Zum Göttlichen finden – im Inneren, im Äußeren?

Auf den ersten Blick erscheint mir Mystik als zwar hoch geschätztes, aber für mich kaum in Frage kommendes Thema. – Das war mein erster Gedanke, als ich vom geplanten Thema dieses Heftes las. Ich gehe lieber hinaus als nach innen, denn ich liebe die Bergblumen und die Formen der Landschaften und die Flüsse. Schau doch, da ist ja der Logos, das Göttliche vor meinen, deinen Augen! Sehen und erleben will ich lernen und üben, um ihnen allen gerecht zu werden da draußen. Dringender denn je brauchen sie es heutzutage, brauche ich es. Damit habe ich ein Leben lang genug zu tun.

Zwei Wege zum Göttlichen

Vor einiger Zeit aber hatte ich bei Rudolf Steiner gelesen, dass es zwei Wege zum Göttlichen gibt, einen über das eigene Innere und einen über die Außenwelt. Beide sind gut und richtig, weil sie beide dazu führen, das Göttliche wirklich zu erleben. Nur erscheint es dann verschieden. Doch dazu später …

Früh schon[1] und immer wieder hat Rudolf Steiner über Mystik gesprochen und geschrieben. In der Vortragsreihe Pfade der Seelenerlebnisse, insbesondere im Vortrag vom 10.2.1910,[2] auf den ich mich hier in der Hauptsache beziehe, weist er geradezu ehrfürchtig auf die »sozusagen noch naheliegenden Formen der Mystik« hin. Er nennt Meister Eckhart und Angelus Silesius, später Heinrich Suso und Johannes Tauler, um zu beschreiben, was Mystik sucht, nämlich »ein wirkliches Erkennen der tiefsten Weltengründe«, die Gründe des Daseins durch ein rein innerlich gepflegtes Seelenerleben. Einfühlsam beschreibt er weiter, wie »ein solcher Mystiker« den Weg ins eigene Innere geht: Von allem, was die Sinne ihm geben, lenkt er seine Aufmerksamkeit weg, ja auch von allen Einsichten und Erklärungen, die ihm sein Verstand gibt. So erschaut er schließlich hinter allem gewöhnlichen Seelenleben »den Grund …, aus dem die Seele heraus entsprossen ist: nämlich den göttlich-geistigen Urgrund der Dinge«. Dieser Urgrund erweist sich für die Seele als eine Quelle und wird mit diesem Bild am treffendsten beschrieben. Auch im Weiteren schildert Rudolf Steiner in Bildern, was er mitteilen will: So gibt es einen dichten Schleier, den die Sinneswelt vor die »göttlichen Urgründe« legt, während der Schleier, welcher in der Seele den Weltengrund verbirgt, dünner gewebt sei, so erlebe es der Mystiker. Der große, unerschöpfliche Weltengrund erscheint in der Seele als ein »Fünklein«, das – und sei es noch so klein – unsterblich und göttlich ist. Den Weg zu ihm zu gehen, erfordert ein Absterben, ja ein aktives Abtöten aller Wahrnehmung – der Außenwelt, aber auch der eigenen Seelenkräfte. Damit wird der mystische Weg zu einem Weg der Nachfolge Christi, denn er umschließt innerhalb der eigenen Seele ein Sterben und Auferstehen.

Dieser geradezu liebevollen Darstellung des mystischen Weges folgt im genannten Vortrag nun eine Wendung, die mir eine neue Perspektive eröffnet hat: Dieser mystische Weg ist »eben einer der Wege. Wenn man auch diesen oder jenen für richtig hält, es ist einer der Wege, den der menschliche Geist zur Erforschung der Dinge ergriffen hat …« Geht man diesen Weg, so findet man zum Göttlichen als einer Einheit, zu einem in sich bestehenden einen Gott, weil man sich mit dem eigenen Ich auf den Weg begeben hat, welches, weil es selber eine Einheit bildet, alle Seelenerlebnisse in sich vereint.

Geht man den anderen Weg, sucht man also das Göttliche hinter oder in allem, was in der Außenwelt wahrnehmbar ist, erlebt man in dem, »was uns da in bunter Mannigfaltigkeit entgegentritt«, zahlreiche wirkende Wesen.[3] Das Göttliche erscheint dann in einer Vielfalt wirkender geistiger Wesen.

»So führt Mystik zur Einheit, weil das Ich in unserem Inneren arbeitet als ein Einheitliches; weil es als Zentrum der Seele arbeitet. So führt der Weg durch die Außenwelt notwendigerweise zur Vielheit … zur Anschauung, dass viele Geistwesen zusammenwirken müssen, um unser Weltbild zustande zu bringen … Mystik führt zur Einheit; aber die Tatsache, dass sie das göttliche Grundwesen als Einheit erkennt, rührt von der inneren Seelenverfassung, vom Ich her. Das Schauen nach der Außenwelt führt zur Vielheit … Aber nur unser Anschauen und die Art und Weise, wie die Außenwelt uns entgegentritt, führt zur Vielheit …«

Deutlich wird daraus, dass beide Wege berechtigt sind, weil sie zu einer echten Verbindung mit der göttlichen Welt führen. Doch so echt dieses Vebundensein auch erlebt wird, so sehr handelt es sich doch um Wege, nicht um ein vollständiges Ankommen am Ziel. Die göttliche Welt wird dabei wirklich erlebt, aber noch keineswegs in ihrer Größe und Tatsächlichkeit erfasst. Von den unterschiedlichen Wegen her kann sich daher die Frage erheben, ob nicht noch etwas anderes nötig ist. Vielheit oder Einheit des Göttlichen – beide Vorstellungsrichtungen leben in den unterschiedlichen Religionen, aber was trifft für die göttliche Welt selber eigentlich zu? 

Wieder wendet Rudolf Steiner den Gedankengang in eine Richtung, die eine neue Perspektive eröffnet, wenn er nun ausführt, dass die Begriffe von Einheit und Vielfalt zwar wichtig, aber für das Göttliche gar nicht hinreichend sind, ja dass sie »gar nicht angewendet werden dürfen da, wo man eigentlich den göttlich-geistigen Weltengrund vermutet«. Er lässt sich so nicht charakterisieren, denn »er ist erhaben über das, was Einheit und Vielheit zunächst sind«. Ein Streit der Weltanschauungen wird also ebenso überflüssig wie der Zwiespalt in der eigenen Seele, wenn man sich klar macht, dass man »mit unzulänglichen Begriffen gegenüber dem Weltengrund arbeitet«.

Es beruhigt und erleichtert mich, dass eventuelle Streitereien, ob sie nun unter den religiösen Richtungen oder im Suchen nach dem Richtigen in mir selber stattfinden, müßig sind und also genauso gut einfach unterbleiben können. Zugleich stimmt es mich resignativ, wenn diese mit großer Liebe und Mühe gegangenen Wege nur zu unzulänglichen Begriffen führen sollen.

Wie kann ein Weg gefunden werden, welcher der göttlichen Wirklichkeit besser entsprechen kann?

Wieder wendet Rudolf Steiner in dem genannten Vortrag den Blick in eine neue Richtung, wenn er im Folgenden den Weg der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis beschreibt. Einen Weg aufzuzeigen, um die menschlichen Seelenkräfte zu den Stufen von Imagination, Inspiration, Intuition zu entwickeln, das ist das große Anliegen der Anthroposophie[4] seit ihren Anfängen. Dafür können in der eigenen Seele Wege gegangen werden, die eine Erkenntniskraft in ihr beleben und bestärken und damit durchaus vom mystischen »Fünklein« ausgehend dieses weiterführen. In einem fiktiven Dialog zwischen Lehrendem und Lernendem wird nun das innere Bild des Rosenkreuzes entwickelt, in welchem sich Innen- und Außenwelt vereinen:

»Es ist zusammengeflossen in dem Sinnbild dasjenige, was die Seele von sich aus in ihrem Inneren erleben und erfahren kann mit dem, was sie von außen empfangen kann.«

Auf diesem Weg wird, was im Äußeren erlebt wird, gerade nicht ausgeschlossen, sondern zum Wahrbild in der Seele erhoben. Die Gefahren des Sich- Abschließens, der Weltverachtung, des Egoismus werden so klar vermieden.

Das ist ein weiter Weg, gewiss, aber er kann auch von den ersten Schritten an als erfüllend und bereichernd erlebt werden. Nachdem Rudolf Steiner den Weg ausführlich beschrieben hat, beendet er den Vortrag, noch einmal auf Angelus Silesius hinweisend, mit einem Ausblick:

»Wir lassen den geistig-göttlichen Grund der Außen- und Innenwelt in uns walten; und dann erst können wir hoffen, … dass wir erhoben werden durch eine Himmelfahrt, das heißt zu einem geistigen Reiche kommen, das weder von unserer Innen-, noch von der Außenwelt gefärbt ist, sondern das gleichen Grundes ist mit all dem, was uns die unendliche Sternenwelt leuchtend von außen entgegenstrahlt, was als Luftkreis unsere Erde umgibt, was als Pflanze grünt, was als Wesen die Flüsse durchlebt und die Meere ausfüllt; was aber zu gleicher Zeit als Göttlich-Geistiges lebt, wenn wir denken und sinnen, fühlen und wollen über die Welt, was im Äußeren und im Inneren Göttlich-Geistiges ist.«  


[1]Rudolf Steiner: Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung, als Buch erschienen: Berlin 1901, GA 7. Als Vorträge in der theosophischen Bibliothek in Berlin gehalten im Winter 1900/1901.

[2]Rudolf Steiner: Pfade der Seelenerlebnisse, GA 59, darin 6. Vortrag vom 10.2.1910: Was ist Mystik?

[3]Als Beispiel nennt Rudolf Steiner hier die Monadenlehre von Gottfried Wilhelm von Leibniz (1646–1716).

[4]»Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte. Sie tritt im Menschen als Herzens- und Gefühlsbedürfnis auf.« Rudolf Steiner: Anthroposophische Leitsätze, GA 26, darin 1. Leitsatz, 17. Februar 1924.

Verfasst von Dorothee Jacobi

Pfarrerin

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