Im Zusammenhang mit der ersten Leidensverkündigung, die Christus im Zugehen auf das Mysterium von Golgatha seinen Jüngern gibt, spricht er herbe Worte zu Petrus: Du hast keine göttlichen, sondern nur menschliche Gedanken – weiche von mir Satan (Mk 8,33). Dies geschieht im Norden von Palästina in der Stadt Cäsarea Philippi in der Nähe des Berges Hermon. Mit seinen schneebedeckten Gipfeln und den Jordanquellen wird der Berg die Umgebung dieser besonderen und historisch einmaligen Situation, in welcher Petrus unmittelbar vorher die Erkenntnis aussprechen kann: Du bist der Christus (Mk 8,29).
Zeitlich so nah beieinander können göttliche und menschliche Gedanken in der Seele eines Menschen auftauchen. Bei Petrus beziehen sich die menschlichen Gedanken, die von Christus so vehement abgewiesen werden, auf eine bestimmte Willensrichtung, die Petrus dem Christus vorschlägt. Nämlich den Schmerz und den vorgezeichneten Weg zum Kreuzestod nicht zuzulassen, sondern irgendwie abwenden zu wollen.
Dies resultiert womöglich aus einer Angst, den zur Menschheit gekommenen Gottessohn verlieren zu müssen. Wie sollte er, wenn er jetzt schon wieder sterben muss, noch die Welt retten können? Wir können Petrus nicht unterstellen, dass er keine Gedanken für die Zukunft hatte. Eines wissen wir heute, was aber Petrus zuvor nicht wusste und noch nicht denken konnte. Er nahm sich vielleicht auch zu wenig Zeit, die Leidensverkündigung in seiner Seele zu bewegen und nachklingen zu lassen. Petrus sprach die menschlichen Gedanken wohl aber aus Furcht vor einem möglichen Verlust aus.
Rudolf Frieling hat in einem Aufsatz über die Leidensverkündigungen erläutert, was Petrus und die anderen Jünger damals noch nicht zur Verfügung hatten. In der Ausgabe »Bibel-Studien« von 1963 trägt der Aufsatz die Überschrift: »Der Heilige Geist im Spiegel der Leidensverkündigungen«.1 Er führt darin aus, dass die Erlösungstat von Golgatha mehr als das Sterben und Auferstehen Christi an Ostern ist. Beide, der Leidenstod und die Auferstehung, sind untrennbar miteinander verbunden. Zusammen bilden sie erst das »Mysterium von Golgatha.« Frieling fügt hinzu: Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass noch ein drittes Element dazugehört: Sollen Tod und Auferstehung sich voll auswirken, so sind sie darauf angewiesen, dass sie von Menschen ganz ins Innere aufgenommen werden. Zu Leidenstod und Auferstehung muss als Drittes das Offenbar-Werden für die Menschen dazukommen. Dieses Offenbar-Werden kann bewirkt werden durch den Heiligen Geist. Er kann das Bewusstsein erleuchten und das Geschehen von Golgatha in das Denken, Fühlen und Wollen der Christen einströmen lassen.2
Die Kraft des Heiligen Geistes hatten die Jünger so noch nicht zur Verfügung. Das Urpfingsten war auch noch nicht in der Welt. Selbst das Mysterium von Tod und Auferstehung war noch eine Zukunftsvision. Christus aber hat durch seine Leidensverkündigungen ein Bewusstsein für dieses zukünftige Geschehen in den Seelen der Jünger wachrufen wollen. Aber sie konnten es nicht sogleich verstehen. Ähnliches hat sich schon bei der Verklärung zugetragen: Die Jünger wollten den kostbaren Moment der Verherrlichung des Christuswesens festhalten, indem sie vorschlugen, »Hütten zu bauen.« Ein Verbleiben an dieser Stelle im Gang der Menschwerdung Christi hätte aber die Auferstehung nicht in die Welt gebracht. Sind es bei der Verklärung Elias und Moses, welche die Jünger im Geistgespräch mit Christus wahrgenommen haben, so tritt im Gespräch in Cäsarea Philippi ein mehr äußerer Blick in die Vergangenheit auf: Die Menschen, so antworten die Jünger auf die Frage, sagen: Christus sei Johannes der Täufer, Elias oder einer der Propheten.
Im erneuten Nachfragen des Christus: »Und was sagt ihr, wer ich bin«? gibt Petrus die Antwort: »Du bist der Christus.« Darauf erst folgt die Leidensverkündigung und Christus spricht von sich selbst als dem Menschensohn, der viel erleiden muss, getötet und nach drei Tagen auferstehen wird.
Wer ist er nun? Im Zusammenhang mit den Ereignissen bei der Jordantaufe erfahren wir nicht aus menschlicher, sondern aus göttlicher Perspektive eine Antwort. Der Himmel öffnet sich, der Geist Gottes wird sichtbar im Bilde der Taube, und Johannes der Täufer hört die Stimme des Vatergottes: Dies ist mein geliebter Sohn – in ihm will ich mich offenbaren (Mt 3,17). Christus deutet also, wenn er sich in Cäsarea Philippi als Menschensohn charakterisiert, auf einen Entwicklungsweg, der ihn vom »Gottessohn« zum »Menschensohn« führen würde.
Im Menschensohn kann sich der Weltengrund offenbaren. Er gliedert sich in der Welt und im Menschen in Vater, Sohn und Heiliger Geist. Die Trinität wird für uns erfahrbar. Im Zusammenhang mit den Schilderungen aus der Genesis, in denen deutlich wird, wozu der Mensch erschaffen wurde, heißt es: Zum Bilde Gottes schuf er ihn (1 Mose 1,29). »Bild sein« meint: Selbst ein schöpferisches Wesen werden. Was als Entwicklungsziel ins Auge gefasst werden kann, ist … eine neue Erde und ein neuer Himmel (Offb 21,1). Wie weit aber sind wir davon noch entfernt! Das Urbild dieses zukünftigen Menschen ist jedoch schon offenbar in der Welt seit dem ersten Ostermorgen. Durch Pfingsten kommt noch eine neue Qualität hinzu. Rudolf Frieling fasst es zusammen als das Offenbar-Werden des Christus durch den Heiligen Geist in der Menschenseele: Er kann das Bewusstsein erleuchten und das Geschehen von Golgatha in das Denken, Fühlen und Wollen der Christen einströmen lassen.
Von Pfingsten her kommt dem menschlichen Bewusstsein die Erleuchtung durch den Heiligen Geist entgegen. Lässt er sich davon berühren und durchdringen, kann der Mensch als Prediger das Gotteswort in Menschenworte prägen und ein Verkünder des Evangeliums werden. Mal mehr, mal weniger gelungen. Aber das Scheitern gehört als die von Petrus zuerst erfahrene Mahnung zum Gotteswort hinzu, wenn es durch Menschenworte in der Welt ausgedrückt werden soll.

Martin Merckens
geboren 1963,
Pfarrer, Stuttgart
1 Rudolf Frieling: Bibel-Studien. Stuttgart 1963, S. 171.
2 Rudolf Frieling: Die drei Leidensverkündigungen. In: Gesammelte Schriften III, Stuttgart 1982, S. 95.