Die Suche nach der Quelle des Wortes Hermann Beckh zum Geburtstag (4.5.1875–1.3.1937)
Vor 150 Jahren kam Hermann Beckh in der Kaspar Hauser Stadt Nürnberg zur Welt. Noch lebte der »nicht hoch genug zu schätzende« (so Steiner) Religionsphilosoph, Lyriker, Übersetzer und Hauser-Lehrer Georg Friedrich Daumer. Auch Beckh hatte etwas von den ungewöhnlichen Eigenschaften des Kindes von Europa, schien er doch zuweilen nicht ganz in seine Zeit zu gehören und deswegen einsam zu sein. Der Erforscher der Kindheit der Menschheitsentwicklung trug etwas Kindhaftes mit durch sein ganzes Leben. In jungen Jahren hatte er ein starkes Erlebnis seines vorgeburtlichen Lebens, was an sich nicht ganz ungewöhnlich ist, doch machte er die Bemerkung, fast verwundert, dass er diesen früheren Zustand vergessen hatte!
Auch eine fast Kaspar Hauser ähnliche Mitleids- und Gewissenskraft zeigte er: Als er 1899 mit dem Jura-Studium fertig war, kam er in die Lage, ein armes Ehepaar wegen Holzdiebstahls verurteilen zu müssen. Sie hatten kein Geld, eine Strafe zu bezahlen, also hätten sie ins Gefängnis gehen müssen. Dann wäre ihr Kind verwaist gewesen – so bezahlte Beckh die Strafe aus eigener Tasche und gab seine frisch-begonnene juristische Laufbahn auf. Beckh war ein Mann der Gegensätze, der als Kind die Schule als »Vergewaltigung und Freiheitsberaubung« erlebte, der dann zu einem einzigartigen Forscher wurde und 14 Sprachen beherrschte.
Persönlich spricht Beckh mich an, da ich ebenfalls die »Gefängnismauern« erlebte, die den Kindheitsglanz zu früh abschnitten. Auch ich studierte Sprachwissenschaften – doch brachte ich es nicht weit, da niemand da war, der meine tiefe Frage nach dem Ursprung der Sprache beantworten konnte. Die Heilpädagogik brachte mir das Rätsel Mensch dann näher, und am Ende der Ausbildung war der Philologe Karl Friedrich Althoff da, der gerade seine große Studie über das Vaterunser schrieb, in der er sich sehr auf die Forschungen Beckhs bezog. Durch ihn bekam ich ein Büchlein, das fast wie eine Erfüllung meiner Schicksalsfragen zu sein schien – von Hermann Beckh: Etymologie und Lautbildung im Lichte der Geisteswissenschaft, und es war gerade Beckhs 100. Geburtstag! Bald nach Beendigung seines Buches starb aber Althoff, und die Gespräche über das Wort konnten nicht fortgesetzt werden. »Nur« die Eurythmie und der Seelenkalender hielten diesbezüglich die Flamme wach. Das Büchlein von Beckh aber versteckte sich in meinem Bücherregal.
Als ich nun diesen Aufsatz beginnen wollte, fragte ich mich zuerst, ob Karl König ihm begegnet ist. Leider ist das Tagebuch der Zeit Königs in Arlesheim nicht im Archiv erhalten, doch erfahren wir aus seinem Taschenkalender, dass er bei den ersten Tagen der Eröffnungstagung des zweiten Goetheanums dabei war und den Vortrag von Beckh über »Das Bild des Menschheitsrepräsentanten im Goetheanum, im Johannes-Evangelium und in den Sternen« gehört hatte: Sicherlich ein Vortrag, der König sehr zu Herzen ging, hatte er doch einige Monate zuvor dort über die Embryologie im Zusammenhang mit dem Johannes-Evangelium und den Sternen gesprochen. Nachträglich hatte König bemerkt, dass sein Vortrag am Pfingstmontag 1928 genau 100 Jahre nach dem Auftauchen Kaspar Hausers stattgefunden hatte. Nun wurde das Goetheanum am Michaelitag, dem Geburtstag Kaspar Hausers, eröffnet.
Wie ein Widerspruch lebte wohl eine Kindhaftigkeit in Beckh weiter, neben einer seltenen Fülle an alter Weisheit, an intellektuellem Können. Ein starkes Temperament mit einer Fülle von Herzenskräften. Der Erforscher des Wortes und der Sternenharmonien konnte dann durch die Begegnung mit der Anthroposophie gerade die Eurythmie als die Kunst entdecken, die für den heutigen Menschen den Bezug zum Ursprung der Sprache (und der Musik) herstellen kann.
Er wurde als Mitgründer der Christengemeinschaft in einem neuen Zusammenhang Diener des Wortes. Doch auch dort zeigte sich sein »Sonderschicksal« – er wurde nie Gemeindepfarrer, sondern übernahm gleich eine leitende Funktion im Priesterseminar in Stuttgart. Er war einer der Ältesten und sicher Gelehrtesten des Gründerkreises – vor allem konnte er aber durch seinen Enthusiasmus, seine starken »Kindheitskräfte« eine ganze Generation von Priestern für das spirituelle Wirken mit dem Wort begeistern.
Seine Suche nach den Quellen menschlicher Zivilisation hatte ihn zu Sanskrit, Tibetisch, Indisch, Persisch, Ägyptisch und Hebräisch geführt. Als Professor für alte Sprachen des Himalaya-Gebietes wurde er bald zu einem einzigartigen Experten, der zahllose Handschriften der Preußischen Staatsbibliothek erstmals übersetzen konnte. Doch musste er immer wieder die Isolation erleben, als der Materialismus sich nicht nur der Theologie, sondern gerade auch der Sprachwissenschaft mehr und mehr bemächtigte. Trotzdem verließ ihn der Humor nicht ganz – selbst als er im Ersten Weltkrieg als Rechtsberater in den Staatsdienst einberufen wurde: da nannte er seine Arbeitsstelle im Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft das »Institut für sehr verkehrte Weltwirtschaft«.
Schon 1911 hatte Beckh Rittelmeyer und Steiner kennengelernt, und nun konnte er endlich den lebendigen Zusammenhang für seine tiefgründigen Studien finden. Anfang der 1920er Jahre, als die Stimmung in den deutschen Städten immer dunkler wurde, schloss er sich der Bewegung für religiöse Erneuerung an. Man könnte an Kaspar Hauser denken, der erst durch die Konfirmation einen Anschluss an seine eigentliche Erdenaufgabe finden konnte. Mit 16 Jahren hatte Beckh in Bayreuth Parsifal erlebt, und eine Ahnung wuchs in ihm, die erst auf dem Sterbebett zu einer Vollendung kam: das vielgelesene Buch Die Sprache der Tonarten in der Musik. Aber eine weitere große Arbeit, Beiträge zur geistigen Sternenkunde, lässt erahnen, dass er durch seine »Rückreise« in die Wiege der Menschheit etwas aufnehmen konnte, was in unserer Zeit auf einer neuen Ebene auferstehen muss.
Als Karl König in seinem Aufsatz über Rudolf Steiners Schicksal (Geister unter dem Zeitgeist) über das Jahr 1861 schrieb, wies er darauf hin, wie 1860 vor Christus die Mysterien versiegelt wurden, »bis zum ersten Strahl des neuen Morgens«, 1860 nach Christus, mit dem Herannahen der Geburt Rudolf Steiners. Das Schicksal hat Beckh 1899 wohl zugerufen – die große spirituelle Dunkelheit ist vorbei, die Mysterien, die in der altägyptischen Zeit versiegelt wurden, können neu erweckt werden, und Rudolf Steiner, der das neue Zeitalter beginnen soll, ist schon da! Steiner sagte selbst aus, dass dies genau der Zeitpunkt für ihn war – an der Schwelle von 1899 zu 1900 – da er, zunächst mit Ausführungen zu Goethes Märchen, die neue Geisteswissenschaft beginnen konnte. Hatte Beckh das gespürt? Steiner sagte einmal über Beckh: »Er hat vieles erforscht, zu dem ich noch nicht gekommen bin«. Was konnte wiederum durch diese Begegnung sich wohl für Steiner selbst ergeben haben – hat ihn dies angeregt, doch zu Arbeiten zu kommen, die vorher – bis 1911 – noch nicht in der Anthroposophie vorhanden waren? Wir werden es wohl nie erfahren, doch wann ist Beckh zum ersten Mal bei einem Vortrag Rudolf Steiners? Es war an einem 14. Dezember (dem Tag der Ermordung Kaspar Hausers) 1911 in Berlin über den Propheten Elias. Die ersten Worte des Vortrags klingen so, als ob Beckh persönlich begrüßt würde: »Wie eines der glänzendsten Gestirne am Himmel der geistigen Entwicklung der Menschheit leuchtet aus frühem Altertum zu uns herüber der Prophet Elias.«
Zuvor hatte Steiner gerade in Berlin über das Makrokosmische im Markus-Evangelium und besonders über Rhythmus vorgetragen. Darin kam der Aufruf Steiners vor, der zu dem Seelenkalender führte. Beckh war noch nicht dabei, aber hatte er diesen Aufruf wohl doch erlebt? Gerade diese Vorträge zitierte er häufig, und er hat ja selbst 1928 das tiefgehende Buch Der kosmische Rhythmus im Markus Evangelium geschrieben. 1912 zu Ostern erschienen dann die 52 Wochensprüche, in denen das Weltenwort selber spricht. Und genau in der Woche des 14. Dezember spricht »geheimnisvoll« das Weltenwort: »Erfülle deiner Arbeit Ziele / Mit meinem Geisteslichte.«
Immer wieder sollte Beckh bei Tagungen neben Steiner auftreten, und zugleich schrieb er große Artikel im ersten Jahrgang des Goetheanum und der Drei. Sein erster Vortrag für die Anthroposophie war ausgerechnet in Dornach im Jahre 1920 beim michaelischen Hochschulkurs. Nach dem Vortrag nahm er Hammer und Meißel und arbeitete an der Innengestaltung des Goetheanums mit. Gerade er durfte verstanden haben, dass es ein »Haus des Wortes« werden sollte. Bei der Weihnachtstagung und auch bei der letzten Ansprache Rudolf Steiners war er zugegen, als das Geheimnis der Elias-Gestalt noch einmal besonders aufleuchtete.
Man staune: In englische Sprache sind vor wenigen Jahren wichtige Texte von Beckh zum ersten Mal übersetzt worden – The Source of Speech! Schon 1959 sagte Emil Bock über das Schaffen von Beckh: »Eine wahre Vielfalt von Büchern entstand, deren Bedeutung vielleicht erst in der Zukunft wirklich erkannt wird.« Und das Büchlein in meinem Regal, die Etymologie sei ein Hinweis auf eine genetische Etymologie, schreibt Beckh; es sei ein erster Versuch und »will nicht als etwas in sich Fertiges und Abgeschlossenes, sondern als ein bloßer Hinweis auf eine in allen Einzelheiten erst noch auszubauende Sprachwissenschaft der Zukunft genommen werden«. Hat diese Zukunft begonnen?
Für mich war es wohl jetzt höchste Zeit – zum 150. Geburtstag von Hermann Beckh – das Büchlein aus dem Regal zu nehmen und zu fragen, wie es mit dem Wort im sozialen Leben – in Wissenschaft, Kunst und Religion – heute, im Zeitalter von KI, und wie es mit den Kindheitskräften bestellt ist. Vielleicht auch zu fragen, wie uns Beckhs Schicksalsgeste in die Zukunft weisen könnte.
Richard Steel, geboren 1952 in Oxford, Freier Dozent und Publizist, Geschäftsführer des Karl König Instituts, Mitgründer des Kaspar Hauser Forschungskreises, Kleinmachnow