Das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren – Aus der Sicht einer Pfarrersfamilie

AutorIn: Wolfgang Gädeke

Mein Vater Friedrich Gädeke, Jahrgang 1896, war im Ersten Weltkrieg Soldat gewesen. Sein geliebter sechs Jahre älterer Bruder, der bei Professor Hermann Beckh in Berlin Sanskrit studiert hatte, war 1916 gefallen und er selber mit Verwundungen nach Kriegsende und Revolution aus französischer Gefangenschaft geflohen, desillusioniert und seines christlichen Glaubens beraubt, in das väterliche Pastorat in Travemünde zurückgekehrt. Er studierte auf Lehramt in Leipzig und Marburg und wurde in Kassel Lehrer für Deutsch und Geschichte.
Dort lernte er den frisch zum Priester der Christengemeinschaft geweihten Johannes Hemleben kennen, dem er seine Zweifel und Fragen in Bezug auf Weltanschauung und Religion stellen konnte. In langen Gesprächen fand er durch ihn den Weg zur Anthroposophie und zum erneuerten Kultus. Nach der Eheschließung und der Geburt dreier Kinder fand er eine Stelle als Studienrat in Ostpreußen und arbeitete in der Anthroposophischen Gesellschaft und den Gemeinden der Christengemeinschaft in Danzig und Königsberg aktiv mit. Sein ursprünglicher Wunsch, Pfarrer zu werden, tauchte wieder in ihm auf, und nach Gesprächen mit den Oberlenkern Gertrud Spörri, Emil Bock und Friedrich Rittelmeyer, die anlässlich von deren Gemeindebesuchen stattfanden, konnte er sich schließlich beurlauben lassen, 1934 an das Priesterseminar nach Stuttgart gehen und 1935 die Priesterweihe empfangen. Er wurde nach Bremen entsandt und arbeitete bis 1941 mit seiner Kollegin Ida Stümcke in der dortigen Gemeinde, besonders in der Jugendarbeit.
Beim Verbot der Christengemeinschaft durch die Nationalsozialisten wurde er am 9. Juni 1941 in Nürnberg verhaftet, kam aber nach abenteuerlichem Transport durch mehrere Gefängnisse nach gut 14 Tagen in Bremen wieder frei. Der Kultraum der Gemeinde war ausgeräumt, Gewänder, Kelch und Altarbild versteckt worden, und er musste sich wegen des Berufsverbotes eine neue Erwerbsarbeit suchen und fand sie, zunächst als Zöllner im Hafen, später in der Verwaltung, im »Fliegerschadenersatzamt«.
Auch Ida Stümcke konnte, wie er, in Bremen bleiben und die persönliche Beziehung zu den Gemeindegliedern aufrechterhalten. Bei Todesfällen übernahmen zwei Mitglieder die Trauerfeier im Krematorium durch Ansprache und Gebet, und Friedrich Gädeke spielte dazu auf seinem Cello.
In seinem Tagebuch notierte er akribisch die Bombenangriffe der Alliierten und die angerichteten Zerstörungen. Die Kinderschar war inzwischen auf fünf angewachsen, die im Laufe der Jahre des Krieges für unterschiedlich lange Zeiten bei Verwandten, Freunden und Bekannten weit außerhalb der Reichweite der Bomber in Sicherheit gebracht werden konnten.
Wenige Wochen nach der Geburt des sechsten Kindes im Mai 1943, ereignete sich Ende Juli der erste große Flächenangriff auf Hamburg mit über 30.000 Toten. Flugblätter der Alliierten, die auf ­Bremen abgeworfen wurden, kündigten an: »Ihr seid die nächsten«. Da gelang es, noch im August 1943, durch Vermittlung und Bemühung der Schwester von Claus von der Decken, dem Gründerpriester und Freund, die Familie ins 30 km entfernte Bassum zu evakuieren und für sie im dortigen adeligen Damenstift, einem ehemaligen Kloster, eine wenn auch sehr be­engte so doch sichere Bleibe zu erhalten.
Am 17. Oktober 1943 taufte Friedrich ­Gäde­ke trotz des Verbotes seinen jüngsten Sohn, und sein  zur Wehrmacht eingezogener Kollege Wilhelm Hoerner wurde einer der beiden Paten. Der ­an­dere, Max Zeidler, ein treues Mitglied der Gemeinde, der seit dem Verbot der Christengemeinschaft verstorbene Mitglieder in Zivil be­stattet hatte, verstarb wenig später im März 1944.
Friedrich Gädeke musste wegen seines Berufes in Bremen verbleiben, fuhr aber so oft er konnte mit der Bahn nach Bassum zur ­Familie. Er konnte weiter in der Familienwohnung leben, in die er eine Familie aus der Nachbarschaft aufnahm, deren Haus durch Bomben zerstört worden war. Der Vater dieser Familie war bei einer Spedition angestellt und ermöglichte es, im Dezember 1943 einen großen Teil des Hausstandes und der Möbel der Familie nach Bassum zu transportieren, einen Tag bevor eine Bombe das Wohnhaus total zerstörte.
1944 wurde der älteste noch 15-jährige Sohn, Wilhelm, als Flakhelfer eingezogen. Er litt an einem Leistenbruch. Die Eltern beschlossen, diesen zunächst nicht operieren zu lassen, um im Falle einer Einberufung des Jahrganges 1928 zur Wehrmacht eine legale Möglichkeit zu haben, ihren Sohn befristet vor der Einberufung zu bewahren. Da ihnen das nahe Kriegsende und die wahnsinnigen Durchhalteappelle der Nationalsozialisten deutlich vor Augen standen, erschien ihnen jede Woche des Aufschubs kostbar bis lebensrettend. Es kam, wie sie es vorher bedacht hatten: Der Jahrgang 28 wurde Anfang 1945 einberufen und Wilhelm kam in eine Klinik zur Operation seines Bruches. Das rettete ihm das Leben, denn einige seiner Jahrgangskameraden sind im April 1945 wenige Kilometer nördlich von Bassum noch gefallen. Ich habe selber in den fünfziger Jahren an der alten Reichsstraße 51 zwischen Bassum und Bremen, wo die flache Marschlandschaft in die hügelige Geest übergeht, direkt neben der Straße einen kleinen Soldatenfriedhof gesehen, wo alle kleinen hölzernen Grabkreuze als Geburtsjahr der Gefallenen 1927 oder 1928 und als Todes­monat den April 1945 anzeigten.
Nach der OP und einer Rekonvaleszenz wurde Wilhelm noch im beginnenden Frühjahr eingezogen und kam nach kurzer Ausbildung mit einer kleinen Gruppe Kameraden und einem Feldwebel nach Duhnen bei Cuxhaven, wo sie, mit einem Maschinengewehr in den Dünen verschanzt, die Landung der Alliierten an der Küste der Wesermündung aufhalten sollten, nachdem diese Invasion fast neun Monate vorher in der Normandie stattgefunden hatte und die Engländer bereits im Südoldenburgischen standen!
Am 8. April 1945 kam es nach kurzen Kämpfen zur Eroberung Bassums durch englische Truppen. Die Familie Gädeke saß im Keller des Stiftsgebäudes Nummer 1, und als englische ­Soldaten oben auf der Kellertreppe erschienen, riefen die Töchter mit ihren Englischkenntnissen: »Do not shoot! No soldiers in here!« Als sie wieder in ihre Wohnräume im ersten Stock gelangten, hatte eine Granate die Westseite des Gebäudes beschädigt und Granatsplitter hatten den Kleiderschrank durchschlagen einschließlich einiger Kleidungsstücke. Aber das war ganz unbedeutend gegenüber der Tatsache, dass sie den Bombenkrieg und den Artilleriebeschuss überlebt hatten!
Nur von dem ältesten Sohn in den Dünen von Duhnen fehlte jede Nachricht. Sein Feldwebel hatte nach dem Tode Hitlers sein Gewehr weggeworfen und sich von der kleinen Gruppe jugendlicher Soldaten mit den Worten verabschiedet: »Diesmal hat es nicht geklappt, beim nächsten Mal sehen wir uns wieder«. Mit einem Kameraden schlug Wilhelm sich von Cuxhaven nach Bassum durch und musste dabei die Frontlinie überschreiten. Dabei wurden sie einmal von den Engländern entdeckt und aufgehalten. Als der zuständige Offizier ihre Wehrpässe mit den Geburtsdaten sah, gab er ihnen diese zurück mit den Worten: »Go home to mamy!« Das ließen sie sich nicht zweimal sagen und machten sich aus dem Staub. Die Überquerung der Weser nördlich von Bremen gelang mithilfe eines kleinen Bootes und der genauen Beobachtung des englischen Aufklärungsflugzeugs, das die Frontlinien regelmäßig überflog. Als er in Bassum ankam, war die Freude der Familie grenzenlos: Alle hatten den Krieg heil überlebt.
Das Gefühl der Erleichterung, dass die Zerstörungen aufhörten und dass die Diktatur der Nazis zu Ende war, überwog bei wei­tem alle Schwierigkeiten des alltäglichen Lebens. Die Katastrophe war zugleich eine Befreiung. –
Als nach dem langsamen und vorsichtigen Vormarsch der Engländer am 26. April auch Bremen erobert und befreit worden war, dauerte es nicht lange, bis die Amerikaner nachrückten, die sich Bremen als Nachschubhafen für ihre Besatzungszone ausgesucht hatten. In Bassum wurde ein US-Soldat namens Conrad Wilson, der der Glaubensgemeinschaft der Quäker angehörte, zu einem Freund der Familie. Er wurde für einige Wochen zum »Aufräumen« nach Bergen-Belsen abkommandiert und erzählte bei seiner Rückkehr nach Bassum von den grauen­haften Wahrnehmungen, die er dort machen musste. Er unterstützte die Familie Gädeke auf vielerlei Weise, etwa indem er ihr Zigaretten schenkte, die eine wichtige Währung waren. In die USA zurückgekehrt sorgte er durch Paketsendungen noch längere Zeit mit für das Überleben der Familie.
Noch im Mai 1945 wurde Friedrich Gädeke von der ­Militärregierung in Bremen der Posten eines künftigen Senators für das Schulwesen angeboten. Man wusste offenbar genau, dass er Studienrat und nicht Parteigenosse gewesen, nicht dem NS-Lehrerbund beigetreten war und dass er als Priester einer kleinen Glaubensgemeinschaft gewirkt hatte, die durch die NS-Regierung verboten worden war! Er lehnte dieses Angebot dankend ab mit der Begründung, dass er sich seiner Gemeinde verpflichtet fühle, deren Wiederaufbau er seine Kräfte widmen wolle.
Dieser Wiederaufbau begann sehr rasch: Ida Stümcke ­zelebrierte am 10. Mai, dem Himmelfahrtstag, und an den folgenden Sonntagen die Menschenweihehandlung mit einigen Mitgliedern in ihrer Wohnung. Das Gemeindehaus Am Dobben 111, das nach dem Verbot von einem treuen Gemeindemitglied gekauft worden war, konnte der Gemeinde wieder übertragen werden. Es war bis auf einen kleinen Schaden durch Artilleriebeschuss bei der Eroberung Bremens erhal­ten geblieben, und seine Bewohner, Mitglieder der Gemein­de, richteten den ungenutzten Weiheraum wieder her, brachten die an sie nach dem Verbot 1941 verkauften Stühle zurück und holten die Kultgegenstände und Gewänder aus ihren Verstecken, sodass am Sonntag, dem 10. Juni, genau vier Jahre nach dem Verbot, im eigenen Kultraum die erste Weihehandlung nach dem Kriege gehalten werden konnte.
Schon drei Wochen später konnte eine kleine Tagung veranstaltet werden, die trotz mangelnder Bekanntmachungsmöglichkeiten gut besucht war, und im August trafen sich Jugendliche aus Bremen und Hannover zu einer ersten Jugendtagung im umgebauten Bauernhaus eines Gemeindemitgliedes in Leuchtenburg bei Bremen. Die Not der Nachkriegszeit in Bezug auf die äußeren Lebensbedingungen war sehr groß, aber die Begeisterung für die seelische-geistige Ernährung durch das religiöse Gemeindeleben war noch größer.

Wolfgang Gädeke, geboren 1943, Priester, Kiel