Michaeli – feiern?!

Michaeli – feiern?!

Anders als Ostern oder Weihnachten ist Michaeli eine ganz neue Festeszeit im christlichen Jahreslauf, die nicht auf eine lange Tradition zurückblicken kann. Der Michaelstag am 29. September ist durch viele Jahrhunderte bekannt; die Gestalt des Erzengels Michael begegnet uns im Alten und im Neuen Testament, dort besonders in der Offenbarung des Johannes. Er ist der Engel, der mit seinen Scharen die Himmel klärt, indem er den Widersacher und die ihm folgenden Engel vertreibt und auf die Erde wirft. Dieser Kampf mit dem Drachen, der das Kind der kosmischen Frau, das gerade geboren wird, verschlingen will, hat sich als das vielleicht wirkmächtigste Bild von Michaels Wesen und Wirken in das Bewusstsein der Menschheit eingeschrieben.

Michaeli – ein neues Fest

Erst im 20. Jahrhundert tritt in der Anthroposophie eine umfassende und differenzierte Wesenskunde Michaels auf, die in den »Michaelbriefen«[1], die Rudolf Steiner bis in seine letzten Lebenstage hinein verfasst hat, ihre Kulmination findet. Diese Michaelskunde ist begleitet von dem immer wiederholten Aufmerksammachen darauf, dass die Formen für ein wirkliches Michael-Fest erst noch gefunden werden müssen.

Anderthalb Jahre zuvor, im September 1923, waren der Christengemeinschaft die Gebete für die Michaeli-Zeit von Rudolf Steiner anvertraut worden.

Richtung einer Antwort

Im Folgenden möchte ich versuchen, mich durch das Betrachten einzelner Motive dieser Gebete vor dem Hintergrund der anthroposophischen Wesenskunde Michaels vorsichtig an Gesichtspunkte heranzutasten, die vielleicht in die Richtung einer Antwort auf die in der Überschrift enthaltene Frage weisen könnten.

Michael wird beschrieben als hellstrahlendes Antlitz Christi. Er steht vor Christus – so wie er einst vor dem Vatergott stand. Wir werden vertraut gemacht mit einem Beziehungsgefüge und einer Entwicklung innerhalb der göttlichen Welt und sind zugleich herausgefordert, ein Wesen in seiner Gesamtgestalt als antlitzhaften Ausdruck eines anderen Wesens zu erfassen. Michael – dessen Name im gesamten Gebet nicht erklingt – ist der »Hüter vor dem Weiheopfer«.

Welche Empfindung rufen diese Worte in unserer Seele hervor? Vielleicht die Empfindung der Schwelle? Vielleicht die Empfindung eines Geheimnisses, eines Rätsels, das ich erst lösen muss, oder einer Prüfung, die ich erst bestehen muss, ehe ich das »Eigentliche« unmittelbar wahrnehmen darf?

Eine Prüfung

Wir können uns hier auf uns selbst zurückgewiesen fühlen, besonders auch durch den »Ernst«, der aus dem Wesen Michaels »erstrahlt«. Wer bin ich – und wie bin ich –, der ich mich dem Mysterium nähere? – Kann ich mit Michael auf mich selbst blicken, ehrlich, nichts beschönigend – und auch bereit, die Auseinandersetzung mit den Drachenkräften in mir selber aufzunehmen?

Michael tritt den Drachen, der »den Menschengeist in Erdensklavenketten fesseln« will, unter seine Füße – die der »Erdenschwere ledig« sind. Die Aufrechte Michaels verdankt sich nicht der Mithilfe der Schwerkraft, wie bei uns Menschen, sondern sie kommt von innen her. Er hat seinen Halt in sich. Er ist orientiert zwischen oben und unten, zwischen den Geisteshöhen und den »Erdetiefen«, durch seine eigene Kraft der Mitte. Wenn wir mit Kindern Michaeli feiern und dabei das Waage-Motiv eine Rolle spielt: hier erscheint eine andere Form der Waage, in dem Drinnenstehen zwischen oben und unten. Eine im Senkrechten bestehende Waage sozusagen. Michael hält der Abkunft von oben die Treue und will zugleich zugänglich sein für die in Erdentiefen ringende Menschenseele.

Wo erleben wir Kräfte, die unseren Geist an das Irdische fesseln wollen? Im bloßen Nützlichkeitsdenken? Im Reduzieren unseres inneren Horizontes auf rein materielle Ziele? Indem wir all unsere Gedanken nur dem Irdischen zuwenden?

In der Anwendung von äußerer oder seelischer Gewalt um des eigenen Vorteils willen?

Wie könnte der Menschengeist groß und weit werden, geistverbunden und der Fesseln ledig und frei?

Wie könnte der Menschengeist groß und weit werden?

Die Epistel spricht davon, dass im Herzen des Menschen eine freie Kraft liegt, die Michael hervor-»holt«. Diese freie Kraft vermag Irdisches in Himmelshöhen so zu tragen, dass es sich läutert und geistempfänglich wird.

Es ist bedenkenswert, dass diese freie Kraft ihren Ursprung im Herzen hat – und nicht etwa im Kopf oder im Bauch. Sie kommt aus der Mitte und hat zugleich eine Verbindung zum Quellort des Menschen, den Himmelshöhen. Sie wägt und nimmt das Helle oder Dunkle unserer Gedanken wahr.

Sie könnte etwas mit dem Wahrheitsgefühl und der Stimme des Gewissens zu tun haben. Einem Wahrheitsgefühl, das der Frage nach dem Woher und Wohin des Menschen, nach dem Vorgeburtlichen und dem Nachtodlichen, nicht ausweicht oder sie durch den Alltagslärm in der Seele übertönen lässt. Einem Wahrheitsgefühl, das zugleich täglich Ernst macht mit der Frage: Warum und wofür will ich heute leben? Gerade unter dem Blickwinkel der Ewigkeit erscheint das Irdische in seiner wahren Bedeutung, wird es erhoben, sodass das Wesentliche erscheinen kann und das Unwesentliche abfällt. »Mensch, werde wesentlich« – heißt es bei Angelus Silesius.[2] Dazu will uns Michael verhelfen.

Wofür will ich leben?

Dabei geht es nicht um ein Sich-Abwenden von der Welt. Ganz im Gegenteil. Die Erdenumstände annehmen und bejahen – und in ihnen aus Geistesgegenwart Initiative ergreifen. Die freie Kraft aus der Tiefe der Seele – von der in dem Michaeli-Gebet nach dem Credo gesagt wird, dass es die Kraft des Christus ist – kann unsere vielleicht eingeschlafene Bereitschaft, initiativ zu werden, wecken und impulsieren.

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf

Es gibt ja so viele Gründe, warum wir heute resignieren könnten, warum uns der Mut schwinden, uns Angst und Schrecken ergreifen können. Unlängst gab es in dem furchtbaren Krieg zwischen Russland und der Ukraine einen »Leichen-Austausch«. Tausende von Leichen wurden über die Frontlinie getragen. Können wir uns das vorstellen? Einen verstorbenen Menschen können wir uns vorstellen, vielleicht zwei oder drei – aber sechstausend? Und alle ermordet – oder, wie es politisch korrekt heißt: getötet, im Kampf. Kein einziger Leichnam unversehrt. Und die Verletzungen, die ihr Leben beendeten, sind direkt oder mittelbar durch andere Menschen zugefügt. »Homo homini lupus«[3]. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Das in Friedenszeiten höchste schützenswerte Gut – das Leben – wird zum Opfer vernichtender Gewalt. Wer am effizientesten umbringt, bekommt die höchsten Orden … Und an wie vielen Orten gibt es heute immer noch Krieg unter Menschen, werden heute wieder Kriege vorbereitet!

Auf dem seelischen Feld ist unser Menschsein nicht minder bedroht, worauf die rasante Zunahme von psychischen Erkrankungen – nicht zuletzt gerade auch bei jungen Menschen – hindeutet.

Vieles andere ließe sich noch erwähnen, das sich dem Blick in die Gegenwart zeigt.

Nicht resignieren

Schließlich geht es wohl darum, sich liebevoll der Welt und dem Mitmenschen zuzuwenden und sich in kleinen und größeren Gemeinschaften zusammenzuschließen. Michaeli hat viel mit Pfingsten zu tun, durch Michael wirkt der heilige und heilende Geist – auch das spricht das Michaeli-Gebet aus.

Wer soll all das hier Beschriebene können? Vermutlich die Wenigsten. Trauen wir uns, erste Schritte auf diesem Weg zu versuchen, mit dem Unvollkommenen zu leben, jeden Tag neu? Getreu dem Satz des Aristoteles: »… was man lernen muss, um es zu tun, das muss man tun, um es zu lernen«?

Dann könnte es vielleicht so manchen unscheinbaren Feier-Augenblick im Alltag geben, der die Michael-Festesstimmung vorbereiten hilft.

Dies alles könnten Motive für ein künftiges Feiern von Michaeli sein.

Noch können wir das nicht. – Aber wir können es versuchen.


[1] Rudolf Steiner: Anthroposophische Leitsätze, GA 26, Dornach 1982.

[2] Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann, Stuttgart 1984, S. 76.

[3] Die lateinische Sentenz stammt ursprünglich aus einer Komödie von Titus Maccius Plautus (ca. 254–184 v. Chr.).

[4] Rudolf Steiner: Ein Weg zur Selbsterkenntnis des Menschen, GA 16, Dornach 2004, S. 47.

Verfasst von Christward Kröner

geboren 1963, Priester in Berlin

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