»Wer bin ich? Sie sagen mir oft ...« Dietrich Bonhoeffer zum 80. Todestag
Viele 80-jährige Gedenken erfüllen die erste Hälfte des Jahres 2025. Eines galt der Befreiung der noch lebenden Menschen aus dem Konzentrationslager Auschwitz. Diese Befreiung war schon Monate vorher geschehen, als Dietrich Bonhoeffer am 9. April 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg von den Nationalsozialisten umgebracht wurde. Noch viele andere starben in den letzten Wochen, ja Tagen vor der endgültigen Kapitulation, und es bleibt eine bittere Frage zurück: Warum mussten sie so kurz vorher noch ihr Leben lassen – sie, die in der Zeit danach so dringend gebraucht worden wären?
Es gilt, diese Bitterkeit zu verwandeln – in ein Fragen in die Zukunft hinein: Wie können geistiges Zusammenwirken, Tragen und Helfen im Miteinander mit den damals für die Menschlichkeit Engagierten entstehen? In diesem Sinne ist das Folgende gemeint.
Biographisches nur in Kürze: Dietrich Bonhoeffer kam am 4. Februar 1906 in einer sehr gebildeten protestantischen Arztfamilie zur Welt und wuchs in Berlin auf. Schon als Jugendlicher beschloss er, Theologie zu studieren. Der Tod eines älteren Bruders im Ersten Weltkrieg und später ein Auslandsjahr in den USA prägten sein Suchen nach christlichem Pazifismus. Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland engagierte er sich in der übernationalen Ökumene, um eine klare Stellungnahme dagegen zu bewirken. Gleichzeitig leitete er ein Predigerseminar, das nach dem Verbot als Sammelvikariat unter einfachsten Bedingungen als Gemeinsames Leben1 weitergeführt wurde. Nach Rede- und Schreibverbot übernahm er Reiseaufträge für das Amt der militärischen Abwehr – offiziell, um seine durch die Ökumenearbeit entstandenen Kontakte dafür einzusetzen, in Wirklichkeit aber, um für den Widerstand und den geplanten Umsturz Unterstützung im Ausland zu suchen. Am 5. April 1943 wurde er verhaftet. Zu Jahresbeginn erst hatten sich Maria von Wedemeyer und er verlobt; sie haben sich nie wieder in Freiheit gesehen. Seine letzten zwei Lebensjahre verbrachte Bonhoeffer in Haft.
Die Gedanken, die er zu Theologie und Kirche in den überwiegend geschmuggelten Briefen aus dem Gefängnis an seinen etwas jüngeren Freund Eberhard Bethge schrieb, seinen späteren Biographen und Herausgeber, regen bis heute Leser wie auch die theologische Diskussion immer wieder an:2 Was meinte er mit »religionslosem Christentum«? Wegweisend ist immer noch sein Gedanke, Gott nicht als »Lückenbüßer« am Rande des menschlichen Erkennens einzusetzen, sondern ihn mitten in der Welt, im Erkannten, im Leben zu finden:
In dem, was wir erkennen, sollen wir Gott finden, nicht aber in dem, was wir nicht erkennen; nicht in den ungelösten, sondern in den gelösten Fragen will Gott von uns begriffen sein. Das gilt für das Verhältnis von Gott und wissenschaftlicher Erkenntnis. Aber es gilt auch für die allgemein menschlichen Fragen von Tod, Leiden und Schuld. … Gott ist auch hier kein Lückenbüßer; nicht erst an den Grenzen unserer Möglichkeiten, sondern mitten im Leben muss Gott erkannt werden; im Leben und nicht erst im Sterben, in Gesundheit und Kraft und nicht erst im Leiden, im Handeln und nicht erst in der Sünde will Gott erkannt werden. Der Grund dafür liegt in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Er ist die Mitte des Lebens und keineswegs »dazu gekommen«, uns ungelöste Fragen zu beantworten.3
Seine eigene Lebensfreude und seine Lebenssehnsucht, die im Gefängnis ganz existeziell wurden, sprechen besonders aus den »Brautbriefen«, dem Briefwechsel mit seiner Braut Maria von Wedemeyer.4
Es ist ein halbes Jahrhundert her, dass ich Widerstand und Ergebung zum ersten Mal las und darin Wegweiser für mein eigenes Suchen im Christentum fand: Suche eine Kirche, die ganz auf äußere Macht verzichtet; suche ein neues, unbefangenes Denken für die Grundwahrheiten des Christentums und für die Fragen zwischen Religion und Naturwissenschaft. Halte Ausschau danach, wo mit Heiligem – Evangelium, Gottesdienst, Lied … – wertschätzend und pflegend gelebt wird. – Das alles war wichtig, und dafür bin ich Bonhoeffer weiterhin dankbar.
Inzwischen beeindruckt mich aber noch etwas ganz anderes an ihm: Bonhoeffer war ein hoch gebildeter, klar und schnell denkender, zielstrebig handelnder Mensch. Er wusste, was er wollte und warum. Er wusste, wofür er einstand, und war sich der Gefahr des Todes bewusst. Zugleich aber blieb er immer ein Fragender – er stellte auch sein Denken, sein Tun, sein Umgehen mit seiner Situation und der seiner Braut und mit seiner Familie immer wieder in Frage. Er, der seiner Sache so sicher war, dass er einer ganzen Synode der Ökumene Bescheid gab; er, der sein großes Anliegen – die Ausbildung der Vikare für die Bekennende Kirche – auch illegal und im Geheimen fortführte, ja, der für seine Überzeugung zu sterben bereit war – er hat sich immer wieder hinterfragt. Das wird in zwei Zeugnissen besonders deutlich: in dem Text Nach zehn Jahren, den er zu Weihnachten 1942 einigen Freunden gab, und in dem Gedicht Wer bin ich … (Juli 1944).5 Noch eher allgemein nachdenkend schrieb er in Widerstand und Ergebung unter der Überschrift Sind wir noch brauchbar? das Folgende:
Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung misstrauisch gegen die Menschen geworden …Wird unsere innere Widerstandskraft gegen das uns Aufgezwungene stark genug und unsere Aufrichtigkeit gegen uns selbst schonungslos genug geblieben sein, dass wir den Weg zur Schlichtheit und Geradheit wiederfinden?
Ganz auf sich selbst und auf seinen christlichen Glauben angewiesen, durchlebte er solches Fragen in der Gefängniszelle. Und darin liegt, so scheint mir, eine besondere Qualität, die gerade auch gegenüber den Qualitäten neu ist, die er schon als gebildeter treuer Christ und Pfarrer und als Widerstandskämpfer gezeigt hatte.
Auch heute, 80 Jahre später und in einer veränderten Zeit braucht das Hinterfragen, das Suchen, das Offenhalten, ja auch Aushalten von Spannungen und Ungelöstem sehr viel Mut. Dass Bonhoeffer diesen hatte und nicht weg-, sondern hinschaute, dafür bin ich ihm heute besonders dankbar. Für diesen besonderen Mut des Fragens soll sein Gedicht am Schluss dieses Dankes stehen.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von
mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen,
nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen
ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!
1 Sein Buch dieses Titels erschien 1939.
2 Zur Biographie, zu aktuellen Veröffentlichungen und Veranstaltungen usw. vgl.: »Bonhoeffer Portal« (dietrich-bonhoeffer.net). Dort findet sich z.B. eine Stellungnahme seiner jetzt lebenden Verwandten gegen aktuelle Vereinnahmungen durch Evangelikale und Rechtspopulisten. Auch: ein … aufgefundener Brief von ihm an Mahatma Gandhi, den er besuchen wollte, um dessen Friedensweg und Pazifismus genauer kennenzulernen.
3 Brief vom 29.5.1944, in: Widerstand und Ergebung (div. Ausgaben und Auflagen).
4 Brautbriefe Zelle 92, Dietrich Bonhoeffer und Maria von Wedemeyer, hrsg. Von Ruth-Alice von Bismarck und Ulrich Kabitz, München, 7 Auflagen 1994–2016.
5 Beide Texte in: Widerstand und Ergebung. Ein Exemplar von Nach zehn Jahren fand sich später unter Dachsparren des Elternhauses.
Dorothee Jacobi, Priesterin, geboren 1955, Basel