Der Erwählte und die Gnade

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Thomas Mann zum 150. Geburtstag am 6. Juni

Ruth Ewertowski

Beim »Stichwort« Thomas Mann denkt man zunächst nicht so leicht an den theologischen Begriff der Gnade. Mit Ausnahme des Joseph-Romans haben seine großen Werke von den Buddenbrooks bis zum unvollendeten Felix Krull damit kaum zu tun. Doch beim alten Thomas Mann kommt sie schon vor, auch wenn er in manchen seiner politischen Äußerungen eher gnadenlos wirkt. So z.B. wenn er nach dem Zweiten Weltkrieg in seinem kalifornischen Exil in einem offenen Brief erklärt, Warum ich nicht nach Deutschland zurückkehre und in diesem Zusammenhang von der Kollektivschuld der Deutschen spricht. Zu tief ist er von den barbarischen Taten seiner Landsleute erschüttert.

Erschüttert von den Taten seiner Landsleute

Im Januar 1945 hatte er seinen deutschen Hörern – so sie es denn immer noch nicht sehen wollten – von den Gräuel der Konzentrationslager berichtet und von ihnen »die klare Einsicht in die Unsühnbarkeit dessen, was ein von schändlichen Lehrmeistern zur Bestialität geschultes Deutschland der Menschheit angetan hat«, gefordert. Und zuvor, im April 1942 hatte er – als seine Geburtsstadt Lübeck von britischen Bombern in Trümmer gelegt wurde – »nichts einzuwenden gegen die Lehre, dass alles bezahlt werden muss«. Er erinnerte dabei an die vernichtenden Angriffe der deutschen Luftwaffe auf Coventry.[1]

Diese Haltung hat ihm, dem fernen Exilanten, viel Ablehnung eingebracht. Wurde er auch immer von einigen ob seines Scharfblicks und Mutes, Dinge beim Namen zu nennen, bewundert, so schien doch andererseits eine Versöhnung mit seinen Landsleuten schwer.

Am Ende seines Lebens aber, nach seinem Doktor Faustus und bevor er für seine letzten drei Lebensjahre (1952 – 1955) Amerika wieder verlässt, um – nicht nach Deutschland, sondern in die Schweiz – zurückzukehren, schreibt Thomas Mann einen für seine Verhältnisse kurzen Roman, in dem es um ganz anderes zu gehen scheint. Noch keine 300 Seiten hat Der Erwählte, jene mittelalterliche Geschichte vom »guten Sünder«, für die Hartmann von Aues Versepos Gregorius aus dem 12. Jahrhundert die Vorlage liefert.

Der Erwählte erschien 1951

Es ist vielleicht das am wenigsten bekannte Werk Thomas Manns, in einem ganz eigenen, mittelalterlich anmutenden Idiom geschrieben, das aus allem Politischen herauszufallen scheint. Auf jeden Fall ist es das vergnüglichste Buch, obgleich es um schwerste Sünde geht. Aber es geht eben auch um die Gnade.

Das Buch handelt von Gnade

Der irische Mönch Clemens – eine der sympathischsten Figuren im Werk Thomas Manns – erzählt uns zu unserer »Unterhaltung und außerordentlichen Erbauung« und natürlich in Kenntnis des guten Ausgangs der Geschichte von einer moralischen Verfehlung, die ihn, den Mönch, vielleicht noch mehr als andere schmerzhaft aufstöhnen lassen müsste: Er erzählt von einem doppelten Inzest.

Doppelter Inzest

Wiligis und Sibylla, ein herzogliches Zwillingspaar, das »aus dem Tode« geboren wurde – ihre Mutter starb bei ihrer Geburt – vereinigen sich noch in der Nacht, die auf den Tod ihres Vaters folgt. Sie sehen sich selbst als »völlig exceptionelle Kinder«, die ganz füreinander bestimmt sind, weil nur sie einander ebenbürtig sind. Dass das aber eigentlich nicht geht, das meldet ihr treuer Hund Hanegiff, der entsetzlich heult, bevor der Bruder sich ins Bett der Schwester legen kann. Der erzürnte Wiligis schneidet Hanegiff kurzerhand die Kehle durch. Für Clemens ist bei all den Geschehnissen dieser Nacht, die er als ein »Gewöll von Liebe, Mord und Fleischesnot, dass Gott erbarm« beschreibt, das Schlimmste die Tötung des Hundes, nicht der Inzest. Dieser aber treibt die Geschichte voran. Sibylla wird schwanger.

Die Geschwister vertrauen sich einem verschwiegenen Freund der Familie an, der die notwendigen Entscheidungen trifft. Das heimlich geborene Kind wird auf dem Meer ausgesetzt. Ob es untergehen oder gerettet wird, soll Gott entscheiden.

Gott soll entscheiden

Freilich hofft man schon auf seine Rettung und versorgt den Säugling reichlich mit edlen Stoffen und Gold. Im Hintergrund wogen die Legenden von Ödipus, Judas und Moses, und natürlich wird der Junge nicht vom Meer verschlungen, sondern von Fischern an Land gebracht und dem Abt eines Inselklosters im Ärmelkanal übergeben. Dieser tauft das Kind auf seinen eigenen Namen: Gregorius. Dem Findling ist eine Tafel mitgegeben, die die Besonderheit seiner Herkunft nicht verschweigt. Für den Abt bedeutet die adelige und zugleich sündhafte Herkunft seines Schützlings ebenso eine schwere Bürde wie eine Auszeichnung.

Der heranwachsende Gregorius, der sowohl bei einer Fischersfamilie als auch in der Gelehrsamkeit des Kloster aufwächst, fühlt sich an beiden Orten fremd. Bei einem Streit mit seinem Ziehbruder, den dieser wegen Gregorius´ provozierend gelehrter Besonderheit, vom Zaune bricht, schlägt er dem Fischerjungen die Nase ein. Die erzürnte Mutter verrät ihrem Sohn, dass der andere nur ein Findelkind ist. Gregorius hört dies und verlässt gegen den Rat seines geistlichen Vaters die Insel, ausgerüstet mit dem Geld und der Tafel, die ihm von seiner Schwester-Mutter mitgegeben worden waren. Er will seine Eltern suchen, um ihnen zu verzeihen.

Der Sohn will seinen Eltern verzeihen

Lange muss er nicht suchen, denn sein Schiff strandet bei der umkämpften Stadt einer Herzogin. Es herrscht ein »Minnekrieg«, weil sich die Herzogin einem Bewerber um ihre Hand verweigert. Die Frau ist keine andere als Gregorius´ Mutter, und obwohl er eigentlich keine Erfahrung als Ritter hat, besiegt Gregorius jenen hartnäckigen Bewerber und Feind seiner Mutter. Den fremden Ritter aber akzeptiert Sybilla nun als ihren Gatten. In ihm sieht sie den Ebenbürtigen. Unter dem Deckmantel der Unwissenheit um ihre Verwandtschaft heiraten die beiden, und Gregorius freut sich – der Erzähler spart hier nicht an drastischer Formulierung – »wie ein Narr an den Brüsten, die ihn säugten«.

Im Grunde wissen beide, wer der andere ist. Am Ende jedenfalls gestehen sie es einander und dass sie sich bei der Entdeckung nur »angestellt haben«.

Dort, »wo die Seele keine Faxen macht«, wusste auch Gregorius, dass es seine Mutter war, die er liebte.

Es ist also nicht wie bei Ödipus und Iokaste. Es gab keine »teuflische Täuschung«, sondern allein die Sehnsucht nach dem einzig Ebenbürtigen und die Liebe zu ihm. Der Erzähler muss all dies als die größte Sünde bezeichnen, obwohl er auch immer wieder ein Verständnis für die Liebe der beiden durchblicken lässt. Schon als Mönch steht er in größtem Kontrast zu dem Frevel, in dem Mutter und Sohn die Sünde des Zwillingspaares erneuern. Was folgt, ist die Buße, und diese ist ungeheuer groß. Bei Sybilla ist sie noch gut nachvollziehbar: Sie nimmt sich der Alten, Obdachlosen und Kranken an – wäscht ihnen die Füße. Bei Gregorius aber ist sie unvorstellbar, und so muss der Erzähler tief in die Kiste des Wundersamen greifen, dass er sie uns doch vor Augen führen kann: Es ist die Buße auf dem Fels in einem See, auf dem es nichts anderes gibt als eine »Erdmilchquelle«, die Gregorius 17 Jahre lang ernährt. Dabei lebt er in absoluter Einsamkeit und ist allen Unbill der Witterung preisgegeben. Am Ende ist er zu einem »hornigen, filzigen kleinen Geschöpf«, einem »Igel« zusammengeschrumpft. – So klein muss er werden, um wieder ganz groß zu werden.

Gregorius ist es, der, durch die Visionen zweier Römer bezeugt, den verwaisten höchsten Stuhl in Rom neu besetzen wird: Er wird Papst. Dass ein so »verzotteltes Naturding« zum Oberhaupt der Kirche werden soll, ist unbegreiflich und gewiss auch auf klerikale Kritik am Roman gestoßen. Aber genau darum geht es: Die Erwählung ist schwer zu fassen und dem Verstand nicht recht zugänglich. Ja, Gregorius selbst sagt als Papst von ihr, sie grenze an Willkür. – Und doch hat sie ihre eigene Logik: Das Unwahrscheinliche ist möglich. So schlimm die Schuld ist, so gibt es doch einen Ausweg: den der Buße und Gnade.

Ausweg aus der Schuld

Bei Sybilla und Gregorius kommt noch hinzu, dass sie selbst ihre Liebe zueinander gar nicht so verwerflich fanden wie die Welt sonst, aber sie nehmen das Urteil der Welt an. Wichtiger noch ist allerdings, dass sie an jenen Punkt gelangen, »wo die Seele keinen Faxen mehr macht«, wo sie sich keiner Selbsttäuschung mehr hingibt und ins Offene hinein sich dem fügt, was kommt. 17 Jahre auf dem Stein sind keine Kleinigkeit – eine unendliche Zeit, die wohl nur »literarisch« überstanden werden kann, die aber ausdrückt, dass hier einer einwilligt, nicht verzweifelt ist, sondern sich ganz dem hingibt, was ihm von jenseits menschlichen Ermessens zukommen wird. Ohne Gewissheit lebt Gregorius doch in Zuversicht.

Der späte Thomas Mann spricht nicht nur im Zusammenhang seines letzten Romans, sondern auch der Weltereignisse und eben wohl auch seines Alters von der Gnade.

Ende der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts, in denen der Roman entsteht, im Bewusstsein der ungeheuren Verbrechen der Nazizeit, im Übergang vom antifaschistischen Bund der Kriegsalliierten zur Gegnerschaft des Kalten Krieges und der Angst vor einem dritten Weltkrieg legt Thomas Mann seine jenseits aller Konfessionen geltende Religiosität dar:

»Da wird […] nur ein Trostgedanke bleiben: der an die Gnade, diese souveränste Macht, deren Nähe man im Leben schon manchmal staunend empfand, und bei der allein es steht, das Schuldiggebliebene als beglichen anzurechnen.«[2]

Auch wenn der Autor zunächst bestreitet, dass Der Erwählte etwas mit Deutschland, seiner Schuld und seinem Gnadenbedürfnis zu tun hat, zieht er es etwas später doch in Erwägung, denn wer weiß, ob nicht sein Unterbewusstes bei der Arbeit am Roman damit beschäftigt war: »Beim Erzählen des ›Erwählten‹ […] habe ›ich‹ an Deutschland überhaupt nicht gedacht und finde auch, dass die Deutschen nicht glauben sollten, dass man bei all und jedem unbedingt an sie gedacht haben muss. Aber was heißt ›ich‹ und was heißt ›denken‹. Ich habe das deutsche Schicksal schließlich erlebt, und wer weiß, ob Sie nicht gegen mein Bewusstsein recht haben und ob nicht doch bei ›Schuld‹, ›Sühne‹ und ›Igel‹ eine ›unterschwellige‹ Bezugnahme auf dies Erlebnis im Spiele war.«[3]

Geständnisse

Was im Roman auf jeden Fall beeindruckt ist, dass beide – Sybilla und Gregorius – bei der Audienz, die am Ende der Papst der großen Sünderin gewährt, sie sich beide ihre Geständnisse machen: Immer haben sie gewusst, wer der andere ist. Jetzt ist der Augenblick der völligen Aufrichtigkeit gekommen: »Unwürdig«, so Sybilla, »wäre sie des päpstlichen Ohres, wenn sie nicht ohne Hinterhalt die Fickfackerei ihrer Seele gestände«. Es ist der Umgang mit der Schuld, der eine Bedingung für das Verzeihen und die Rechtfertigung darstellt. Die völlige Ehrlichkeit hat Zukunft. Das lässt sich auch unmittelbar auf die Schuld vieler Deutscher übertragen. Die Einsicht in die Verfehlung, das Aufhören der Faxen, die die Seele macht, um schön zu färben – das ist Grund für Versöhnung und Neuanfang.

Gregorius ist sich ganz der Gnade seiner Erwählung bewusst. Auch steht seine ganze Geschichte für den Leser, der von Clemens fast von Anfang an weiß, dass sie gut ausgehen wird, in ihrem Zeichen. Was aber noch hinzukommt, ist die Art und Weise, wie sie erzählt wird – und so kann nur seine Geschichte erzählt werden und nicht die Deutschlands: mit Humor.

Das Buch ist tatsächlich ein amüsantes und vergnügliches. Nirgends eine Spur von Verbissenheit oder Unversöhnlichtkeit.

Das ist vielleicht das, was man – parallel zur Gnade – selber machen kann: trotz allem den Humor nicht verlieren. So subtil und meisterhaft wie Thomas Mann in seinem letzten Roman kann das freilich sonst keiner. Der Welt »etwas höhere Heiterkeit« zu bringen, war auch seine erklärte Absicht,[4] denn

»diese höheren Späße […] lassen am besten Gram und Grauen der Zeit vergessen«.[5]

Summarisch aber schreibt er dann doch auch wieder sehr elegisch über den Erwählten, die Weltlage, das Alter und die Frage nach der Schaffenskraft:

»Das kleine Buch macht viele Späße, aber mit der Idee der Gnade, in deren Zeichen längst mein Leben und Denken steht, ist es ihm reiner Ernst. Ist es denn nicht auch die pure Gnade, dass ich nach dem verzehrenden ›Faustus‹ noch dies in Gott vergnügte Büchlein hinbringen konnte? Ich könnte wahrhaftig noch mehr hinbringen, aber die Ausweglosigkeit der Weltlage, die krankhaft gespannte Atmosphäre hier drücken schwer auf mich und halten meine produktive Laune nieder, ohne die doch kein Leben ist.«[6]


[1] So in seiner Radioansprache vom April 1942. – Unter dem Titel Deutsche Hörer! hielt Thomas Mann von Los Angeles aus zwischen 1940 und 1945 fast monatlich kurze Ansprachen, in denen er die politische Lage im Nationalsozialismus, das Kriegsgeschehen und die Verbrechen in den KZs mahnend seinen Landsleuten darlegte. Die Sendungen wurden über die BBC ausgestrahlt.

[2] Meine Zeit, in: Thomas Mann: Essays, hg. von H. Kurzke u. S. Stachorski, 1993–1997, Bd .VI, S. 160f.

[3] Brief an Erwin Loewenson vom 23.8.1953.

[4] Brief an Hans Reisiger vom 4.11.1950.

[5] Brief an Grete Nikisch vom 30.3.1951.

[6] Brief an Hermann Stresau vom 27.4.2951.

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