Über eine Schicksalsbegegnung, eine folgenschwere Entscheidung und einen Segensakt
Im März 2022 öffnete sich unsere Gemeinde für eine größere Gruppe von Kindern, Jugendlichen und Frauen, die vor den Kriegswirren aus ihrer Heimatstadt Dnipro in der Ukraine geflohen waren. Bis zu dreißig Menschen wurden behelfsmäßig in unseren Räumen beherbergt, bis sie schließlich in eigene Wohnungen ziehen oder bei Familien im Kasseler Stadtgebiet untergebracht werden konnten.
Mascha
Das Besondere war, dass unserer Gemeinde und unseren Gästen immer wieder unerwartet Hilfe und Unterstützung zukamen. Insbesondere seitens einer jungen ukrainischen Mutter, die mit ihren Eltern und Kindern schlussendlich bei uns im Gästezimmer lebte: Mascha. Sie hatte vor zehn Jahren in Deutschland ihre Ausbildung zur Klassenlehrerin gemacht und sprach akzentfrei unsere Sprache. Wesentlich ihrem Einsatz verdanken wir, dass sich alle Gäste nach den durchlebten Schrecken hier in Kassel einigermaßen gut beheimaten konnten. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie die ganzen Behördengänge unserer Gäste ohne Maschas unermüdlichen Einsatz verlaufen wären. Im Schuljahr 2023 half sie außerdem der Waldorfschule Kassel in einer großen personellen Not und übernahm die erste Klasse als Klassenlehrerin.
Sorge vor Entfremdung
Viele Menschen aus der Ukraine hofften bei ihrer Flucht, dass der Krieg innerhalb weniger Wochen oder Monate enden würde und ein wie auch immer gearteter Frieden käme. Diese Hoffnungen erfüllten sich nicht. Drei Jahre vergingen, während derer Mascha ihren Ehemann, der Soldat ist, nur selten zu Gesicht bekam. Die Kinder – die jüngste Tochter war erst zwei Jahre alt, als sie flohen – erinnerten sich kaum noch an ihren Vater. So wuchs Maschas Sorge, dass sich die Familie immer mehr entfremden würde.
Nach vielen Gesprächen und Abwägungen stand ihr Entschluss fest, mit den beiden Kindern zurück nach Dnipro zu ziehen, in der Hoffnung, dass die Familie sich so häufiger würden sehen können. Darüber hinaus brauchte die Waldorfschule vor Ort dringend Unterstützung.
Den Ernst und auch die Schwere dieser Entscheidung hat hier in Kassel niemand in Frage gestellt. Was können wir einer solchen Familie mitgeben außer unserem tief empfundenen Dank?
Ein Segen als Geleit
Wir fragten uns und Mascha, ob wir einen „Segnungsgottesdienst“ ausrichten dürften, bei dem auch Freunde und Gemeinde anwesend sein würden. Sie nahm den Vorschlag dankbar an.
Doch wie können wir als Gemeinde einen solchen Segen gestalten? Wie segnet die Christengemeinschaft ganz konkret?
Natürlich kenne ich den Segen Aarons: „Der HERR segne dich und behüte dich. Der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.“ (Das vierte Buch Mose (Numeri), 6,24-26)
Allein, irgendetwas passt meines Erachtens hier nicht mehr für uns als Christengemeinschaft. Ist es das erhabene Alter dieses Segens? Wer ist der „HERR“, der hier angerufen wird? In der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes steht für „Herr“: „Kyrios“. Im Hebräischen erscheint der verborgene, nicht laut auszusprechende Gottesname, der auch wegen seiner vier Buchstaben als Tetragramm bezeichnet wird. Ist der HERR mehr in der Christussphäre zu verorten oder ist mehr die vatergöttliche Welt die Quelle dieses Segens?
Wie wir im Kultus segnen
Im Nachsinnen über den Segen innerhalb der Christengemeinschaft fiel mir auf, dass, wenn wir im Kultus einen Segen spenden, wir das „Gewahrwerden des Christus“ im Menschen segnen. Sieben plus ein Mal spendet der Zelebrierende den „Christus in Euch“-Segen in der Weihehandlung: Siebenmal im Zusammenhang mit dem eröffnenden „Der Vater Gott sei ins uns…“ mit gleichzeitiger Bekreuzigung, doch einmal ohne diesen Rahmen, nämlich vor der Verkündigung des Evangeliums: Hier erfolgt keine Bekreuzigung und der Priester zelebriert ohne Casula.
In der Konfirmation wird das Kind in seiner Einsegnung zur Jugend geführt, indem der Priester die Christuskraft bei der Handauflegung über das Kind hereinbittet: „so leite der Christus…“.
Bei der Sonntagshandlung für die Kinder heißt es zwar beim Segen: „Ich rufe zum Gottesgeist…“ aber aus dem ganzen Vorgang ist deutlich, dass auch hier im Gottesgeist hauptsächlich der Christus gemeint ist. Die Christengemeinschaft, gleich ob sie Menschen als Einzelne oder als Gemeinschaft segnet, segnet immer mit den Worten: „Christus in Euch“.
So mündete der Segnungsgottesdienst für Mascha mit ihren Kindern im „Christus in Euch“. Im Beisein einer sehr großen Gemeinde hörten wir eine besondere Musik, dann wurde ein passender Abschnitt aus der Bergpredigt verkündet. Die Ansprache hatte unsere gemeinsame, schicksalsträchtige Zeit und den Dank der Gemeinde für die vielen Hilfestellungen, die wir erlebten, zum Inhalt. Unser tiefster Wunsch, den wir als Gemeinde füreinander erbitten können, ist: „Christus in Euch“.
Foto: Dhivakaran

Verfasst von Hans-Bernd Neumann
Pfarrer in Kassel



