Priesterinnen in der Christengemeinschaft (II) 1
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, dass Rudolf Steiner schon bei seinem ersten Gespräch mit den drei jungen Leuten, die sich auf der Suche nach einer »neuen Kirche« befanden, die Frau unter ihnen fragte, ob sie denn die einzige sei. Ohne etwas über Tonfall und Mimik zu wissen, von denen seine Frage begleitet waren, können wir annehmen, dass er hoffte, dass das nicht so wäre.
Aber warum war ihm die Frage wichtig? Und warum war die junge Frau, Gertrud Spörri, überhaupt mitgekommen, wenn es doch noch so gut wie keine Frauen als ordinierte Geistliche in anderen Kirchen gab?
Rudolf Steiners Weitsicht
Rudolf Steiners Weltsicht, von der auch die jungen Menschen berührt waren, war eine radikal andere, als das bürgerliche Selbstverständnis von Geschlechterrollen und Familienverhältnissen, das in seiner Zeit vorherrschte. Unter Auslassung all der komplexen Erkenntnisse zu Menschen- und Weltentwicklung, die er in seinem Werk an verschiedenen Stellen gemacht hat und für deren Erörterung hier nicht der richtige Ort ist, ergibt sich als seine Perspektive ein Bild des Menschen als eines Wesens, das in Ursprung und Ziel nicht Mann oder Frau ist, sondern wie in der Schöpfungsgeschichte berichtet »männlich-weiblich« geschaffen ist, mit dem androgynen – oder besser gesagt vollmenschlichen, weder weiblichen noch männlichen, menschlichen Gottesebenbild als ewigem Entwicklungsziel. Dieses Menschenwesen hatte sich im zweiten Teil des Schöpfungsberichtes gespalten in Mann und Frau, um sich selbst gegenüber stehen zu können – Grund zur Reflexion und damit zur Entwicklung.
Das vollmenschliche Gottesebenbild als Entwicklungsziel
Um sich dem Ziel der Menschenschöpfung anzunähern, bedarf es einer Evolution, die sich nicht nur auf die physisch-materielle Seite des Daseins beschränken kann. Grob vereinfacht kann man sagen, dass wir Menschen an diesem Prozess in unterschiedlichen »Rollen« immer wieder beteiligt sind, wie es sich schon Lessing in seiner grundlegenden Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts vorstellte, und zwar mehr oder weniger abwechselnd in männlichen und weiblichen Inkarnationen. So sind wir an der Entwicklung des Menschseins in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen des Mann- und Frauseins immer wieder neu beteiligt. Denn es wandelt sich durch die Zeiten natürlich auch das Rollenverständnis und bleibt keineswegs beschränkt auf das, was unsere jeweilige Zeit uns anbietet. Und nicht nur das – auch an verschiedenen Orten, in verschiedenen Kulturen und Ethnien verläuft die Entwicklung der jeweiligen Individualität. Die ewige Entelechie, die mit der Geburt ein Erdenleben auf sich nimmt, will Erfahrungen machen, die dann als großes Gesamtbild die Menschheit weiterbringen.
Eine Befreiung
Diese Gedanken haben etwas ungeheuer befreiendes: Wir sind heute so immer weniger befangen in Rollenvorgaben, und da die Menschheit auch weiterhin in Entwicklung ist, kann das weit mehr sein als ein »Trost«. Wir sind aufgerufen, das Menschendasein in einem solchen Freiheitsverständnis immer neu mit zu formen!
Was heißt es nun, sich als Mann oder als Frau zu inkarnieren? Inwiefern sind wir eigentlich wirklich verschieden? Ist nicht der individuelle Unterschied in unserer Zeit schon viel größer als der geschlechtsbezogene? Und was bleibt trotzdem an »konstitutioneller Verschiedenheit«? Wenn ich mit Jugendlichen über diese Fragen spreche, machen wir uns zunächst einmal klar, dass wir keine absoluten Aussagen darüber machen können, wie der/die Einzelne Mann oder Frau zu sein hat.[2] Bei der Charakterisierung dessen, was wir als archetypische Eigenschaften bemerken können, geht es immer nur um Durchschnittswerte, Spitzenwerte, Extremes, das es heute so in Reinkultur gar nicht mehr gibt – und auch nicht geben sollte!
Das Geschlechtstypische ist tatsächlich individuell sehr gemischt — und dass wir das so anerkennen können, ist vielleicht der größte Entwicklungsschritt der letzten hundert Jahre.
Rudolf Steiners Menschenkunde hat dieses Lebensgefühl nicht nur vorausgeahnt, sondern mutig vorweggenommen, was die ersten Jahrzehnte des Priestertums der Frau nicht schmerzfrei machte. Da rieb sich oft das alte »Frauenbild« an der Individualisierung des einzelnen Menschen, der immer in unterschiedlichsten Mischungen männlich-weiblich ist, ja, es heute sogar sein muss! Das Angeborene kann und soll heute im Einzelschicksal bearbeitet werden. Es ergänzt sich nicht nur durch männlich-weibliche Zusammenarbeit und Partnerschaften, sondern auch im einzelnen Menschen selbst.
Das alte Frauenbild rieb sich an der Individualisierung
Und doch können wir phänomenologische Beobachtungen machen, die uns die archetypischen Geschlechterrollen als Faktoren dieser Entwicklung verdeutlichen, auch wenn sie heute oft bestenfalls wie Karikaturen wirken und mit einem gewissen Recht leicht als diskriminierend empfunden werden.
Phänomenologische Betrachtungen
Der Physis nach sind männliche Menschen im Schnitt schwerer, größer und auch überlegen an Muskelkraft. Durchschnittlich ist das so, und auch in den Spitzenwerten läuft der schnellste Mann schneller als die schnellste Frau, er springt höher, weiter, kann weiter werfen und schwerere Gewichte tragen. Und doch sind die Spitzenwerte der Frauen weit über dem Durchschnittswert der Männer, so dass sich daraus keine individuellen Erkenntnisse ableiten lassen. Manche Frauen sind größer, schwerer und stärker als viele Männer… Das ist für die Jugendlichen, mit denen ich über diese Themen ins Gespräch komme, durchaus wichtig zu reflektieren. Es stärkt das Selbstbewusstsein der Mädchen und hält die Burschen davon ab, hochmütig zu werden oder unter übertriebenem Erwartungsdruck zu stehen. Jeder hat individuell verschiedene Voraussetzungen, jede kann an sich arbeiten.
Erstaunlich sind die Werte für die Vitalität, die Lebenskräfte.[3] Es werden zunächst mehr Jungen geboren als Mädchen (etwa 105-107: 100), dann gleicht sich die Anzahl bis zum Ende der Pubertät stetig an. Und die Lebenserwartung scheint bei Frauen fast überall auf der Welt um einige Jahre höher zu sein als bei Männern. Männer können in kurzen Momenten Kinder zeugen, Frauen verfügen in ihrer Konstitution über die Fähigkeit, ein Kind neun Monate lang auszutragen und in der ersten Zeit des Lebens zu ernähren, was es wohl erforderlich macht, dass ein gewisser Überschuss an Lebenskräften vorhanden ist. Überflüssig zu sagen, dass auch dies nur spärlich belegte, wenn auch plausible Durchschnittswerte sind.
Die Lebenskräfte sind aber nicht nur die Kräfte, die uns lebendig erhalten, sondern am Anfang des Lebens wird aus diesem Bereich heraus auch der Körper aufgebaut, wobei die Geschlechtsdetermination schon vorgeburtlich eintritt, und sich bis zur Pubertät weiter ausbildet.[2]
Um einen entsprechenden Körper in seiner Differenzierung hervorzubringen, braucht es unterschiedliche Anteile unserer Vitalität, was zu der Annahme führen kann, dass jeweils auch andere Anteile der Lebenskräfte weniger gebraucht werden und damit »frei« zur Verfügung stehen. Wie gesagt, alles in zunehmend individuellen Mischverhältnissen … Rudolf Steiner betont mehrfach, dass sich der Unterschied von Frau und Mann eigentlich nur auf den physischen Leib und die Lebenskräfte (Ätherleib oder Bildekräfte) bezieht. Und doch hat diese leibliche Ebene einen Einfluss auf die Art und Weise, wie die Seele sich äußert, auch wenn die Individualität, der Geist, übergeschlechtlich ist.
Bedeutung der Zusammenarbeit
Und genau hier liegt der Grund, der es gerade in Übergangszeiten wie den unseren wichtig macht, dass alle Arten von Menschen zusammenarbeiten, also auch am Altar dienen bzw. in den drei Hauptgebieten des priesterlichen Lebens wirksam werden, die Eugen Drewermann mit »Poet, Prophet und Therapeut«[5] bezeichnete, also im sakramentalen Handeln, in der Verkündigung und in der Seelsorge.
Jede einseitige Bevorzugung bestimmter Konstitutionen würde das Ganzmenschliche der Erneuerungsarbeit in einer Sakramentengemeinschaft verhindern und in Einseitigkeiten führen.
Noch fällt vielen Frauen das Erleben des Seelischen leichter, ihr Seelenleben scheint differenzierter, lebendiger zu sein, oft auch reflektierter. Männer, die weniger im persönlichen Verhältnis zu den Erscheinungen leben, haben deshalb oft ein »objektiveres«, aber auch abstrakteres und beharrenderes Verhältnis zur Welt. Frauen neigen zur Unzufriedenheit mit seelischen Unzulänglichkeiten und haben das Bedürfnis sich zu verändern, Männer sind eher bereit, auch Halbgutes zu akzeptieren und so zu bleiben, wie sie sind, und so weiter — es gibt dazu viele amüsante Beobachtungen, die in ihren karikaturhaften Überbetonungen zwar zu gewissen Wiedererkennungseffekten führen, aber auch an der Wahrheit vorbeigehen, dass wir heute alle die Möglichkeit in uns tragen, an unseren Einseitigkeiten zu arbeiten, und daher gar nicht mehr so einseitig sind oder sein müssen!
Und so mag manche Frau damit ringen, die seelisch-persönlichen Faktoren, das Bunte im Leben, in eine gewisse Objektivität zu bringen, um ganz-menschlicher zu werden. Das wird ihr in den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen durchaus auch abverlangt. Es müssten aber ebenso auch viele Männer daran arbeiten, ihr seelisches Leben so weit zu bearbeiten, dass das vermeintlich Objektive (und doch oft eben nur Theoretische oder Abstrakte) sich mit Leben füllen kann. Deshalb kann es manchmal so wirken, als bräuchten Männer zur seelischen Anregung das weibliche Element, Frauen dagegen sind sich oft selbst genug Anstoß zur Selbsterziehung (bzw. bekommen diesen von außen, aus den Verhältnissen, die ihnen ein gewisses »Ihren-Mann-Stehen« abverlangen …).
Eine Kollegin sagte dazu einmal etwas frustriert: »Die meisten meiner Kollegen halten sich für ihr seelisches Leben eine Frau …«
Seelisches kann Geistiges stören oder bereichern, das ist letztlich für jeden Menschen eine Frage der Selbsterziehung. Es braucht möglichst den ganzen Menschen – im Einzelnen wie im Zusammenwirken verschiedener Menschen, nicht nur im Priestertum, sondern in allen Gemeinschaftsstrukturen.
Auch die in der Anfangszeit der Christengemeinschaft noch sehr offene Frage von Ehe — oder gar Mutterschaft! – beinhaltet letztlich Aufgaben, die sich aus den sozialen Bedingungen, den wandelbaren gesellschaftlichen Strukturen in der jeweiligen Kultur ergeben. Rudolf Steiner war in dieser Beziehung deutlich weiter als viele Zeitgenossen, auch unter den frühen Priestern. Wenn überhaupt, so stellt sich eine individuelle Frage nach der Familiengestaltung – und die Frage, ob es genug Männer gibt, die eine Frau mit anspruchsvollem Beruf zu unterstützen bereit sind. Ihre vielleicht leichter auszubildende Bindungsfähigkeit könnte sich von der Fürsorge für Kinder und Familie durchaus auf eine Gemeinde erstrecken, wenn genug Unterstützung im Äußeren da ist. Heute entsteht aber auch die Frage, ob Männer für die Sorgearbeit in der Familie nicht genauso viel Freiräume brauchen, wenn sie nicht ihre Partnerinnen, die diese Arbeit sonst leisten müssen, in die Einseitigkeit zwingen wollen.
Die Sorge, ob die Theologie durch »zu viele Frauen« verkümmert, wie sie in den frühen Jahren der Frauenordination z.B. in den protestantischen Kirchen verschiedentlich geäußert wurde, ob die Seelsorge bei weiblichen Geistlichen zu sehr in den Vordergrund tritt gegenüber der akademischen Theologie, der Lehre, ist eine einseitig männliche Frage. Vielleicht stand die Theologie gegenüber der Seelsorge zu lange im Vordergrund? Beides wäre einseitig. Der Christus selbst hat lehrend und heilend gewirkt – und vor allem durch seine Erdentaten den Menschen ermöglicht, ihm nachzufolgen.
Weibliches Priestertum heißt nicht, gefühlsbetont, aus dem Bauch heraus, unreflektiert zu sprechen und zu handeln, was (nicht nur bei Paulus) oft als die Gefahr der weiblichen Konstitution gesehen wird. Aber es heißt auch nicht, in vermeintlich »männlicher« Manier über alle Gefühle und seelischen Anfechtungen erhaben zu sein. Die Mischung aus beidem ist individuell sehr unterschiedlich. Schon deshalb verbietet es sich, aus dem Geschlecht eines Menschen eine Eignung oder Nichteignung zum Priestertum abzuleiten.
Warum war Christus als Mann inkarniert?
Bleibt das letzte »Argument« der Gegner der Frauenordination: Weil Christus Mann war! Aber warum war der Christus als Mann inkarniert, obwohl er für alle Menschen wirken wollte? Weil er in seiner Zeit nur als Mann für die Menschen wirken konnte?
So tief wie möglich inkarniert zu sein, das hieß und heißt, als Mann zu leben. Das Wesen des Christus selbst ist aber der Mensch an sich, der androgyne, weder weibliche noch männliche Mensch. Ja, Er, der sogar einen Männerkörper durchdringen konnte, hat sich (im wahrsten Sinne des Wortes) zutiefst mit den Menschen verbunden, und zwar nicht nur, weil es historisch geschickter, in seiner Zeit gesellschaftlich akzeptierter war … Für das Priestertum unserer Zeit ist genau das eben keine Vorentscheidung mehr. In der Zwischenzeit hat sich der Mensch stetig weiter entwickelt, und die Konstitution ist längst nicht mehr so polarisiert in die zwei Geschlechter wie zur Zeit des Christusereignisses.
Das Priestertum heute und in der Zukunft braucht den ganzen Menschen, braucht alle Menschen!
Ob Rudolf Steiner in seiner Zeit die Gefahr sah, dass die meisten Männer, gerade wenn eine Frau ihnen nicht nur praktisch, sondern auch seelisch vieles abnahm, in der Gefahr standen, intellektuell abstrakt zu bleiben, und ob er deswegen Wert darauf legte, Frauen gleichberechtigt mit einzubeziehen? Jedenfalls ist er nicht in die Falle getappt, das weit in die Zukunft gedachte neue Priestertum nur passend zu den gesellschaftlichen Vorstellungen seiner Zeit zu veranlagen.
[1] Zu Teil I siehe Heft 2/2025.
[2] Siehe Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit, 9. Kapitel.
[3] Siehe dazu auch, wenn auch zum Teil überholt im Zahlenwerk: Wolfgang Gädecke: Ehe – Sehnsucht, Idee, Wirklichkeit, Stuttgart, 2000, S. 63.
[4] Mit allen Variationen, die wir dabei heute zunehmend wahrnehmen können!
[5] Eugen Drewermann: Kleriker, Olten 1989.

Ilse Wellershoff-Schuur
geboren 1958, Priesterin in Oldenburg