In der Stille nach Hause finden

Eine dampfende Tasse Tee steht vor meiner Matte, als ich in der Morgenfrühe den Meditationsraum betrete. Vorne ein Tischchen, eine bunt gewebte Decke aus Mexiko, darauf die getrocknete Blüte einer Hortensie, eine Kerze brennt und wirft ihr mildes Licht in den Raum. Draußen ist es noch dunkel, Stille, nur das leichte Klopfen des Novemberregens an den Fensterscheiben. Pater Joachim sitzt schon seit fünf Uhr in der Frühe auf seinem Kissen, wie jeden Morgen. Ruhig und aufgerichtet, eine Decke um die Beine geschlagen, einen dicken Norwegerpullover gegen die Kälte. Gleich wird er mit der Glocke einladen, der warme Klang der Schale breitet sich sanft im Raum aus, um allmählich mit der Stille zu verschmelzen. Dann einfach sitzen, Sein, in der Stille dem Strom des Atems folgen, nichts müssen, einfach wach sein, geöffnet ins Hier und Jetzt. Der Atem als Anker, um immer wieder in den Augenblick zurückzukehren: Gedanken tragen uns fort, der Atem führt uns zurück. Gegenwärtig sein.

Nobles Schweigen

Zwei Stunden der Meditation, unterbrochen nur von dem harten Schlag der Klanghölzer, welche alle halbe Stunde zur Gehmeditation auffordern, zum Kinhin, wie es im Zen genannt wird. Eine willkommene Abwechslung für den Leib, um danach wieder in die Stille auf dem Kissen zurück zu finden. Zum Abschluss des Sitzens wird gemeinsam ein Text rezitiert, mal aus dem Zen, mal aus der deutschen Mystik. Eine Verbeugung, dann geht es zum Frühstück in die Küche nebenan. Auch dies im Schweigen. Gerade bei Einkehrtagen legt Pater Joachim großen Wert auf dieses noble Schweigen, welches den Beginn und den Abschluss eines Tages sanft umfängt. Sie soll dem Einzelnen helfen wirklich bei sich anzukommen. »Wahre die Stille, und die Stille wird dich bewahren««, diese alte Mönchsregel dient als Grundton für diese Tage.

Seit zwölf Jahren lebt Pater Joachim als Eremit in einem ehemaligen Pfarrhaus im Sauerland. Die Kontemplation bestimmt seinen Tageslauf. Einmal in der Woche trifft sich eine kleine Schar zum Meditieren bei ihm im Haus, überwiegend Frauen aus dem kleinen Weiler. Regelmäßig fährt er auch etwas weiter in die Stadt, um dort eine weitere Meditationsgruppe zu betreuen.

War es als Kind, wenn er draußen auf den Feldern spielte, dass er dieses Aufgehobensein, dieses Einssein mit etwas Größerem erstmals erlebte? Oder wenn er als Jugendlicher auf einem der Pferde durch Wiesen und Wälder ritt, diese Verbundenheit mit dem Tier hautnah erlebend, den Rhythmus des Lebens erspürend? Aufgewachsen ist er in einer großen Familie im ländlichen Raum. Damals, in den 60er Jahren übernachteten die Angestellten der väterlichen Metzgerei, die Auszubildenden unter der Woche noch bei ihnen im Haus und alle saßen gemeinsam zusammen um den Mittagstisch. Gemeinschaft war ihm also nicht fremd, als er sich 1976 als junger Mensch für das Ordensleben entschied.

Bewusst trat er in einen Orden ein, welcher auf einen Zusammenklang von »»Vita Contemplativa« und »Vita Activa« Wert legte. Dazu Pater Joachim:

»Eines der Hauptanliegen, welches zu einer ersten Reform des Franziskanerordens führte, war den Kapuzinern die Betonung des kontemplativen Betens. Umso mehr betrachte ich es als wunderbares Privileg, räumlich und zeitlich, einen starken Akzent auf die Kontemplation legen zu können.«

Auch für sein theologisches Studium zeigt er sich dankbar, wenngleich ihm bewusst ist, dass man in seiner Studienzeit den mystischen Weg, zum Beispiel die Wüstenväter, als »aufgeklärter Mensch« nicht ganz ernst genommen hat.

»Dass Kirche einen starken Akzent auf das Rationale gesetzt hat, war zeitbedingt. Die dabei vergessene Dimension der Mystik wieder zu entdecken bedarf auch des Aufmerksam-Machens jener Menschen, die den Weg der religiösen Innenerfahrung persönlich gehen.« Kirchenbindung spielt für ihn keinerlei Rolle bei der Meditation: Jeder ist herzlich willkommen, ganz gleich ob er konfessionell gebunden ist oder nicht. Dieser Einstieg in Religion, in Leben hat etwas Voraussetzungsloses.

Allgegenwärtigkeit Gottes

Wesentlich wurde für Pater Joachim nach seiner Priesterweihe 1983 sein Aufenthalt in Mexiko. Fünfzehn Jahre teilte er mit den Indios deren Leben in Oaxaca, einer gebirgigen Region Mexikos, einem Rückzugsort der Indigenen: »Der indianische Mensch, seine Kultur und seine Religiosität, haben Spuren in mir hinterlassen und mir geholfen, Religion und Leben tiefer zu verstehen. Gott ist allgegenwärtig. Es gibt nichts, das nicht von Gott spricht. Der indianische Mensch ist ein Kontemplativer, versucht in Einklang zu leben mit Gott, der Natur und seinen Mitmenschen. Die grundsätzlich religiöse Haltung ist dem Indio wichtiger als Glaubensinhalte im Detail zu kennen. Man erfährt: Im Kontakt mit dem Ureinwohner Lateinamerikas macht der westliche Mensch eine Gehirnwäsche seines tiefsitzenden Materialismus durch.«

Als er kurz vor der Jahrtausendwende wieder nach Deutschland zurückkehrte, war ihm aus dieser Erfahrung heraus klar, dass er den Weg der Mystik nun intensiver und konsequenter gehen wollte. »Die Sehnsucht nach einem solchen Weg hat mir geholfen, ihn zu finden. Ein gewisser Eigenstand ist nötig, Geduld, Beharrlichkeit, Liebe … zum göttlichen Ursprung … zum Leben … zur Schöpfung … Aus Übung wird mit der Zeit Erfahrung, die trägt.« Im Zen-Meister Pater Willigis Jäger fand er einen guten Lehrer. In seinem Orden dauerte es länger, bis er Verständnis für seinen Wunsch nach einem eremitischen Leben fand. In Zeiten der Krise, in denen Jahr für Jahr Klöster wegen des Mangels an Mönchen aufgegeben werden müssen, wollte man ihn nicht einfach ziehen lassen. Für ihn war jedoch klar: »Wir können der Krise nicht begegnen, indem wir mit immer weniger Menschen und den Methoden von gestern den Status Quo zu verwalten suchen.«

Suche nach kreativen Antworten

Ihm geht es darum, kreative Antworten auf die Krise zu finden, welche er nicht nur als eine des Ordens erlebt, sondern der Zeit, und die er als eine zutiefst spirituelle Krise wahrnimmt. Auf der einen Seite eine Verlorenheit im Materialismus, auf der anderen Seite eine tiefe Sehnsucht des Menschen nach etwas Größerem, nach einer realen Erfahrung des Göttlichen, nach Einssein; ein Ahnen, das oft genug nicht den Raum und die Antworten bekommt, die es bräuchte. Und doch ist dieses Bedürfnis nach Einheitserfahrung, nach dem Erleben von Verbundenheit in immer entfremdenderen Zusammenhängen überall spürbar. Pater Joachim dazu: »Lass dich immer wieder hineinfallen in die bedingungslose und grenzenlose Liebe, die dich und alles immer und überall umgibt. Geist, Körper und Seele bilden eine Einheit. In ganzheitlicher Weise ins Spüren kommen, kann man … erlernen. Der Atem, der uns ein ganzes Leben hindurch begleitet, kann, wie ein Geländer, Stütze geben, um im Spüren zu verbleiben. Gehe immer wieder am Tag hinein in diese Übung! Johannes vom Kreuz rät prägnant: ›Lerne alle deine Kräfte in Stille zu versetzen. So verweile in Leere und Nacktheit und dein Heil wird nicht auf sich warten lassen.‹«

Dass dies nicht immer ein einfacher Weg ist, davon kann Pater Joachim ebenfalls erzählen: »Der Weg religiöser Innenerfahrung ist einfordernd, ganzheitlich, transformativ… ist »Graswurzelarbeit«, »Schattenarbeit« … sehr befreiend, aber – man kann es sich denken – nicht immer angenehm. Man kommt an Klippen, die man erst mit wohlwollender Annahme löst.« Geduld, Authentizität und Ausdauer sind erforderlich. »Je mehr du eilst, umso länger brauchst du«, rät ein asiatischer Meister. C.G. Jung spricht eine ähnliche Sprache. Ein Wachsen/Integration geht Schritt für Schritt. »Spiritual Bypassing« ist nicht möglich. Ohne Entscheidung und Abstriche in anderen Lebensbereichen wird es nicht gehen, weiß Pater Joachim aus eigener Erfahrung:

»Great things never came from comfort-zone.«[1]

Schließlich willigte der Orden ein und trägt seitdem sein eremitisches Leben mit, auch finanziell, so es notwendig ist. Rückblickend auf die vergangenen zwölf Jahre kommt ihm manchmal die Frage, ob er nicht mehr Menschen hätte erreichen, mehr hätte anstoßen können, doch dann lächelt er mild: Es ist gut so, wie es ist. In ihm ist eine gewisse Skepsis geblieben gegenüber dem Schaffen, wie er es bei manchen seiner Mitbrüder erlebt hat. Ihm geht es auch um die Motive, die Motivation unseres Handelns, die tiefere Einsicht in die Beweggründe unseres Tuns. Tun ist für ihn kein Wert an sich. Dennoch hat auch ihn der typische Rückzug in Stille und Abgeschiedenheit auf den »Marktplatz« zurückgeführt. So engagierte er sich an seinem Rückzugsort in den vergangenen Jahren für den Naturschutz, für die Bewahrung der Schöpfung, gegen die Zerstörung der Landschaft, etwa durch Windindustrieanlagen: »Die Art und Weise, wie man aktiv wird, wächst einem zu … kann sich auch verändern im Gehen … ist so kreativ, wie Gottes Geist, der einen mehr und mehr bewegt.«  Allerdings, so hofft er, geschieht nun die Aktion in veränderter, kontemplativer Weise. Gleichzeitig bleibt spürbar, wo sein Herz zu Hause ist, wenn er betont, dass der eine oder andere einfach nur zu zweckfreier Kontemplation an sich berufen ist:

»Im stillen Loslassen und im Spüren, im Leerwerden von so vielem, gelange ich zu größerer Tiefe. Kontemplation geht über Verstand und Gemüt hinaus. Ich wachse in das Christusbewusstsein hinein. Dabei ist Christus, ohne Zweifel, der größte Mystiker.«

Auch bei christlichen Mystikern findet er wunderbare Anregungen: »Jeder einzelne hat seinen Weg gefunden, und auch für mich gibt es nur den Weg, den ich selbst im Gehen finde. Auf diesem Weg habe ich dann die Erfahrung gemacht, dass ich geführt werde. Was mich fasziniert an asiatischen Meistern ist das Wissen um eine gewisse Systematik innerer Prozesse auf dem Weg nach innen. Davon können wir Abendländer sehr viel lernen. Ich denke, dass das sogar ein Gebot der Stunde ist. Kirche/Gesellschaft/menschliches Bewusstsein sind nur als Prozess zu verstehen. Wie sinnvoll sagt Jesus seinen Jüngern: »Der Geist wird euch in die volle Wahrheit einführen.« Mut zum Wagnis gehört für den einzelnen und die Gemeinschaft immer dazu – wird aber in ungeahnter Weise belohnt.«

Das Problem ist, dass nur der die Meditation wirklich versteht, der sie persönlich lebt. Ähnlich wie bei christlichen Glaubensinhalten, die, als pure Wissensvermittlung, kaum weitergegeben werden können. Auch im herkömmlichen Sinn der Weitergabe von Religion gilt: Nur wer selbst ergriffen ist, wird Religion weitergeben können. Mangelnde Tiefe der Erfahrung lässt in kleinlichen Definitionen, dualistischen Vorstellungen, engherzigen Ansichten steckenbleiben. Kritik, Fehlinterpretation, Unverständnis kommt meistens aus dieser Richtung. Es geht in der Zen-Meditation nicht um eine konkrete Religion, weder um Buddhismus noch um Christentum, sondern es geht um religiöse Tiefenerfahrung. Die Interpretation dieser Erfahrung kann unterschiedlich sein. Die Tiefe mystischer Erfahrung ist grenzenlose Liebe, so weiß der Mystiker. Diese Erfahrung braucht man nicht gleich – und sie lässt sich auch nicht gleich – in kleine Kästchen verpacken. Sich allerdings auf diesen Weg zu machen, wie auch immer, dazu ermutigt jeder Gotterfahrene. Pater Joachim hat dabei seinen Ordensgründer Franz von Assisi vor Augen. Unentwegt fordert dieser auf, sich ganz hineinfallen zu lassen in das große göttliche Geheimnis:

»Behaltet nichts von euch für euch selbst, damit euch ganz aufnehme, der sich euch ganz hingibt.«


[1]        Große Dinge sind nie aus der Komfortzone gekommen.

Verfasst von Matthias Disch

geb. 1959. Historiker, Autor und Dozent, wohnhaft in Berlin

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