Von Syrien nach Deutschland Auf der Suche nach meiner geistigen Bestimmung

AutorIn: Fedaa Aldebal

Ich bin in Syrien aufgewachsen und von ­Geburt Druse. Die Drusen haben eine geheime Lehre, die nur denjenigen allmählich geoffenbart wird, die sich einweihen lassen. Das Thema Wiedergeburt gehört jedoch ganz selbstverständlich zur Kultur der Drusen. Oft erfahren drusische Kinder im Alter zwischen 3 und 4 Jahren eine spontane Rückerinnerung an ihr vorheriges Erdenleben, so auch mein Vater, ­Onkel, meine Großmutter und viele weitere Freunde und Verwandte. Die Fälle, die ich persönlich kenne, sind meist Fälle von Menschen, die im vorhergehenden Leben eines gewaltsamen Todes gestorben sind und sich direkt oder nach kurzer Zeit wieder inkarnierten. Es ist bei uns üblich, wenn sich ein Kind an sein vorheriges Erdenleben erinnert, dass seine Eltern Kontakt zu der Familie des Verstorbenen aufnehmen und man sich möglicherweise oft besucht.
Ich selbst habe mich in dieser ­Lebensphase nicht an das vorige Erdenleben erinnert. Statt dessen hatte ich eine tiefe Ich-Erfahrung, die gleichzeitig meine früheste Erinnerung ist und die ich heute noch in vielen Einzelheiten vor ­Augen habe: Ich war alleine auf dem Weg zu meiner Tante, die gleich um die Ecke ­wohnte, und ich fragte mich, ob ich die Straßenseite selbst gewählt hatte oder ob etwas/jemand anderes sie bestimmt habe. Dies war der Ausgangspunkt für meine erste eigene Frage, welche mich mein ganzes Leben lang begleitete – die Frage nach dem freien Willen. Dabei entwickelte sich eine Sehnsucht in mir, darüber hinaus zu schauen in die verborgenen Welten, in das Jenseits. Ich war mir sicher, dass es eine Wahrheit gibt, die zu ­erfahren ist. Jeden Tag versprach ich mir selbst, nie aufzuhören, nach der Wahrheit zu suchen und mich nie mit dem zufrieden zu geben, ­womit sich die meisten Erwachsene zufrieden gaben.
Mein Weltbild wurde auf den Kopf gestellt mit der ersten Chemiestunde und dem Modell der Atome und Moleküle. Da ein Atom wie ein Sonnensystem aussieht, kam ich auf den Gedanken: Wenn Atome ein Teil meines Leibes und meiner Seele sind, dann könnten darauf Lebewesen existieren. Für diese Lebewesen bin ich folglich wie Gott. Ich kann sie jedoch weder wahrnehmen, noch kann ich mich erinnern, dass ich sie geschaffen habe. Ich kann sie auch weder in die Hölle noch ins Paradies schicken. Ich spann nun größere Kreise: Demgemäß besteht die Möglichkeit, dass auch ich in einem größeren Wesen lebe, das mich nicht wahrnehmen und mich weder in die Hölle noch ins Paradies schicken kann. Dieses Wesen nennen die Menschen Gott. Meinem Gedankengang zu Folge ist er aber, wie ich, nicht allmächtig wie behauptet und daher verdient er auch nicht die Bezeichnung Gott. Ich kam zu dem Schluss, dass es keinen Gott geben könne, höchstens eine größere Dimension, ein größeres Wesen, in dem wir leben.

Erst eine seelische Krise und anschließende ­tiefe geistige Erfahrung im Alter von ungefähr 19 Jahren – das war, als der Krieg in Syrien noch ganz neu war – brachte mich wieder zurück zu meiner Suche nach den verborgenen Welten, meinem eigenen Wesen und meiner Aufgabe.
Diese Erfahrung zeigte mir, dass man durch eine innerliche Besinnung tiefe Wahrheiten erfahren kann. Im Nachklang dazu kam ich auf die Idee, dass es eine Methode geben müsse, übersinnliche Welten in einer wissenschaft­lichen Weise zu erforschen. Da ich immer wissenschaftlich gestimmt war, wollte ich mit Hilfe der Quantenphysik eine Brücke zwischen den Welten schlagen. Durch ein Physikstudium in Syrien hätte ich höchstens Physiklehrer werden können, aber der Lehrerberuf war nie mein Ziel. Daher gab ich die Pläne, Physik zu stu­dieren, auf und schrieb mich stattdessen im Studienzweig Elektro- und Ingenieurwissenschaft ein. Das Studium erfüllte mich nicht, und ich fühlte mich abgelenkt von meiner eigentlichen Aufgabe.
Immer wieder grübelte ich darüber nach, dass bestimmt auch andere Menschen ähnliche Erfahrungen geistiger Besinnung gemacht haben müssten, wie ich damals im Alter von 19 Jahren. Die Summe ihrer Erfahrungen müsste doch in eine Art »Geisteswissenschaft« münden. Daher begann ich auf Arabisch und auf Englisch nach »spiritual science« zu googeln. Die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners fand ich dort nicht. Was ich fand, war etwas über die Yoga-Lehren und andere gängige spirituelle Disziplinen. Das aber hatte ich nicht gesucht.

Da ich nicht fand, was ich suchte, kam der Wunsch zu sterben in mir auf. Es war eine Zeit des Aufgebens, der Kraftlosigkeit. Ich sagte: »Gott, nimm mich zu dir; ich kann die wichtigste Frage meines Lebens hier nicht klären.« Ich lebte in Dscharamana bei Damaskus, einer Stadt, die jeden Tag mit mindestens 40 Raketen beschossen wurde. Ein paar Tage nachdem ich den Sterbewunsch formuliert hatte, musste ich ins Rathaus und war gerade dabei, es wieder zu verlassen, als eine Rakete direkt vor dem Eingang des Rathauses explodierte, die mich ­eigentlich hätte erwischen müssen. Davor hatte ich mich noch geärgert, dass die Bearbeitung im Rathaus so lange gedauert hatte. Ich habe dann mitgeholfen, gliederlose Leichen in Pickups zu tragen, während ich dachte, dass ich eigentlich unter den Toten hätte sein müssen. Ein paar Tage später hatte ich eine Begegnung mit zwei Menschen, die mir erzählten, dass sie fühlten, dass sie sterben würden. Am folgenden Tag ­kamen beide ums Leben, als nacheinander drei Autobomben auf dem Weg zu meiner Universität explodierten. Normalerweise wäre ich zu dieser Zeit an eben dieser Stelle gewesen, aber ich hatte verschlafen. Es waren um die 350 Tote. Blut war überall und stand einige Zentimeter hoch auf der Straße.
Da wurde mir klar, dass die Zeit zum Sterben noch nicht gekommen war und ich irgendwann die Wahrheit noch erfahren würde. Diese Sicherheit erfüllte mich plötzlich sehr stark.
Ein paar Wochen später hatte ich das Geld für eine Flucht nach Europa beisammen. Ich wollte nach Schweden fliehen, weil ich erfahren hatte, dass man dort auf Englisch studieren konnte. Meine Flucht dauerte ca. 30 Tage. Ich hatte die Wahl, mittels eines gefälschten Passes direkt nach Stockholm zu fliegen (auf die Gefahr hin, am Flughafen erwischt und nach Syrien zurückgeschickt zu werden) oder eine Flucht durch die algerische und libysche Wüste an­zutreten, die dann über das Meer nach Italien führen würde, um bei lebender Ankunft auch tatsächlich in Europa bleiben zu dürfen. Ich habe den zweiten, sehr anstrengenden Weg gewählt. In Libyen wurde ich mit einer Gruppe von Menschen entführt, in einen Transport-Van (ohne Sitzplätze) gepfercht und mit Decken abgedeckt, um uns vor der lybische Polizei zu verstecken. Die Hitze war schon ohne Decken nicht zu ertragen. Wir konnten kaum atmen. Unser Entführer war ein Schlepper, der unser Geld wollte. Nach etwa sieben Tagen brachte er uns auf ein Boot. Wir waren Hunderte von Menschen auf einem kleinen Boot. Nach drei Tagen kam ich in Italien an. Von Italien aus fuhr ich mit dem Zug nach Frankreich. In Paris musste ich zehn Stunden auf den Zug warten, der mich nach Schweden bringen sollte. Obwohl ich immer Paris sehen wollte, hatte ich keine Kraft mehr, auch nur einen einzigen Schritt aus dem Bahnhof heraus zu machen. Ich war lustlos und wortwörtlich zutiefst erschöpft. Während ich mich dann endlich im Zug quer durch Deutschland befand, wurde ich schließlich von der deutschen Polizei ohne Visum erwischt. Das bedeutete, dass ich nicht weiter nach Schweden fahren durfte. Ich musste in Deutschland bleiben und hier Asyl beantragen. Für mich war dies sehr tragisch, denn dies bedeutete, dass ich auch noch Deutsch lernen musste, bevor ich anfangen konnte zu studieren. In meinen ersten 30 Tagen in Deutschland hatte ich jedoch viele Déjà-vus, die mir zeigten, dass ich hier doch richtig war. Ich konzentrierte mich dann auf die Sprache. Ich sagte mir: Jede Sprache hat einen Geist; den gilt es zu empfangen. Ich konnte den Geist der deutschen Sprache sehr schnell zu mir holen und sprach von Anfang an fast akzentfrei.
Nach acht Monaten war ich in einem Café, um für einen Freund zu dolmetschen. Ein 48-jähriger Mann namens Ulrich kam auf mich zu und wir begannen ein Gespräch. Wir sprachen stundenlang, ohne müde zu werden. ­Äußerlich wirkte er sehr schlicht und einfach. In ihm steckte aber unglaublich viel Tiefe und Wissen – ein Wissen, das mein Leben veränderte. Ich erzählte ihm von meinem Ziel, eine wissenschaftliche Brücke in die geistige Welt zu schlagen. Obwohl er kein Anthroposoph war, erzählte er mir von Rudolf Steiner und sagte, dass mein Weg in die Anthroposophie münden sollte. Er sagte aber, dass es kein Anthroposophie-Studium in Deutschland gäbe. Man könne nur Waldorfpädagogik studieren. Das sei der schnellste Weg, von der Anthroposophie zu erfahren. Das war für mich enttäuschend. Ich wollte nie Lehrer werden. Im Lehrerleben, das ich von meinen ­Eltern kenne, gibt es keine Zeit zum eigenen Forschen. Man lebt für die Schule. Ich wollte aber noch forschen und beide Welten entdecken. Daher lehnte ich seinen Vorschlag erst mal ab. Er war ziemlich empört. Für ihn stand fest, dass mein Weg die Anthroposophie sein müsse. Meine Freundschaft mit ihm blieb. Ich lebte dann sogar eine längere Zeit bei ihm und seiner Familie, wodurch er oft die Möglichkeit hatte, mich von der Idee, Physik zu studieren, zum Studium der Waldorfpädagogik zu bringen. Irgendwann dachte ich: »Vielleicht bin ich gefangen in meinem eigenen Intellekt. Ich befreie mich davon und bitte um ein Zeichen, was ich studieren soll.«
Eines Tages wurde ich im Zug von einem wildfremden Menschen gefragt, ob ich ein ­»Waldorfmensch« sei, was ich aber nicht als Zeichen wahrnahm. Einen Monat vor Ende der Bewerbungsfrist für die Universität erneuerte ich die Bitte um ein Zeichen. Am selben Tag saß ich in meinem Deutschkurs, als sich die neue Deutschlehrerin plötzlich zu mir umdrehte und rundheraus fragte, ob ich irgendetwas mit der Waldorfpädagogik zu tun hätte. Wie sie darauf kam, konnte sie mir nicht erklären. Das habe ich schließlich als ein Zeichen anerkannt und mich dann für das Studium der Waldorfpädagogik beworben. Am ersten Tag des Studiums begannen wir mit dem Buch Die Philosophie der Freiheit, in dem es u.a. darum geht, ob der Mensch ­einen freien Willen hat. Da wusste ich, dass ich angekommen war. Zwei Wochen nach Beginn des Studiums starb Ulrich an Krebs, nachdem er mich noch mit »Mein Student!« hatte begrüßen können. Nach seinem Tod kamen noch viele ­Impulse von ihm zu mir durch.
Mein Studium war voller spannender Entdeckungen. Ich habe die Anthroposophie auch unabhängig vom Studium weiter gepflegt und viele Werke Steiners gelesen. Das erste Werk war Das fünfte Evangelium. Es war so, als ob ich ein Erlebnis und Verständnis von Christus noch gebraucht hätte, um einen echten Zugang zur Anthroposophie zu finden. Im Masterjahr und neben meiner Vertiefung in die anthroposophische Esoterik, habe ich angefangen, die erkenntnistheoretische Seite der Anthroposophie zu entdecken. Aufgrund dieser schrieb ich eine Masterarbeit, die die Existenz höherer Welten erkenntnistheoretisch zu sichern sucht. Danach unterrichtete ich zunächst als Lehrer an einer Waldorfschule. Das Schicksal wollte es aber anders und führte mich wieder zur anthroposophischen Forschung zurück – zu dem, was ich eigentlich wollte. So habe ich dann im Rahmen der Akanthusakademie ein goetheanistisches Projekt angefangen. Danach habe ich eine erkenntnistheoretische Forschung im Rahmen der anthroposophischen Forschungsförderung begonnen, die sich mit der Frage befasste: Wie kann man Mitteilungen geistiger Forschung überprüfen? Diese Arbeit habe ich im September 2024 abgeschlossen. Ich konnte einige Methoden zur Überprüfung erkenntnistheoretisch darstellen. Während ich noch an der Forschung arbeitete, wurde ich gefragt, ob ich die Leitung der Zentralbibliothek der Anthroposophischen Gesellschaft von Jörg Ewertowski übernehmen könnte. Tatsächlich bin ich dort nun tätig. Genau an diesem Ort, in der Bibliothek unter den weisheitsvollen Büchern, befindet sich »mein Paradies«.

 

Fedaa Aldebal, geboren 1993,
Waldorflehrer, seit 2024 Leiter der Rudolf Steiner Bibliothek in Stuttgart