Von der Unfreiheit zur Freiheit im Opfer Ein gewagter Zusammenhang (1)

AutorIn: Ruth Ewertowski

Im Deutschen steht das Wort »Opfer« für ganz verschiedene Sachverhalte: Zum einen kennen wir das Opfer als eine religiöse Handlung, bei der einer göttlichen Macht ein bestimmtes »Objekt« dargebracht wird. Dieses Objekt selbst wird ebenfalls als Opfer bezeichnet. Auch in ­einem weltlichen Zusammenhang kann ein ­Opfer gebracht werden. So können Eltern für die Ausbildung ihrer Kinder Opfer bringen. Zum anderen aber – und wohl am häufigsten – begegnet uns der Begriff im Zusammenhang mit Gewaltereignissen, bei denen sich die Frage nach dem Warum stellt: Warum musste das sein? Was geschehen ist, ist ungerecht. Das gilt für die Opfer von Naturkatastrophen, Krankheiten, Unfällen, Kriegen und Verbrechen.
Ursprünglich nannte man die Opfer, die in einem kultischen Zusammenhang einem übersinnlichen Wesen dargebracht wurden, victimae und den Akt der Darbringung selbst das sacrificium. Heute kennen wir die victimae fast ausschließlich in jenem weltlichen Zusammenhang, in dem Lebewesen, zumeist Menschen, leidvoll zu einem Opfer werden. Es sind all die Opfer, die auf Englisch victims und auf Französische victimes heißen.
Dem Opferleid steht die bewusste Opfertat gegenüber. Letztere aber bringt heute keine ­victimas mehr dar. Das Opfer eines Lebewesens gibt es heute legitim auch in einem sakramentalen Zusammenhang nicht mehr. Gleichwohl wird an der früheren Opferung eines Leben­digen auf dem Altar deutlich, um was es beim Bringen eines Opfers im höchsten Sinne geht: um die Vorbehaltlosigkeit, die Unumkehrbarkeit. Für diese stand die Tötung ein. Die Opfergabe muss unschuldig und rein sein, weil der Bezug zum Göttlichen nicht durch etwas Mangelhaftes gestiftet werden kann, dessen man sich vielleicht sogar entledigen möchte. Das ­Darbringen eines Opfers muss bedingungslos sein, und es ist mehr als ein bloßer Verzicht. Auch der Gebende tut sich in der Gabe eine Art Gewalt an: Er überwindet sich selbst. Ist das nicht der Fall, so ist das Opfer eher ein Almosen, ein Geschenk, eine Spende und hat nicht die umwälzende Bedeutung einer existenziellen (Da-)Hingabe.
Das Besondere an der Gewalt, die sich ein Opfernder antut, ist die Freiwilligkeit. Sie steht in einem absoluten Gegensatz zum Opfer-Werden, denn dieses ist ein Ereignis äußerster Unfreiheit. Und genau genommen betrifft die Freiheit im Opfer-Bringen noch einen anderen, einen subtilen Punkt, der mit einer Freiheit im höchsten Sinne zusammenhängt: Das Opfer darf nicht mit einem bestimmten Zweck, der mit ­einem Nutzen für den Opfernden verbunden ist, gebracht werden. Denn jedes »Opfer«, das um eines größeren Vorteils willen einen kleineren »aufopfert«, ist eigentlich kein Opfer und unterscheidet sich im Grunde nicht von ­einem Geschäft. Auf der Vermischung von Opfergeist und Ökonomie zielt seit alters die Kritik: Schon im Alten Testament fordern die Propheten das Streben nach Gerechtigkeit, Liebe und Gottes­erkenntnis, statt der Opfer.2 Und Platon kritisiert im Dialog Politeia die Vorstellung, dass die Götter bestechlich seien und durch ein Opfer dazu bewegt werden könnten, etwas für den, der es bringt, zu tun. Frei ist der nicht, der nur deshalb ein Opfer bringt, damit es ihm gut geht; er unterliegt vielmehr ganz den ökonomischen Verhältnissen dieser Welt.
Freiheit im höchsten Sinne liegt gerade in der Fähigkeit des Menschen, ein Opfer zu bringen, das ihm keinen Vorteil bringt. Es macht in seiner Freiheit gerade seine Würde aus, ganz von sich selbst absehen zu können. Gewissermaßen komplementär dazu steht auf der anderen ­Seite die äußerste Unfreiheit im Opfer-Werden. Dies geht auch damit einher, dass dem Opfer einer Gewalttat seine Würde genommen zu werden droht. Deren Unantastbarkeit, wie sie unser Grundgesetz festhält, wird dabei als eine Forderung missachtet. Doch als letztlich unangreifbare Tatsache bleibt sie auch dann noch bestehen. Dass sie dem Menschen nie ganz ­genommen werden kann, begründet seine ­Chance, auch noch im schlimmsten Leid, das er durch andere Menschen erfahren hat, sich seiner Freiheit zu vergewissern. Das lässt sich kaum vorsichtig genug sagen, denn die Gefahr dabei ist immer die, dass man den Täter entlastet. Doch rein gar nichts kann die Vergewaltigung eines Opfers entschuldigen. Dass aber auf der anderen Seite ein Opfer dem Täter verzeihen kann, hat in einem gewissen Sinn etwas von jener Freiheit und Würde, die dem Opfer-Bringen im höchsten Sinne eignet. Ein solches Verzeihen hat Anteil an der Tat Christi.
Christus, der am Kreuz zum Opfer eines entwürdigenden Verbrechens wird, verwandelt die Kreuzigung in die Erlösung. Die Tat ­Christi ­besteht in der Verwandlung der Ohnmacht des Erleidenden in die Erhabenheit des Opfer-­Bringens – der Hingabe. Darin liegt der Kreuzungspunkt von Materie und Geist, von Leid und Tat, von Welt und Ich – von einem Zum-Opfer-Werden mit einem Opfer-Bringen.
Dass das Opfer im Sinne von victima mit ­einem sacrificium verbunden werden kann, das hat Christus in seiner Vollendung einmalig und letztgültig vollzogen – nämlich so, dass in seiner Erlösungstat aller Opferdienst endet. Was bleibt ist die rituelle Teilnahme am sakramentalen Opfer der Eucharistie, in dem Christus in ­Gestalt von Brot und Wein dargebracht wird. Dabei ist es die Sache jedes Einzelnen, in der symbolischen Handlung die Hingabe Wirklichkeit werden zu lassen. In dieser Hingabe vereinigt sich der Mensch als Opfer-Bringender sowohl mit Christus als auch mit der Welt, der er damit nicht mehr zum Opfer fallen kann.
Dass sich die beiden Opferbedeutungen berühren und dass sie aktiv ineinander überführt werden können, hat etwas mit der höchsten Möglichkeit des Menschseins zu tun. Äußerste Ohnmacht und höchste Freiheit können sich in der Koinzidenz von Zum-Opfer-geworden-Sein und erbrachtem Opfer ereignen. Da, wo es sich ereignet, findet das statt, worum es Rudolf ­Steiner in seiner Anthroposophie immer wieder ging: die Initiation. Natürlich mag es die auch in abgeschwächter Form geben, letztlich aber ist Anthroposophie als »Wissenschaft vom Geist« eine Wissenschaft von der Einweihung, und die kann man sich nicht mit irgendwelchen »wissenschaftlichen Methoden« aneignen, sie steht vielmehr für ein intensives Sich-Einleben in die höchste Freiheit des Menschen, die er erst dann hat, wenn er in ein Geistverständnis findet, bei dem Geist nicht einfach in Opposition zur Materie steht. Die Materie ist stets in der Lage, einen Menschen zum Opfer zu machen. Als geistiges Wesen aber ist der Mensch in der Lage, sich dies ganz zu eigen zu machen, und zwar im Einwilligen in das, was zugemutet wird. Das ist mit einer Selbstüberwindung verbunden, die den Charakter des Opfer-Bringens hat. Sie wird ein Stück weit vom jeweiligen Selbst geleistet. Sie muss aber auch gewährt werden. Die Initiation lässt sich als ein gelungenes Opfer beschreiben, und dieses bedarf einer Mitwirkung des Geis­tigen selbst, denn sie ist unverfügbar, also nicht durch bloße Willensanstrengung machbar. In ihr wird im Sinne eines Glückens das Widrige in ein Sinnhaftes gewendet. Leichter lässt sich das vielleicht am Karmagedanken nachvollziehen: Im Karma werden wir quasi immer wieder zu Opfern, die wir aus der Sicht unseres höheren Selbstes auch zu bringen bereit sind. Das Erleiden wird in die Tat gewendet, mit der wir zwischen dem oft so sehr Getrennten eine Verbindung schaffen, nämlich zwischen Welt und Ich.

 

1  Siehe zu dem Grundgedanken dieses Beitrags auch mein Buch: Das Opfer. Zwischen Schicksalsschlag und heiliger Handlung, Stuttgart 2005.

 2  Siehe Amos 5,24; Hos 6,6.