Predigt – was ist das?

Predigt – was ist das?

Von einem kleinen Schleusentor und unserem weißen Gewand

Menschenweihehandlung und Wiederkunft

Wir sind es gewohnt, dass sonntags in der Menschenweihehandlung nach der Lesung des Evangeliums eine Predigt gehalten wird. Weil wir es so gewöhnt sind, wundern wir uns kaum über diese Sitte, die doch genauer betrachtet höchst fragwürdig ist. Immerhin ist innerhalb des Kultus jedes Wort festgelegt, keines dem freien Formulieren des Priesters überlassen. Jedes Sakrament hat seinen ganz bestimmten Wortleib, in dem das Gesagte noch eine andere Bedeutung und Wirksamkeit entfaltet als die, Dinge zu benennen und Vorgänge zu beschreiben. Wir tauchen im Mitfeiern der Menschenweihehandlung jedes Mal in diesen Wortleib ein, dessen Formulierungen uns weitgehend bekannt und vertraut sind, nicht in erster Linie, um etwas Neues zu erfahren – das geschieht auch –, sondern um Begegnung und Beziehung zu pflegen mit den Wesen, die uns im Augenblick des kultischen Geschehens in diesen Worten ihr Wesen mitteilen, sie durchwirken und beleben.
Nicht nur das Sprechen verändert seine Bedeutung im Vergleich mit unserem gewöhnlichen Reden, sondern im Feiern der Menschenweihehandlung erheben wir uns auch in eine andere Sphäre als die uns vertraute sinnlich erfahrbare Erdenwelt. Darauf deutet eine Bemerkung Rudolf Steiners hin, die ich in einem früheren Beitrag schon einmal zitiert habe:

»Indem der Ministrant als Repräsentant der Gemeinde vor dem Priester steht, ist der Ministrant gewissermaßen derjenige, der anzeigt, wo der irdische Plan, das irdische Niveau beginnt …«1


In Wirklichkeit findet das kultische Geschehen in einem Bereich statt, das sich unseren Augen zeigt, also einem Bereich, der sich vom irdischen Plan unterscheidet, aber an das irdische Niveau unmittelbar anschließt. Das ist im Sinn der anthroposophischen Weltanschauung der ätherische Bereich, der Bereich der Lebenskräfte, in dem sich die Erdenwelt den Himmelskräften öffnet und ihr Wirken aufnehmen kann. In diesem Bereich kann heute die Wiederkunft Christi, seine Gegenwart, erfahren werden.
Das Geschehen der Wiederkunft Christi hat Rudolf Steiner folgendermaßen charakterisiert: »Eines ist wahr und als wahr für unsere Seele wichtig, dass der Christus Jesus gesagt hat: ›Ich bin bei euch bis ans Ende unseres Erdenzyklus.‹ Er ist da. Er ist seit jener Zeit innerhalb unseres Erdenumkreises. Und wenn die geistigen ­Augen geöffnet sein werden, werden sie ihn sehen, wie Paulus bei dem Ereignis vor Damaskus ihn gesehen hat … Die Menschen werden zu ihm hin­aufwachsen. Das wird das Wiederkommen des Christus sein: ein Hinaufwachsen von Menschen in die Sphäre, in welcher der Christus ist.«

Verklärt auf dem Berge

Die drei Stufen, die der Zelebrant zum Altar emporsteigt, symbolisieren dieses innerliche Hinaufwachsen in die Sphäre des Wiederkommenden, dieses Sich-Erheben zu Christus. In dieser Sphäre haben die Worte, die gesprochen werden, noch eine andere Bedeutung als im gewöhnlichen Leben: Sie benennen nicht nur, sondern sie impulsieren, schaffen mit an der Sphäre, in der Himmlisches und Irdisches sich miteinander verweben. Sie rufen in die irdische Welt überirdische Wirksamkeit aus den Höhen, aus der Ewigkeit herein und durchtränken sich mit ihr. Wichtig ist, was ich verstehe – darum findet der Kultus in der Landessprache statt –, wichtiger, ob ich erfahre.
In dieser Sphäre bezeichnet das Wort »Menschenweihehandlung« nicht etwas, das es bereits als irdische Tatsache gibt, sondern es ruft uns zu einem Wirken auf, das in diesem Augenblick hereingebetet werden möchte in die Gegenwart der Gemeinde: Die uns zu Menschen weihenden Kräfte klingen hinein in unser Tätigsein. Seinen sprechenden Ausdruck findet das im Hinauf und Herab des kultischen Geschehens: dem Erheben des Kelches, dem Aufsteigen des Weihrauchs, dem Händeheben, die erwidert werden durch das, was zu uns herniedersteigt und das Hinaufgegebene ergänzt und bereichert, erfüllt und verwandelt. Das Altargeschehen, das sich vor unseren Augen in größter Ruhe entfaltet, ist in der Sphäre der Lebenskräfte ein unendlich dynamisches Geschehen, sich weitend, sich verdichtend, Himmel- und Erdensphären durchatmend und durchklingend, erdbejahend und alle Himmel hereinrufend in einem.
Das Eingangsgebet der Menschenweihehandlung in der Johannizeit vermittelt in besonderer Weise ein Bild und ein Empfinden für dieses dynamische Geschehen, in das die Menschenweihehandlung eingehüllt ist bzw. das sie in der ätherischen Sphäre, in der ­Lebenssphäre des Christus, in Wirklichkeit ist. Es spricht insbesondere von den Lichtkräften, die dieses Geschehen durchfluten und lädt uns ein, die Erde in ein leuchtend weißes Gewand gehüllt zu ­imaginieren, das weiße Gewand des Täuflings, das zugleich ihr Hochzeitsgewand ist. Die Erde legt dieses Gewand aber nicht für ihre Taufe oder für ihre Hochzeit an, sondern das Weben und Verweben selbst bilden im Geschehen der Handlung das Gewand des Getauftwerdens und des Vermählens. Das Anlegen dieses Gewandes ist ihre Taufe und ihr Hochzeithalten.


Umbrandet von Leben

Indem wir uns zur Evangeliensphäre erheben, sind wir Hörenden aufgerufen, uns dieses pulsenden, atmenden, leuchtenden Gewandes, das uns umhüllt, bewusst zu werden. Wir tauchen ein und werden eingetaucht in die Dynamik der Lebenswelt des Christus. Wir lauschen auf das, was er in seinem Erdenleben seinerzeit getan hat, werden darüber hinaus aber zugleich berührt, vielleicht auch gerüttelt, vielleicht ergriffen von den Impulsen, die ihn zur Inkar­nation als Mensch geführt haben und die – als die ­eigentlichen uns zu Menschen weihenden ­Kräfte – im Ätherischen fortwirken, wo sie nicht altern und darum von uns ergriffen werden können, auf dass sie unser eigenes Herz erfüllen, taufrisch und neu. Diese Impulse, diese Hoffnungen und Gewissheiten, die Seele Christi, rührt uns an, brandet an unsere Seelen, durchflutet unsere Lebenskräfte, kann uns entzünden und unser Wesen zum Leuchten bringen. Dieses jedes Mal neue Geschehen ist die Menschenweihehandlung in Wirklichkeit: Jetzt geschieht es. Jetzt wird, was war, aufs Neue wirklich, so wirklich, wie es einmal gewesen ist.
Das weiße Gewand, von dem hier die Rede ist, ist ein Durchweben und Durchklingen und Durchfeuern, in seiner Konsistenz einem Wolkenweben ähnlicher als einem Stoff. Mit ihm umkleidet, können wir versuchen zu fühlen, dass wir das Evangelium nicht nur hören, sondern dass es an uns heranbrandet, sich uns impulsierend und belebend einschreibt, sich hineinwebt in unsere Lebenskräfte, ­reinigend, gnadevoll, gesundend, uns zu Menschen ­bildend. Das Evangelium schreibt sich in wunderbar lebendigen Zeichen unserem Menschen­wesen ein. Das Christuswirken schreibt sich in unserem Wesen fort. Das Sich-Einschreiben und Sich-Fortschreiben des Christuswirkens in unsere Lebens- und Seelenkräfte ist unser Menschsein in Wirklichkeit. Dass dies geschehen kann, darum erheben wir uns immer wieder weißgekleidet in einem neuen Jetzt in die Evangeliensphäre, stellen uns – aufrecht und aufrichtig – dieser Herausforderung.


Öffnet sich das Schleusentor?

Wie kann das Wort der Predigt diese lebendige Wirklichkeit des kultischen Geschehens aufgreifen und dem Empfinden der Zuhörenden nahebringen – nicht belehrend, sondern so, dass höhere Sinne sich auftun: ein anderes ­Hören, ein anderes Schauen? Eine Tür soll aufgestoßen, besser noch: ein – wenn auch ganz kleines – Schleusentor geöffnet werden, das ermöglicht, dass das Evangelium als Bildekraft heranströmen kann an die Hörenden.
Schon an den vorangehenden Darstellungen wird deutlich, wie ungenügend sich dieses ­Geschehen in den üblichen Wörtern unserer Sprache vermitteln lässt. Immer wieder führen die Formulierungen ins Ungenaue, Bildhafte. Wie könnte es aber auch anders sein, soll doch nicht von einem schon Daseienden gesprochen werden, sondern von einem Erregenden, das Wirklichkeit erst schaffen will, dem Verweben von Kräften zu gemeinsamem Wirken: im Kultus, im Menschenwesen – ein Geschehen, das zwar im eigenen Erleben im Augenblick empfunden werden, dem man aber nicht von außen zuschauen kann.
Gelegentlich wird die Predigt in der Menschenweihehandlung als »Wald- und Wiesenpredigt« oder auch als »Wetterbericht« bezeichnet. Diese Bezeichnungen deuten an, worum der Prediger sich bemüht: Erfahrungsbereiche zu öffnen, in denen das Zusammenklingen, Zusammenströmen von Himmlischem und Irdischem sich zeigt. Denn von solchem Verweben des ­Irdischen mit himmlischen Kräften sprechen auf ihre ganz eigene Art das Wettergeschehen und alle Prozesse in der Pflanzenwelt, vom Verwurzeln bis zur Samenbildung. Sie offenbaren, was geschieht, wenn Kräfte der Sonne aufgenommen und belebend wirksam werden können.  
Entscheidend ist, ob den Zuhörenden deutlich wird, dass es in dem Angesprochenen um dieses Verweben von Irdischem mit Himmlischem geht, nicht um das, an dem die Prozesse mit äußeren Sinnen beobachtet werden könne. Verstehe ich »Schneeglöckchen« oder empfinde ich mit, dass da ein kleines Wesen mit der Werdekraft der Sonne ins Gespräch eintritt? Und verstehe ich darüber hinaus, dass mit diesem Hinweis keine Antwort gegeben ist – im ­Sinne von: »So wie das Schneeglöckchen, so auch du!« –, sondern dass eine Frage gestellt wird: Woher nimmst du selbst deine Werdekraft? Als Antwort verstanden, führt mich die Predigt in die Irre, ich verlaufe mich in Wald und Wiese, werde im Regen stehen gelassen; als Frage verstanden, regt sie mich an, in mir selbst nach den Erfahrungen zu tasten, wie ich mein Wesen auftun und die Sonnenkräfte des Christus empfangen kann: Was ist mein Wurzelgrund, was die Atmosphäre, in der ich werden und wachsen kann?

Dieses Fragen führt mich wie von selbst in den Bereich, wo die Kräfte, nach denen ich taste, in mir für mein aktives Hinfühlen erfahrbar werden können als ausströmend von jenem Wesen, in dessen Gegenwart ich im Kultus eintrete. Ich erlebe das Strömen dieser Kräfte, die die Evangelienkräfte genannt werden können, denn in ihnen wirkt Christus in uns, in mir, in meinem eigenen Entfalten gegenwärtig fort. Ich erlebe mich für einen heiligen Augenblick wahrnehmend und wahrmachend im Lebensreich des Wiederkommenden.

Georg Dreißig

geboren 1950,
Pfarrer, Stuttgart


1  Rudolf ­Steiner: Vortrag vom 11.9.1022 in: Vorträge und Kurse … III, GA 344.

2  Rudolf Steiner: Vortrag vom 23.1.1910 in: Wege und Ziele des geistigen Menschen, GA 125.

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