Haben Sie schon einmal die Erfahrung gemacht, plötzlich festzustellen, dass eine gewohnte, herkömmliche Weise, ein Problem zu lösen oder eine Aufgabe zu erfüllen, sich überholt hat und durch etwas erstaunlich Neues und Revolutionäres ersetzt wird? Diese Mischung aus Verlust und potenziellem Gewinn, die Sie dachten und fühlten, war eine Begegnung mit der Sehnsucht.
-Andrew Hagemann – Professor für englische Literatur am Luther College in Iowa, USA
Auf eine Bitte im Rahmen der aktuellen Ecocriticism-Forschung in den USA, gerichtet an Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler, Begriffe vorzustellen, die so in der englischen Sprache noch nicht existieren, hat sich Andrew Hagemann für das deutsche Wort Sehnsucht entschieden und beginnt seinen Essay, aus nichtdeutscher Sicht, über dieses nahezu unübersetzbare Wort – in vielen Sprachen ist es, wie etwa »Zeitgeist« ein Lehnwort – mit der Feststellung:
»Sehnsucht, einem Substantiv aus der deutschen Sprache, wohnt ein komplexes Ökosystem von Bedeutungen inne, welches sich durch Zeit und Raum entwickelt hat und bis heute weiterentwickelt.«
Dann nähert er sich den beiden Wortbestandteilen an, dem »sehnen«, dem sich verzehren nach etwas Verlorenem, und »sucht«, die er mit »lingering illnes« – anhaltender Krankheit mit dem tiefen Wunsch nach einem besseren Zustand – übersetzt und versucht dann, die heutige Bedeutung des Wortes Sehnsucht zu erfassen.
»Dieses Zusammenspiel von Traurigkeit und Freude, von Intellekt und Gefühl scheint ein Paradoxon zu beschreiben: Der Sehnsucht begegnen heißt, zwischen Verzweiflung und Hoffnung, Verlust und Gewinn, Dystopie und Utopie zu oszillieren. Anders ausgedrückt: Sehnsucht erfasst eine komplizierte, man könnte sagen dialektische Antwort auf das Leben in einer Welt, die am Abgrund steht, entweder, um zu zerfallen, und/oder um sich dem Horizont eines radikalen Durchbruchs in eine neue und humane Zukunft zu nähern – eine Synchronizität von unerschrockener Akzeptanz und utopischer Hoffnung.«
Diese ganz trocken daherkommende Definition, die er in dem letzten zitierten Satz versucht, scheint mir die wesentlichen Elemente der Sehnsucht zu beinhalten. Sehnsucht als Antwort der menschlichen Seele auf ein Leben in einer Welt am Abgrund mit der Möglichkeit des Untergangs und Zerfalls oder aber des Durchbruchs in eine neue, ganz erstaunliche Zukunft. Das Gefühl, verlassen und ganz am Ende zu sein und gleichzeitig der unbändige Drang in ein revolutionär Neues.
Sehnsucht ist also Grenzerfahrung, ein Schwellenerlebnis, das auch gedehnt über Jahre oder Jahrzehnte anhalten und zu einer Grundstimmung werden kann. Sie bezieht sich auf ein erlebtes Getrennt- und erstrebtes Zusammensein, auf Vergangenheit und Zukunft. Sie ist zugleich freud- und leidvoll. Da »zieht« es wie bei einem offenen Türspalt. Sehnsucht ist also nicht einfach ein Gefühl, das man mal haben und dann auch wieder weglegen kann. Sie ist existenziell.
Sucht kommt von »siech« Das alt- und mittelhochdeutsche »Suht«, später »siech«, bedeutete »krank sein« (Gelbsucht oder Schwindsucht z.B. waren bis vor wenigen Jahrzehnten noch gebräuchliche Relikte). Man könnte Sehnsucht also einfach als »Krankheit des Sehnens oder Verlangens« bezeichnen. Dabei ist das Sehnen aber nicht notwendigerweise rückwärtsgewandt, also nicht, wie Hagemann meint, das »sich verzehren nach etwas Verlorenem«, etwa einen Verlust beklagend oder die gute alte Zeit zurückwünschend, sondern bezieht sich auf die Zukunft, auf einen zu ahnenden künftigen Zustand, der herbeigewünscht, herbeigesehnt wird, nach dem man sich verzehrt. Dem kann natürlich eine Verlusterfahrung oder eine Entbehrung zugrunde liegen. Die sehnsüchtige Seele ist nicht in einem schlaffen Alltagszustand, sondern in eine noch ganz unsichere Zukunft hinein gespannt und ausgestreckt. Der von Sehnsucht erfüllt Mensch lebt intensiver.
»Es ist ein wundersam Ding um des Menschen Seele, und des Menschen Herz kann sehr oft dann am glücklichsten sein, wenn es sich so recht sehnt.« (Wilhelm Raabe).
Theodor Fontane sagt es etwas salopp: »Eigentlich ist es ein Glück, ein Leben lang an einer Sehnsucht zu lutschen.«
Ich erinnere mich, als Jugendlicher in den 1970er Jahren einmal einen ganzen Nachmittag allein auf einer Bergwiese im Südthüringischen gesessen und voller Sehnsucht auf die blauen Berge im »Westen«, jenseits des »eisernen Vorhangs« geschaut zu haben. Es war nicht etwa ein Wunsch nach der bunten Welt des »Westens«, nach Freiheit und besseren Lebensbedingungen oder so etwas, sondern eine plötzlich auftretende grundsätzliche Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, nach dem Überschreiten der Grenzen des bisher Erfahrenen. Die blauen Berge jenseits des nicht sichtbaren Grenzverlaufs mitten durch Deutschland waren gewissermaßen nur ein Anlass für die in dieser Tiefe bisher nicht erlebte Sehnsuchtserfahrung. Glück und Schmerz in einem.
Romantiker als Meister der Sehnsucht
Die eigentlichen Meister der Sehnsucht waren die deutschen Romantiker, nicht nur die Schriftsteller und Dichter, auch die Maler, Caspar David Friedrich z.B. und die Musiker, Franz Schubert etwa, um nur einen zu nennen. Das Lebensgefühl der Romantiker war ein ganz anderes als das der noch fast zeitgleich lebenden Klassiker. Diese haben, Goethe und Schiller oder Herder, auch viel von Sehnsucht geredet, aber für sie war es ein Gefühl, letzten Endes flüchtig, wie Gefühle sind (Goethe: »Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide …« oder das berühmte Gedicht »Sehnsucht« von Schiller). Die Romantiker aber erlebten sich nicht auf so sicherem Grund wie noch die Klassiker, sondern eher als am Abgrund einer fragwürdig gewordenen Welt stehend. Und diese Fragwürdigkeit des Daseins war für sie nicht einfach ein Gefühl, sondern existenziell. Sehnsucht nach dem Jenseitigen, dem ganz Anderen und zugleich so Heimatlichen, mit dem man sich verbinden will, war der Grundzug der Romantik. Bei Novalis heißt es im Heinrich von Ofterdingen: »Wo gehen wir denn hin? Immer nach Hause.«
Für den Lebenden ist zunächst der Tod das ganz Andere, das Jenseitige, so kann Sehnsucht auch leicht in Todessehnsucht abgleiten.
Die Verunsicherung, aus der die Romantiker lebten, scheint mir – natürlich unter veränderten Bedingungen – auch ein Charakteristikum unserer gegenwärtigen Zeit zu sein. Die Welt, an deren »Fortschritt« man bis vor wenigen Jahrzehnten noch geglaubt hat, ist auf neue Weise fragwürdig geworden. Man fühlt sich an einem Abgrund lebend. Vielleicht müssen wir eine neue »romantische« Existenz entwickeln mit einer neuen Sehnsucht nach einer Brücke über den Abgrund hinweg. Sehnsucht hat ja nichts mit einer nur sich selbst erlebenden rührseligen Sentimentalität zu tun, sondern ist ein aktives sich dehnen und ausstrecken nach dem ganz anderen, dem zunächst unerreichbaren. Sehnsucht zielt letztlich auf Begegnung. Hierzu gehört auch das große Kapitel der Liebe, die, wenn sie echt ist, immer mit Sehnsucht zu tun hat, über die aber hier nicht reflektiert werden muss, weil jeder einschlägige Erfahrungen mit der Liebe hat. »Wir wollen uns nie so ganz zu besitzen glauben, dass wir uns nicht noch nacheinander sehnen müssten«, schreibt Christian Morgenstern an seine Braut Margareta.
Die Sehnsucht und Liebe von Mensch zu Mensch ist, wenn man so will, nur der Spezialfall einer allen Wesen zugrundeliegenden Tendenz, Verbindung zu suchen. Sehnsucht ist in diesem Sinne die Grundkraft des Universums.
»Jede Sehnsucht fühlt, dass sie Befriedigung verdient, am meisten die Sehnsucht nach Gott. Daraus entspringt unmittelbar die Überzeugung, dass, wenn der Sehnende nicht Magnet sein kann, das Ersehnte Magnet werden muss, dass, wenn jener sich nicht zu erheben vermag, dieses sich zu ihm herablassen muss. Dies ist das festeste Fundament des Glaubens an Offenbarung.«
So schreibt Friedrich Hebbel in seinem Tagebuch.
Wenn Sehnsucht, wie zu Beginn des Beitrags dargestellt wurde, eine Antwort der menschlichen Seele auf die Unstimmigkeit aller etablierten Verhältnisse, auch auf die prinzipielle Unsicherheit und Fragwürdigkeit allen Daseins ist, dann ist Religion, so könnte man vielleicht sagen, eine Art von Kultivierung und Pflege dieser tief im Menschen veranlagten Sehnsucht nach Stimmigkeit und Harmonie, der Sehnsucht letztlich nach Verbindung mit Gott.

Verfasst von Martin Kühnert
geboren 1961, Priester, Tystberga, Schweden