Frieden! In der Ukraine ist es zwar ein bekanntes Wort, aber ein fast vergessener Zustand. Die Dauer des Krieges wird inzwischen nach Jahren gezählt – es ist schon das vierte Jahr – und wir können kaum mehr erinnern, wie es sich anfühlte, als der Krieg noch nach Tagen, Wochen oder Monaten gezählt wurde. Die Zeit vergeht schnell und der Kriegszustand ist unser »normales Leben« geworden.
Friede wird ersehnt, aber die meisten in der Ukraine haben sich abgewöhnt, die Hoffnung auf irgendwelche konkreten Aussichten zu stützen: »nach den Wahlen in den USA«, »nach einer neuen Waffenlieferung«, »nach den ganz strengen Sanktionen«, »nach den Verhandlungen von XY«. Nach vielen unerfüllten Versprechungen ist es innerlich noch schlimmer als zuvor und vor allem ist Hoffnung noch kein Friede. Denn Hoffnung lebt von der Zukunft her und Friede ist ein Gegenwartszustand. Man spricht viel vom Frieden heute in der Politik. Und die Regierung bemüht sich redlich darum, Frieden als einen dauerhafter »Zustand ohne Krieg« zu erreichen. Möge er bald kommen! Wirklicher Friede ist aber mehr als »Zustand ohne Krieg«.
Trügerische Ruhe
»Es sieht alles so friedlich bei Euch aus«, sagte Bertolt Hellebrand, einer meiner Kollegen und Freunde, als er vor einigen Monaten für fünf Tage mit einem Kurs am Proseminar in Odessa weilte. Wir saßen in einem Café und hatten thailändisches Mittagessen bestellt. Und in dem kleinen Restaurant waren viele Besucher, die gleich uns ihr Mittagessen genossen. Draußen schien die Sonne und es waren viele Fußgänger zu sehen, die friedlich und ohne Hast ihres Weges gingen. Man konnte kaum glauben, dass Odessa Kriegsgebiet ist. Ich versuchte, dem Kollegen zu erklären, dass es dort auch ganz anders aussehen kann: Man wacht in der Nacht von einem ununterbrochenen Summen, Brummen, Dröhnen, Surren, Beben und/oder Explodieren auf. Die meisten Geräusche sind ohrenbetäubend laut und schon das wirkt verwirrend. Aber diese Geräusche bringen auch die ganz konkrete Gefahr mit sich – die Möglichkeit von Zerstörung, Verletzung und Tod. Dieses Bild der Stadt ist alles andere als friedlich! Die Menschen hier haben ziemlich gut gelernt, am Geräusch zu unterscheiden, was da oben fliegt. Jeder versucht innerlich abzuspüren, ob das Geräusch eine konkrete Gefahr bringt oder ob etwas »nur« vorbeifliegt. Die Angriffe können mehrere Tage oder Wochen andauern und dann wieder für Tage oder gar Wochen aussetzen. Und man weiß nie, wann es anfängt und wann es aufhört. Man kann versuchen, in verschiedenen Chats und Kanälen zu verfolgen, wo etwas fliegt und wohin es zielt. Die Kriegstechnik entwickelt sich rasant! Aber es heißt auch, dass die Flugkörper jederzeit die Richtung ändern können.
Krieg gegen das Innere
Dann sage ich zu meinem Kollegen, dass der Krieg bei den Menschen – so friedlich sie auch aussehen mögen – nicht ohne Wirkung auf das Innere bleibt. Die Gefahr, ja schon die Erwartung der Gefahr wühlt das Innere auf. Es gibt sehr viele traumatisierte Menschen und das Trauma äußert sich sehr unterschiedlich. Es kann sich als »bloßes« Herzklopfen zeigen, als Atembeschwerden, als Muskelverkrampfung, als … Manche Menschen erleben im ganzen Leib schon bei der Andeutung von Gefahr eine eisige Kälte. Die Kinder sind nach dem Luftalarm und Luftbunkeraufenthalt nicht mehr einfach zu beruhigen. Was als erstes auffällt: Alle sind nach so vielen Jahren sehr tief erschöpft! Das ist das Eigentümliche dieses Krieges: Er hat nicht nur äußere Ziele – Militärstützpunkte oder die Waffen des Gegners, Energieobjekte, Wasserdämme und Logistik-Linien – dieser Krieg hat als Ziel das menschliche Innere. Die Menschen werden in ihrem Inneren angegriffen entweder durch unmittelbare Gefahr, durch die Erwartung einer Gefahr oder durch die Sorgen um Freunde und Verwandte, die in Gefahr sind. Es war eine klare Aussage der Angreifer, schon vor Kriegsbeginn, sinngemäß gesagt: Auch wenn wir euch nicht besiegen, werden wir über euch eine Atmosphäre der Angst und des Schreckens in einem solchen Maß verbreiten, dass ihr schon dadurch verenden werdet. Dieses Ziel ist zum Glück bei Weitem noch nicht erreicht, aber es gibt sehr viel Leid, Not und Unfrieden. Das Bewusstsein für die Gefahr ist entweder schon lange vorhanden oder es wird ständig neu geweckt. Es gab keinen einzigen Tag während der Kriegsjahre ohne Luftalarm. Ob der Angriff danach kam oder nicht – das Innere war bereits angegriffen. Und alle Menschen in der Ukraine müssen lernen, mit dem Krieg gegen das Innere umzugehen. Jeder sucht auf seine Art den inneren Frieden. Das geht nicht ohne eigene Aktivität: Man muss den äußeren Gefahren und Sorgen innerlich etwas entgegensetzen. Wie geht das? Es bleibt zum Teil auch ein Geheimnis, woher die Kraft der Ruhe oder des inneren Friedens kommt. Was aber klar ist: Sie kann nur errungen werden!
Zwei Beispiele dafür: Einer der Freiwilligen, der an der Frontlinie verschiedene Aufgaben zu erfüllen hat, sagte mit einem Lächeln, aber durchaus ernst: »Bevor du Angst bekommst, musst du es schaffen, an etwas Fröhliches oder gar Lustiges zu denken. Am besten sagst du es auch gleich den Umstehenden, sogar in den schlimmsten Situationen!«. Ob das dann immer gelingt, hat er nicht erzählt, aber es geht um die Bemühung: Nicht zulassen, dass die Angst zum Herrn deiner Seele wird! Buddha soll einmal zu seinen Jüngern gesagt haben: Selbst in Todesgefahr darfst du nicht unterlassen, das Schöne in deiner Umgebung zu bewundern. Das geht scheinbar auch durch Humor.
Das Ich als Herr der Seele
Wichtig scheint mir zu sein, dass man in der Gefahr die eigene Aufmerksamkeit von nichts anderem als vom eigenen Ich lenken lässt. Und das kann Wunder bewirken! Das Innere darf nicht abhängig vom Äußeren sein. Wach zu bleiben für das, was um mich herum passiert, aber auch dem Wahrgenommenen nicht zu verfallen, sondern selbst entscheiden, wie ich reagiere. Das hilft nicht nur an der Frontlinie, sondern überall, wo Gefahr entsteht und besteht. Wenn das Ich der Herr der Seele wird, hält Friede Einzug in die Seele. Sogar in den »Zuständen ohne Krieg« ist diese Fähigkeit hilfreich, aber im Krieg ist sie lebensrettend!
Eine andere Situation: Eine Frau aus Kyiv – Natalia – hat ziemlich am Anfang des Krieges erfahren, dass ihr Bruder in Gefangenschaft geraten ist. Sie hat nur angedeutet, wie viel Leid das für sie bedeutet hat: Nicht zu wissen, wo und wie er ist, nicht zu wissen, ob er gerade leidet oder hungert, ob er lebt oder nicht. Aber sie wollte nicht untätig bleiben und hat aus ihrer Not heraus angefangen, etwas für ihren Bruder zu machen. Sie hat zunächst einige Frauen gefunden, die in einer ähnlichen Situation waren. Daraus hat sich eine Gruppe von Müttern, Schwestern, Frauen und Töchtern gebildet, die alles daran gesetzt hat, ihre Liebsten zu befreien. Damals schien es zunächst aussichtslos zu sein, denn es waren noch kaum offizielle Strukturen vorhanden, die in dieser Richtung arbeiteten. Aber die Frauen haben damit begonnen, überall wo sie konnten Bewusstsein für ihre Not zu wecken. Sie haben ein Netzwerk von Notleidenden gebildet und haben es letztendlich geschafft, die höchsten Verantwortlichen im Land und in der ganzen Welt – unter anderem den Papst – zu erreichen. Das hat Früchte getragen und nach vielen sehr langen Monaten der Ungewissheit und Sorge geschah das, was zunächst unmöglich schien: Die ersten Gefangenen kamen nach Hause und einer davon war der Bruder von Natalia. Die Ereignisse und die Leiden des Krieges überrollen die Menschen und gehen weit über die persönlichen Kräfte und Möglichkeiten hinaus. Man fühlt sich ausgeliefert und machtlos. Dem unmenschlichen und übermächtigen Geschehen etwas entgegenzusetzen, scheint aussichtslos. Dennoch: Nur nicht untätig sein! Man beginnt, etwas zu tun; man versucht, zu helfen wo man kann; man sucht und findet Gleichgesinnte – und man unterstützt sich gegenseitig. Anders gesagt: Man fängt an zu gehen und im Gehen entsteht der Weg! Und das bringt nicht nur Früchte, sondern auch Friede. Der Bruder von Natalia kam zurück, aber sie macht weiter. Sie verlässt ihre Freundinnen nicht, die ihre Liebsten noch in Gefangenschaft wissen. Das Netz der Gleichgesinnten bleibt bestehen und durch solche Netze der Menschen, die guten Willens sind, kann und wird auch der Friede kommen. Friede entsteht zunächst im Inneren. Er entsteht zunächst als Akzeptanz des Lebens, mit seinen Nöten, mit seinen Leiden und mit dem Tod. Dieses Akzeptieren wird von dem Bewusstsein gehindert, dass diese Nöte, Leiden und der Tod von Menschen, von den Angreifern verursacht wird. Das alles kann die Menschen in Ohnmacht stürzen. Das einzige Hilfsmittel in dieser Lage ist, einen Bereich zu finden, in dem ich als Mensch wach, aktiv und tätig sein kann. Der Friede will aktiv erreicht werden!
Warum wir beiben
Auf unserer Herbstreise durch Mitteleuropa konnte meine Frau ein paar Mal in einem Chor mitsingen. Als bekannt wurde, dass wir aus der Ukraine sind, sagte eine Mitsängerin: »Aber Ihr wohnt jetzt bestimmt nicht dort!? Ihr wohnt woanders?« »Nein, wir wohnen auch jetzt dort und sind vor einigen Tagen von Odessa gekommen und werden bald dahin zurückgehen.« »Aber das ist doch unmöglich! Wie geht das? Ihr solltet das Land verlassen!« »Mein Mann ist Priester …« Erstes Aha-Erlebnis bei der Gesprächspartnerin … »… und ich bin eine Therapeutin.« »Ach so …«. Für die Frau schien damit alles geklärt zu sein. Was ihr genau klar geworden ist, hat sie nicht gesagt und man ging zu anderen Themen über. Heute scheint es soweit gekommen zu sein, dass einem auch das Reden über den Krieg, der anderswo geführt wird, den inneren Frieden raubt. In der Ukraine leben derzeit Millionen Menschen, die allermeisten sind weder Priester noch Therapeuten – und sie leben trotzdem weiter!
Ich denke, dass viele Menschen eine Ahnung davon haben, dass die Antwort auf die Frage nach Krieg und Frieden eine geistige Dimension hat. Die Frage nach dem Frieden – sei er äußerlich oder innerlich – hat mit der Frage nach der Beziehung zur geistigen Welt zu tun.
Fragt man die Menschen auf der Straße, warum sie im Land bleiben, kommen alltägliche Antworten: »Es ist mein Land, ich will es in dieser Not nicht verlassen«. »Dies ist meine Stadt und hier will ich leben«. »Ich kann es nicht genau sagen, aber ich bleibe …«. »… hier ist meine Familie, Freunde, mein Beruf«. »Ich will schützen, pflegen, helfen«. Kaum einer spricht das Wort »Schicksal« oder gar »Karma« aus. Die Menschen haben aber im tiefsten Inneren, auch wenn sie es nicht nennen, ein Gefühl für das Schicksal. Ein Gefühl für den Ort, für die Aufgabe und für die Menschen, mit denen sie zusammengehören. Das Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Fühlt man diese Verbundenheit mit dem eigenen Schicksal, kann man trotz Ängsten, Sorgen und Gefahren im inneren Frieden stehen. Denn es geht dabei – ob es die Menschen wissen oder nicht – um die Verbundenheit mit dem Christus. Er ist derjenige, der über unserem Schicksal waltet und der uns »seinen Frieden« gibt, wie es in Johannes 14 heißt.
Die Gemeinde als Zufluchtsort
Die Gemeinde in Odessa bleibt in dieser Zeit der Ort, an dem Menschen diese Verbundenheit mit dem Schicksal und mit dem Christus bewusst suchen. Dies geschieht in den Evangelien- und Gesprächskreisen, die wöchentlich stattfinden; in den Gebetswachen, die wir regelmäßig und zu verschiedenen Anlässen – seien es Kriegsereignisse oder persönliche Nöte – pflegen; in der Kunst – wir singen viel, machen Eurythmie und verschiedene künstlerische Meisterklassen; in der Arbeit der Proseminare – wir haben zwei: präsent in Odessa und online für die Ukrainer, die in alle Welt verstreut sind; in den Begegnungen und in den Aktivitäten, wo die Menschen helfen, wo sie können.
Der Altar ist und bleibt das Zentrum all dieser Tätigkeiten. Wir fühlen, dass uns hier immer neu die Kräfte für das Leben geschenkt werden. Von dort aus, davon sind wir überzeugt, strömen geistige Friedenskräfte mit jeder Menschenweihehandlung in die Welt hinaus.
Foto: Sunguk Kim

Verfasst von Andrej Ziltsov
Pfarrer in Odessa



