Was wäre Lust ohne Freud?
Aus der Nacht tiefdunklem Schatten steigt die Sonn in kühlem Blau,
Füllt die Finsternis mit Leben, hebet alles Dunkel auf.
Tau fällt hernieder über die Erde, die mit stillem Wachstum dankt.
Sehet wie die Vögelein schweben zum Licht empor,
Singen und jubeln vor lauter Lust und Freud.
Text zu einem Kanon aus Lieder für Ferien, Fahrt und Lagerfeuer1
Aus dem DUDEN-Herkunftswörterbuch: Lust: Das gemeingerm. Wort mhd., ahd Lust, got. lustus, engl. lust, schwed. lust gehört wahrscheinlich im Sinne von »Neigung« zu dem germ. starken Verb lutan »sich niederbeugen, sich neigen« (beachte aengl. lutan »sich neigen, niederfallen«, aisl. luta »sich neigen, sich niederbeugen«) …
In meinem zweiten Leben als Bäckerin habe ich viele lust- und freudvolle Augenblicke erlebt, wenn ich mich niederbeugen musste, um in Windeseile 50kg klebrigen Brotteig mit bloßen Händen, wie gelernt, aus dem Kneter zu schaufeln. Oder wenn ich mit Augenmaß und Handgewicht 2kg Butter von einem 10kg-Butterblock abzuschneiden hatte und die elektronische Waage die Zahl 1999g anzeigte. Oder wenn sich im richtigen Moment ein Gefühl bemerkbar machte, die feinen Kekse könnten in den nächsten 20 Sekunden verbrennen, wenn ich sie !jetzt! nicht aus dem Ofen zöge. Oder wenn ich meinen Kollegen dabei erlebte, wie er 15 goldgelb gebackene, selbstgezogene Croissants, gleichmäßig auf einem Blech verteilt, aus dem Ofen zog und sie »seine Kinder« nannte.
Das waren lustvolle Bäckerfreuden – nachdem wir uns dem Stoff, dem Irdischen im buchstäblichen Schweiße unseres Angesichts zugewandt, zugeneigt hatten.
Ein besonderer, irgendwie erschütternder Moment war ein Erlebnis während meiner Gesellenprüfung: Es mussten die drei Zutaten für einen Weißbrotteig für die Prüfenden sichtbar und separat abgewogen werden:
Wasser, Salz und Weizenmehl 550. Die Zahl, bzw. der Name 550 steht für 550mg Asche/100 kg restlos verbranntem Mehl.
Wasser – Salz – Asche, Taufsubstanzen für einen Laib Brot in der Ausbildungsbäckerei der Berufsschule. Da lag Risiko in der Luft, Risiko zur Hingabe an die Fähigkeit des Menschen, Verbindungen im Denken und Empfinden einzugehen und herzustellen, die es sonst vielleicht nicht gäbe? Die Lust und die Freude daran, das Risiko einzugehen, dass sie vielleicht zu gewagt wären, aber sie doch einfach zu schöpfen aus dem unendlichen Kosmos der Verbindungsmöglichkeiten?
Später habe ich Konfirmanden vorsichtig über diese drei Substanzen hinwegpusten lassen und wir bemerkten, wie unterschiedlich sich diese Drei bei leichtem Wind verhielten.
Salz bewegt sich kaum, Wasser schlägt Wellen, und Asche verfliegt in alle Richtungen. Wie verhält es sich mit den Dreien Denken – Fühlen – Wollen oder mit Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft?
In der Vielfalt der vermeintlich irdischen Erscheinungen durch Gedanken und Empfindungen wie eine Art Zusammenhalt zu erschaffen – das erinnert mich an die Vögelein, die singend und jubelnd vor Lust und Freud zum Licht emporschweben, wie als erschüfen sie dadurch Zusammenhang zwischen Nacht, Schatten, Sonne, Blau, Finsternis, Leben, Dunkel, Tau, Erde, Wachstum …
1 Dieter Hornemann: Lieder für Ferien, Fahrt und Lagerfeuer, Stuttgart 2021, 12. Auflage.
Birgit Häckermann, geboren 1960, Schwentinental