Zum Schnittpunkt von Schwerkraft und Gnade
Die Schwerkraft ist nicht nur ein physikalisches Gesetz, ihr folgen auch alle »natürlichen Bewegungen der Seele«.[1] Das ist einer der zentralen Gedanken der Philosophin und Mystikerin Simone Weil. Die Schwerkraft ist die Kraft schlechthin, die unser Leben bestimmt.
Im Bereich des Seelischen ist sie eine Metapher. Überträgt man ihre physikalische Bewegungsrichtung auf unser Handeln, so treten wir aus dem Bereich des Natürlichen (der Physik) ins Moralische, und zwar fast immer mit negativer Bedeutung: In der Schwerkraft wirkt die Eigenliebe im Menschen, seine Selbstbehauptung, sein Streben nach Entschädigung, nach Bezahlung und Gewinn, nach Ausdehnung und Überlegenheit. Die Schwerkraft ist das Machtstreben.
Eine Ausnahme von ihrer allgegenwärtigen Wirksamkeit macht auf der Seite der Natur das Licht, von dem sich zwar die Pflanze, nicht aber der Mensch ernähren kann. Die Pflanze tritt nicht in den sich ewig fortschreibenden Kreislauf von Schädigung und Entschädigung ein. Das Licht ist kein Tauschobjekt, es muss nicht erworben werden, sondern verströmt sich ohne Gegenleistung. Es bildet damit die zweite, die übernatürliche Ausnahme von der Schwerkraft ab: die Gnade, die sich ebenfalls ganz umsonst dahingibt. Sie allein löst uns aus den Fesseln der Schwerkraft und führt zu Wahrheit, Freiheit und Liebe.
Zu den Schwerkraftwirkungen im und durch den Menschen gehören für Simone Weil nicht nur so eindeutig negative Regungen wie etwa die Unterdrückung anderer, der pure Egoismus oder die Rache. Es gehören auch die Idee des Rechts[2] und überhaupt alle kompensatorisch ökonomischen Verhältnisse dazu. Überall, wo in uns das Bedürfnis nach Ausgleich wirksam wird, waltet die Schwerkraft. »Man bedarf eines gleichwertigen Lohnes. Unvermeidlich wie die Schwerkraft.«[3] Hinzu kommt das Streben nach mehr, nach Steigerung, nach Gewinn. Nicht selten ist dieses Streben dann eindeutig mit dem Bösen verbunden, was wir aktuell fast täglich an der großen Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft beobachten können.
»Anderen Böses zu tun, heißt etwas von ihnen empfangen. Was? Man hat zugenommen. Man hat sich ausgedehnt. Man hat eine Leere in sich ausgefüllt, indem man sie bei anderen verursacht.«[4]
Aber die Leere, die man bei anderen hervorruft, will da nicht bleiben. Ein zugefügtes Leid will man zurück- oder weitergegeben. Das ist auch in der Idee des Rechts veranlagt, wie Simone Weil sie versteht. Lässt sich das Recht nicht ausüben, so kommt es zur Frustration: Eine Leere in der Ökonomie der zwischenmenschlichen Verhältnisse entsteht. Die Leere ist der Schwarze Peter, den keiner haben will und den man doch nur los wird, indem man ihn weitergibt. Sie ist die Triebfeder für die Kettenreaktion der Schwerkraft und motiviert unweigerlich das Streben nach Kompensation.
Die Leere hat die Gestalt des Entzugs und bringt Entzugserscheinungen wie bei einem Süchtigen hervor. Wenn irgend möglich, muss sie gefüllt werden, und das nicht selten mit steigenden Dosen. Ja, selbst der Asket hat noch das Ziel einer Sättigung. So wird die Entsagung, die Selbstkasteiung geübt, um eine höhere Entwicklungsstufe, vielleicht eine Erleuchtung zu erlangen und damit mehr zu werden. Auch das ist im Sinne Simone Weils ein Handeln nach dem Prinzip der Schwerkraft. Solches Handeln nennt sie »imaginär«. Mit allem schwerkraftbedingten Tun machen wir uns etwas vor. Wir kommen nicht an das Wesentliche heran, betrügen uns mit einer Befriedigung wie der Süchtige, der an die nächste Flasche denkt und meint mit dieser dann zufrieden zu sein. So unweigerlich die Schwerkraft in uns wirkt, so folgen wir mit ihr doch zugleich nur unserer Einbildungskraft. So schlägt ein Mensch im Zorn einen anderen nieder, weil er meint, dass das seine Zufriedenheit wieder herstellt, aber diese stellt sich nicht ein oder hält nicht an.
Da aber, wo es keine Rache und keinen Lohn gibt, wo kein Ausgleich möglich ist, entsteht eine Leere, die für Simone Weil die Wirklichkeit der Illusionslosigkeit hat. Hier wird die Immanenz unserer Einbildungskraft aufgebrochen. Das ist gerade wegen der darin liegenden Ent-Täuschung schmerzhaft, aber wahr. Doch obwohl diese Ent-Täuschung auch eine Wirkung der Schwerkraft ist, liegt in ihr zugleich das Potential einer Transzendenz. Wird einem Menschen ein Leid zugefügt und er verzichtet freiwillig auf Wiedergutmachung – vielleicht auch weil sie, wie bei einem Mord an einem nahestehenden Menschen, gar nicht möglich ist –, so wird damit die Kettenreaktion der Schwerkraft aufgebrochen. Eben solche Momente haben den Charakter des Übernatürlichen. Sie sind nicht ohne Hilfe möglich. Ein Verzicht wie z.B. der des Verzeihens ist ein Machtverzicht und fast unmöglich: »Nicht alle Macht ausüben, die einem zu Gebote steht, heißt die Leere ertragen. Das widerspricht allen Naturgesetzen: die Gnade allein vermag es«, sagt Simone Weil, und sie fährt fort:
»Die Gnade ist Erfüllung, aber sie findet nur dort Zutritt, wo eine Leere ist, sie zu empfangen, und es ist die Gnade selbst, die diese Leere schafft.«[5]
– Das ist schwer zu denken: dass die Gnade die Leere schafft – ebenso wie die Schwerkraft, wenn die Kette ihrer Wirksamkeit unterbrochen wird. Tatsächlich gibt es einen Punkt, an dem Schwerkraft und Gnade sich berühren oder schneiden. Die Gnade braucht die Leere, um Zutritt beim Menschen zu finden. Insofern die Gnade der Kompensation widerspricht – ein Gedanke, der durch Luther in der Rechtfertigung allein durch den Glauben und nicht durch Werke bekannt ist[6] –, macht sie das geltend, was auch die Schwerkraft bewirkt. Die Schwerkraft kann aber die Leere nicht halten, sondern muss sie durch eine gleichwertige »Gegenleistung« wieder anfüllen. Die Gnade jedoch öffnet den Menschen durch die Leere für eine ganz andere Erfüllung: nämlich für die von Wahrheit, Freiheit und Liebe. Simone Weil spricht hier auch vom Empfang des »übernatürlichen Brotes«, was allerdings nicht garantiert ist: »Wer einen Augenblick lang die Leere erträgt, der empfängt entweder das übernatürliche Brot oder er fällt. Entsetzliche Gefahr. Doch muss man sie auf sich nehmen, und sogar einen Augenblick lang ohne Hoffnung. Doch soll man sich nicht in sie hineinstürzen.«[7]
Es gibt nicht viele Denker, die in ihrer Philosophie so schonungslos sind wie Simone Weil. Das macht ihre Anziehungskraft aus, ist aber auch manchmal schwer erträglich. Ihre Schonungslosigkeit geht bis dahin, dass man die Leere nicht sogleich wieder mit Hoffnung füllen darf, um ganz in die Wahrheit der Illusionslosigkeit hineinzukommen, in der allein auch Gott zu erfahren ist. Die Negativität der Leere aber birgt – und damit folgt Simone Weil einem Grundgesetz der Mystik – die Fülle des Seins. Davon weiß z.B. auch der Zen-Buddhismus oder Meister Eckhart.
Diese Leere aber darf nicht funktionalisiert werden, also nicht zielstrebig hergestellt werden, um die Fülle zu erfahren.
»Man soll die Leere nicht suchen, denn es hieße Gott versuchen, zu ihrer Erfüllung auf das übernatürliche Brot zu zählen. Ebenso wenig aber soll man sie fliehen.«[8]
Deshalb hat für Simone Weil das Unglück eine so herausragende Bedeutung: Man sucht es sich nicht freiwillig aus,[9] aber in ihm liegt die Chance, die andere, die mystische Seite der Leere zu erfahren: »Die Leere ist die höchste Fülle, doch der Mensch hat nicht das Recht, dies zu wissen. Der Beweis dafür ist, dass selbst Christus es für einen Augenblick nicht mehr wusste. Ein Teil meiner selbst muss es wissen, doch die anderen Teile nicht, denn wenn sie es auf ihre niedrige Art wissen würden, gäbe es keine Leere mehr.«[10] Das ist so ähnlich wie die linke Hand, die nicht wissen darf, was die rechte tut, damit sie sich nichts drauf einbilden kann, wenn jene eine Spende macht.
In all der Schonungslosigkeit und Radikalität, mit der es uns Simone Weil, trotz einer Faszination, immer wieder so schwer macht, gibt es doch auch eine Sphäre, in die wir ihr leichter folgen können. Denn es gibt eine Sehnsucht, die ohne Not Sehnsucht bleiben kann, d.h. nicht befriedigt werden muss und deshalb auch nicht den Gegenstand des Begehrens zerstört oder sich in die Sucht und ins Imaginäre verstrickt. Es geht Simone Weil um eine Qualität des Begehrens, die in ihrer Unerfülltheit positiv, nämlich ganz wahr ist:
»Nicht gesättigtes Verlangen, an sich unstillbar. Die Unmöglichkeit, es zu sättigen, ist seine Wahrheit, die Hoffnung, es zu sättigen, ist das Falsche. Die schönen Dinge treffen ins Herz dieser Unmöglichkeit.«[11]
Es ist das Schöne, das man betrachten kann, ohne es sich einverleiben zu wollen.
»Das Schöne ist ein fleischlicher Reiz, der in Entfernung hält und einen Verzicht fordert. Miteinbegriffen einen innerlichsten Verzicht: die Selbstverleugnung der Einbildungskraft. Alles, was man sonst noch begehrt, will man essen. Das Schöne ist das, was man begehrt, ohne es essen zu wollen. Wir begehren, dass es sei.«[12]
Es hält uns in der Sehnsucht auf Abstand. Die Qualität des Bezugs zu ihm ist eine »erotische«, ihr ist die Nichterfüllung eingeschrieben. Auch das kann etwas Schmerzhaftes haben. Aber im Schmerz wird hier auch eine Lust empfunden: die Positivität des Negativen – eine Leere, die Fülle ist, eine Erwartung ins Offene hinein. Hier wird die Tendenz der Schwerkraft aufgehalten. Eben dieses Innehalten ist der Schnittpunkt von Schwerkraft und Gnade. Die Schwerkraft bewirkt ein Begehren, das seine positive Bedeutung durch die Verweigerung oder den Verzicht erhält. Das ist der Anteil der Gnade an der Fülle der erfahrenen Leere – gewissermaßen der angehaltene Brautzustand des Lebens.
Das Zusammentreffen von Begehren und Entzug sind keine Seinsweisen des Alltags. Es sind herausgehobene Situationen wie ein Tun ohne Gegenleistung, das Glück und das Unglück, das Erlebnis eines Kunstwerks, der Augenblick des Innehaltens, der gelungenen Aufmerksamkeit, der reinen Intuition. – Mit der Suche nach der Wahrheit solcher Ereignisse hat Simone Weil unerbittlich ernst gemacht. Das man darin auch zu weit gehen kann, hätte sie, die schon mit 34 Jahren an »Versagen des Herzens infolge Herzmuskelschwäche, verursacht durch Auszehrung und Lungentuberkulose« starb,[13] vermutlich nicht gelten lassen.
[1]Simone Weil: Schwerkraft und Gnade, übersetzt von Friedhelm Kemp, München 1989. Im Folgenden »SuG«, S. 9. Französische Originalausgabe: La pesanteur et la grâce, Paris 1947.
[2]Cahiers. Aufzeichnungen. Bd. 1 und 2. Hrsg. U. übers. Von Elisabeth Edl u. Wolfgang Matz. Im Folgenden »C 1« bzw. »C 2«, C 1, S. 349.
[3]SuG, S. 20.
[4]SuG, S. 15.
[5]SuG, S. 21.
[6]Wobei auch der Glaube noch durch die Gnade bewirkt wird.
[7]SuG, S. 22f.
[8]SuG, S. 35.
[9]Oder anders gesagt: »Man soll nicht nach dem Unglück verlangen; das ist wider die Natur; das ist eine Perversion; und das Unglück ist vor allem seinem Wesen nach das, was man wider Willen duldet. Wenn das Unglück fern ist, kann man nur wünschen, falls es über einen käme, möchte es eine Teilhabe an dem Kreuz Christi sein.« – Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen, übers. von F. Kemp, Freiburg i.B. 1976, S. 32.
[10]C 2, S. 13.
[11]C 1, S. 234.
[12]SuG, S. 202f.
[13]SuG, S. 266.

Verfasst von Dr. Ruth Ewertowski
Redakteurin


