. Auch der Sohn von Dzumyha. Sein einziger. Gestern traf ich ihn mit seiner Frau den Berg hoch ächzen. Beide hatten je einen Sack auf der Schulter und schnauften. Es war Futter für die Kuh. Christus ist geboren, seufzte die Frau von Dzumyha und senkte wieder den Kopf wie ein müder Ochse.
Es ist tröstlich, dass Christus in diesen Bergen den ganzen Winter geboren wird und nicht so wie in den Großstädten, geregelt, nur an einem einzigen Tag. Er muss jeden bitterkalten Tag geboren werden, sonst hält man es hier nicht aus.
Yaroslava Black, geboren 1973, Priesterin, Berlin