Engelsburgen – Sacra di San Michele

Engelsburgen – Sacra di San Michele

Piemont. Michaelizeit. Die Marktstände in Turin quellen über von den Früchten des Landes. Noch einmal zeigt sich die überbordende Fülle des Sommers, ein letztes aufbäumendes Fest, ehe das Jahr dem Herbst zugeht. Ein mildes Licht taucht die Hügel in Pastell, als wir westwärts fahren, den Cottischen Alpen zu. Im Susatal ist schon von weitem die markante Gestalt der Sacra di San Michele zu sehen. Wie eine Engelsburg thront sie auf tausend Metern hoch über dem Tal auf dem Felssporn des Pirchiriano. Aus manchen Blickwinkeln scheint es, als würden dessen Felswände fast senkrecht zum See von Avigliano abfallen oder besser, sich himmelwärts schwingen. Sankt Michael bei der Klus, so der deutsche Name ist der Wächter über dem Susatal. Schon in römischer Zeit bestand hier ein Militärposten, welcher diesen strategischen Übergang vom Piemont nach Gallien kontrollierte. Um die erste Jahrtausendwende entstand dann diese Benediktinerabtei, welche Umberto Eco zu seinem Roman »Der Name der Rose« inspirierte und auch uns unwillkürlich in Bann zieht. Schon beim ersten Blick aus der Ferne kommen einem Parallelen in den Sinn, ruft die Form Erinnerungen wach an Skellig Michael, das westlichste der michaelischen Heiligtümer, eine steile Insel in der sturmumtosten irischen See, und natürlich an den berühmten Mont St. Michel in der Normandie. »Au péril de la mer« heißt dessen vollständiger Name, in den Gefahren des Meeres. Niemals war Michael billig zu haben. Nur mit den Mutigen ist er. Mut brauchte es auch, diese Engelsburg auf dem Pirchiriano so kühn zu entwerfen, welche sich wie eine Insel, einem Himmelsturm gleich aus dem grünen Meer der Kastanienwälder emporschwingt.

Wie ein Labyrinth

Unsere Aufregung wächst und lässt uns wenig Schlaf finden. Eine unruhige Nacht liegt hinter uns, als wir frühmorgens vom Zeltplatz in Avigliano aufbrechen mit dem Autobus Richtung Kloster. Doch statt uns dem Heiligtum zu nähern, scheint uns der Weg zunächst von ihm fortzuführen, verschwindet die schmale Straße im dichten Grün der Wälder. Wie in einem kretischen Labyrinth mäandert unser Weg um das Zentrum, zwingt uns nach außen zu gehen auf dem Weg nach innen, gibt dann plötzlich durch die Bäume wieder einen Blick auf das ersehnte Ziel frei, welches schon greifbar nahe aufleuchtet, um sich dann nochmals zu entfernen. In unzähligen Kehren windet sich die Straße durch die Kastanienwälder. Immer wieder müssen wir langsam machen oder gar einen Stopp einlegen, der Wildschweine wegen, die in großen und kleinen Horden plötzlich die Straße queren, berauscht von der Fülle an Futter. Maronenmast. »Porcarianus« ist der antike Name des Berges, Schweineberg, und er scheint seinem Namen alle Ehre zu machen.

Unvermutet vor dem Heiligtum

Und dann stehen wir plötzlich, unvermutet fast, vor dem Heiligtum. Von Westen haben wir uns ihm genähert, in einem Sattel liegen die weitläufigen Parkplätze, welche zu dieser Jahreszeit beinahe leer sind. Erste Treppen führen über eine grüne Wiese klosterwärts, vorbei am Friedhof der Mönche. Die Kapelle des Sepolcro dei Monaci liegt heutzutage in Ruinen, welche dennoch etwas von ihrer früheren Schönheit erahnen lassen. Im 10. Jahrhundert wurde sie als Nachbildung des Heiligen Grabes von Jerusalem erbaut. Hier muss ein jeder vorüber, der den Weg zu Michael sucht. Wussten die Mönche etwas davon, dass ihr Kloster auf einer Linie mit anderen dem Erzengel geweihten Orten lag, einem Strahl, der von Skellig Michael in Irland bis zum Heiligen Land reichte? Hatten die Erbauer diesen Ort ganz bewusst ausgewählt, auf halber Strecke liegend zwischen zwei anderen berühmten michaelischen Kultstätten, dem im 8. Jahrhundert erbauten Mont St. Michel in der Normandie und dem im 5. Jahrhundert in Apulien entstandenen Monte Sant Angelo von Gargano?

1967 hatten sich die beiden Brüder Jean und Lucien Richer in Frankreich auf den Weg gemacht und die Geographie des Heiligen erkundet. Jean entdeckte die Achse des Apollon, welche den Apollontempel von Korfu mit Delphi, Athen und Delos, dem Geburtsort des Gottes verbindet und bis nach Rhodos, der Insel des Sonnengottes reicht.[1] Zehn Jahre später erweiterte sein Bruder Lucien diese Achse nach Norden und Süden. Ein Strahl wurde sichtbar, das »Schwert des Michael«, prosaischer »l’axe de Saint Michel et d’Apollon«, welche sich von Skellig Michael über den St Michael’s Mount in Cornwall, Mont St Michel, Sacra di San Michele, Gargano, das Kloster Michail Taxiarchos auf der griechischen Insel Symi bis zum Kloster Stella Maris am Fuße des Berges Carmel in Haifa erstreckt.[2] Hier hatte einst der Prophet Elias mit Schwert und Glauben die Baalspriester besiegt, unterstützt vom Erzengel Michael, wie eine ukrainische Legende erzählt. Wenig war zufällig an der Architektur der Altvorderen, vieles inspiriert von einem tiefen Wissen, Verstehen.

Durch die Eiserne Pforte

Wir aber gehen weiter, durch die Eiserne Pforte hindurch, queren immer wieder neue Vorhöfe und steigen Treppen bergan. 239 Stufen werden es allein im Klosterbezirk sein. Und dann, als wir meinen, es geschafft zu haben, geht es erst richtig los. Unsere menschliche Kleinheit wird uns so recht bewusst vor den steil aufragenden Mauern des inneren Bezirks. Und gleichzeitig die menschliche Größe, welche so kühn diese Bögen entwarf und Raum über Raum türmte. Wir stehen vor dem weiten und steilen Treppenhaus, welches zwischen Fels und Stein den Aufgang zum heiligen Bezirk bildet: Die Scalone dei Morti, die Treppe der Toten. Dies ist einer der eindrücklichsten Momente, die Architektur des Weges ist eine einzige Initiation, ein allmähliches Sich-Einschwingen auf die zu erwartende Begegnung, ein Einweihungsweg. In mehreren Wendungen geht es steil nach oben, vorbei an den Gräbern der vergangenen Jahrhunderte. Bis 1936 sollen im Treppenhaus noch die mumifizierten Leiber verstorbener Mönche ausgestellt gewesen sein. So können wir uns Stufe um Stufe bewusst werden, dass wir hier andere Sphären betreten. »Aber die Sphären der Ungeborenen und Verstorbenen weben sich ineinander mit den Sphären der Engel und Erzengel, den hierarchischen Wesenheiten über uns«, so Emil Bock in seinen Beiträgen zu Michaeli.[3] Und mit jeder Treppenstufe können wir uns hier  bereits auf das Wesentliche einschwingen: »Jede Stufe muss selbstlos genug sein, um sich zum Organ der höheren Ordnung zu machen« und: »Das Prinzip der Einwohnung geht durch alle Stockwerke des Daseins hindurch, wo immer das selbstlose Offensein nach oben vorhanden ist.«[4] Stufe um Stufe werden wir eingeladen, uns auch geistig vorzubereiten und Offenheit nach oben zu gewinnen.

Plötzlich oben

Nach der letzten Wendung blendet uns dann das steil von oben durch die Portale della Zodiaco herabfallende Sonnenlicht. Wir gehen zum Licht. Das Tierkreiszeichenportal ist nicht nur der bewusste Eingang zu dieser himmlischen Sphäre, mit ihren kunstvollen Steinmetzarbeiten erzählen die romanischen Säulen und Kapitelle darum herum auch viel von unseren Stärken und Schwächen, unseren Möglichkeiten und Versuchungen. Begegnung mit unserem eigenen Leben. Ängste und Mut. So treten wir durch das Portal und plötzlich stehen wir oben, auf der Plattform, hoch über dem Tal. Ein atemberaubender Blick bietet sich uns, und mancher mag davon wissen, der an klaren Herbsttagen die Höhe der Berggipfel sucht. Weit unter uns, zu unseren Füßen, tief unten im Tal breitet sich die Welt. Ein guter Platz, um Überblick zu gewinnen. Ein beinahe engelischer Blick.

Wendung nach Innen

Und doch sollen wir hier nicht verweilen. Eine weitere Wendung wartet auf uns. Die Wendung nach innen. Dieses Mal ist es nur eine Stufe, die Schwelle, welche alles bedeutet. Der Blick muss sich von der Welt lösen und nach innen gehen. »Nirgends, Geliebte, wird Welt sein als innen / Unser Leben geht hin mit Verwandlung / Und immer geringer schwindet das Außen«, besingt es Rilke in den Duineser Elegien.[5] Rilke, der wie kein anderer Stimme des Erzengels wurde, hellsichtig die Wandlungsaufgaben des Menschen benennend. Das warme einladende Portal mit seinen sieben Bögen macht es uns leicht, und wir betreten den Kirchenraum. Der alte ockerfarbene Chor ist so ausgerichtet, dass die Strahlen der aufgehenden Sonne am 29. September genau in den Chor fallen. Weite, Zeitlosigkeit, Geborgenheit strahlen die Räume aus. Fresken zieren die Wände, die Grablegung Christi, die Entschlafung Mariens, ihre Aufnahme in den Himmel. Ein anderes Fresko: Die stehende Gottesgebärerin, ihr Gewand wie Flügel, die Menschen darunter schützend, ihr Blick ernst und milde zugleich, die Konturen mit der Wand verschwimmend, ein Blick wie aus Ewigkeiten, Maria, Michael, Christus … Wer schaut uns hier an?

Der Blick ermutigt uns, auch den letzten Weg zu gehen, den Schritt hinab, abwärts ins innerste Heiligtum, ins sacellum, der ältesten Michaelskapelle auf dem Berg, Zentrum des Michaelkultes, wie er hier im 5. Jahrhundert erwachte. Wer einmal in der Krypta der Michaelskapelle in Fulda verweilte, weiß um die Kraft, die von einem solchen Ort ausgeht. Tiefer Friede breitet sich aus. Dies ist die Hand, die uns der Erzengel reicht, an dem Ort, an welchem er schon zu Vorzeiten verehrt wurde, in den Grotten und Höhlen. Dies ist die Verheißung Michaels, wenn wir den Mut aufbringen, uns den Schatten zu stellen, den Blick auf das Treiben der Widersacher in uns zu werfen, die Untiefen und Dunkelkammern unserer Seelen und unserer Zeit ausleuchtend. Dies ist die Verheißung Michaels, wenn wir alles zusammenführen, Helles und Dunkles, Freude und Schrecken, den Tag und die Nacht, die größere Welt, das Übersinnliche. Dies ist die Verheißung Michaels, dass die Waage ausgelotet sein wird durch unseren Mut, tiefer zu gehen und höher zu greifen, im Herbst des Jahres, im Herbst des Lebens, im Herbst der Welt.

Und noch einmal Rilke:


[1]        Jean Richer: Sacred Geography of the Ancient Greeks, New York 1994.

[2]        Lucien Richer: L‘Axe de Saint Michel et d’Apollon. Étude de géographie sacrée. In: Atlantis: archéologie scientifique et traditionelle. 50e année. No 293, main-juin 1977.

[3]        Emil Bock: Der Kreis der Jahresfeste, Stuttgart 2023, S.176.

[4]             Ebenda, S. 202/203.

[5]             Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien, Göttingen 2023, Siebente Elegie, S. 30.

[6]             Rainer Maria Rilke: Briefe an einen jungen Dichter, 12.08.1904, Leipzig 1929.

Verfasst von Matthias Disch

geboren 1959, Historiker, Myroagoge, Autor und Dozent in Berlin

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