HERBST
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
Aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
Unendlich sanft in seinen Händen hält.
Briefe an eine junge Frau
In diesen und anderen Versen aus Rilkes Buch der Bilder begegnete die 26-jährige Lisa Heise dem zu dieser Zeit schon berühmten Dichter. Von ihrem Mann, dem Maler Wilhelm Heise, nach nur dreijähriger Ehe, mit einem kleinen Kind alleingelassen, fand sie in Rilkes Gedichten Trost und Zuspruch. Sie wagt es, ihm zu schreiben, schildert ihre tiefe Not und Einsamkeit und bekommt schon nach kurzer Zeit von Rilke einen Antwortbrief. Persönlich begegnet ist sie ihm nie. Es entfaltet sich über mehrere Jahre ein Briefwechsel in insgesamt 25 Briefen, von dem Lisa Heise später sagt, dass er für ihre Entwicklung entscheidend und auch ohne unmittelbare Nähe eine beglückende menschliche Beziehung war.
Wesentlich für die Tragfähigkeit dieser Briefbeziehung war, dass Rilke selbst sein Scheitern einer bürgerlichen Ehe mit der Malerin und Bildhauerin Clara Westhoff und auch die Not eines gemeinsamen Kindes, dessen Existenz nur durch die Schwiegereltern gesichert erschien, durchlebt und durchlitten hatte.
Lisa Heises Tage sind bestimmt von Haus- und mühsamer Gartenarbeit sowie der Fürsorge für das Kind. Es bleibt kaum ein Raum für Klavierunterricht, durch den Lisa Heise versucht, ihren eigenen Beruf als Künstlerin zu verwirklichen. Die »Stille langer Abende« erlebt sie als bedrückend, denkt an glückliche Tage ihrer kurzen Ehe zurück, ohne zu verstehen, wieso ein Vater nicht an der gemeinsamen Liebe zu einem Kind festhalten kann.
Gleich im ersten Antwortbrief greift Rilke das für sein Werk so bestimmende Motiv der Einsamkeit auf: Die eigentlich zurückhaltende Natur eines Gedichtes, eines Kunstwerks sei aus den »Extremen des Erleidens und Freuens« gemacht und darin liege der »Schlüssel zu jener Schatzkammer unerschöpflicher Tröstung, die im künstlerischen Werk angesammelt erscheint und auf die gerade der Einsame ein besonderes, ein unaussprechliches Recht geltend machen darf.«[1]
Doch Rilke bleibt nicht im Allgemeinen, er fühlt sich von Lisa Heise auch ganz persönlich angesprochen, spricht von einer »Wendung im Vertrauen« dadurch, dass sie von ihrem Kind erzählt, ermuntert sie zugleich, mehr von ihm mitzuteilen und den Brief als Mittel des Umgangs weiter zu pflegen. Die Rede von Briefen als eines der »schönsten und ergiebigsten Mittel des Umgangs« ist bezeichnend für Rilkes weitreichende und umfassende Briefkultur, von der mehr als 10 000 bekannte Briefe zeugen.
Der Briefwechsel mit Lisa Heise erlebt Pausen von über einem Jahr, in denen die mitgeteilten Inhalte offensichtlich weiterwirken und zeitweise erfüllt sind von täglichem Gedenken, wie Rilke es in einem der Briefe zum Ausdruck bringt. Immer wieder tauchen tragende Bilder auf, so beschreibt Lisa Heise im Brief vom 6. April 1922, dass Rilkes Worte ihre Gedanken in Lieder verwandle, und entwickelt selbst einen Briefstil, der sich dem von Rilke deutlich annähert. Der zurückliegende Winter war geprägt von eisiger Kälte, über Nacht gefrorenen Kissen und Decken, und das Essen musste aufgrund von Wassermangel mit Schnee zubereitet werden. Vergeblich kämpft sie gegen ihre Ängste an. Erst im Frühling fühlt sie sich neu gestärkt und beschenkt durch die große Blumenpracht des Gartens. Rilke greift die Motive auf: »Ihr ganzer mühsamer und unerbittlicher Winter, in seiner Härte, muss wie eine Art gefrorener Froheit gewesen sein, ein Block reiner starker Zukunft, der sich nun gelöst hat (wünsch ich) flutend, rauschend in den Frühling hinein.«[2]
Tiefbeglückt erhält Heise von Rilke einen Teil seiner Sonette an Orpheus in persönlicher Abschrift, erlebt dies als Ausdruck großer und schicksalslenkender Verbundenheit: »Bin ich dem Übermaß solchen Schenkens und solcher Freude gewachsen? Wohin soll mich alles führen? Welchem Willen gehorche ich und welche Hände weben an meinem Leben?[3] Ein Einschwingen, durchaus wechselseitig, in die Seelenwelt des Gesprächspartners, ein Umschmelzen von Melancholie in Freude, das vermittelt dieser Briefwechsel.
Briefe an einen jungen Dichter
Noch berühmter als die Briefe an eine junge Frau, von denen gerade die Rede war, wurden die Briefe an einen jungen Dichter, erst 2019 zusammen mit den bis dahin unbekannten Gegenbriefen von Erich Unglaub neu herausgegeben. In Millionenauflage gedruckt sind sie essenzieller Teil von Rilkes Werk und ein Musterbeispiel zeitgemäßer, freilassender, die Persönlichkeit des Ratsuchenden umfassend stärkender »Seelsorge« in weitestem Sinne geworden.
1902 wurde der 19-jährige Franz Xaver Kappus im Park der Militärakademie von Wiener Neustadt beim Lesen von Rilkes Gedichtzyklus Mir zur Feier vom damaligen Akademiepfarrer Horaek überrascht und angesprochen. Dieser kannte Rilke als Zögling der Militär-Unterrealschule in Sankt-Pölten, mit deren Besuch er von Seiten des Vaters für eine militärische Laufbahn bestimmt war und wunderte sich, dass er Dichter geworden war. Als zartes, kränkelndes und überaus sensibles ehemaliges Frühgeborenes war die fünfjährige Zeit mit internatsmäßiger Unterbringung weit entfernt von der Heimat für Rilke ein Lebenstrauma. Einsam und bedrückt rettete er sich ins Dichten und Träumen.
Kappus selbst leidet unter der Unvereinbarkeit seiner Laufbahn als Soldat und dem Gefühl, eigentlich zum Dichter berufen zu sein. Jetzt, als er merkt, dass auch Rilke dieses Leiden durchgemacht hat, vertraut er sich diesem an und schickt ihm seine dichterischen Versuche. In der wenige Wochen später geschriebenen Antwort vermeidet Rilke erst einmal Kritik, darauf komme es nicht an, sind doch Kunstwerke »geheimnisvolle Existenzen, deren Leben neben dem unseren, das vergeht, dauert«. Wenig später rät er Kappus, nicht nach außen zu sehen, sondern nur den Grund zu erforschen, zu prüfen, »ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt, ob Sie sterben müssten, wenn es Ihnen versagt würde, zu schreiben«. Es folgt eine ausführliche Anleitung dazu, wie ein Künstler authentisch und reif dafür wird, ein Kunstwerk zu schaffen: Den ganz persönlichen Alltag gilt es zu verwandeln, in »demütiger Aufrichtigkeit«, der scheinbar arme Alltag müsse reich werden, die Kindheit zu einem »Schatzhaus der Erinnerungen« und: »Ihre Einsamkeit wird sich erweitern und wird eine dämmernde Wohnung werden, daran der Lärm der andern fern vorübergeht.«[4] Wie ein guter Psychotherapeut beantwortet Rilke die Frage, ob Kappus zum Dichter geboren sei, nicht endgültig, aber er macht ihm Mut und sagt ihm, dass er, auch innerhalb einer militärischen Laufbahn, die Kappus bis zum Ende des Ersten Weltkrieges als Leutnant der österreichischen Armee einschlug, vom Dichten profitieren werde.
Einen Höhepunkt des Briefwechsels bildet Rilkes großer Antwortbrief auf die Fragen von Kappus zum Wesen der Liebe, an der dieser bisher gescheitert und sie nur in seinen Träumen erlebt hat. Kappus hatte seine tiefsten Sehnsüchte in einem Sonett zum Ausdruck gebracht, das er Rilke geschickt hatte, und dieser antwortete ihm: »Lieben ist zunächst nichts, was aufgehen, hingeben und sich mit einem Zweiten vereinen heißt (denn was wäre eine Vereinigung von Ungeklärtem und Unfertigem, noch Ungeordnetem –?), es ist ein erhabener Anlass für den Einzelnen, zu reifen, in sich etwas zu werden, Welt zu werden für sich um eines anderen willen, es ist ein großer, unbescheidener Anspruch an ihn, etwas, was ihn auserwählt und zu Weitem beruft.«[5] Geduld mit sich haben, die Einsamkeit des Partners schützen, eine Liebe zu offenen Fragen entwickeln, das sind Grundsätze, über die Rilke mit Kappus spricht, und wenn dieser an Christus zweifelt, antwortet Rilke: »Warum denken Sie nicht, dass er der Kommende ist, der von Ewigkeit her bevorsteht, der Zukünftige, die endliche Frucht eines Baumes, dessen Blätter wir sind?«[6]
Kappus selbst wurde nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst Schriftsteller und Journalist in Temesvár und später in Berlin Lektor beim Ullstein-Verlag. Ein berühmter Lyriker ist er nicht geworden, aber die Briefe an ihn erreichten viele, auch scheinbar Rilke fernstehende Menschen, Filmschauspieler etwa, so eine Lady Gaga, die sich Sätze aus einem der Briefe eintätowieren ließ.
Briefe an die Mutter
Ein letztes Beispiel von Rilkes Tätigkeit als Ratgeber und Seelsorger sollen seine Briefe an die Mutter sein. Sein Verhältnis zu ihr war einerseits geprägt davon, dass sie ihn als Dichter schon früh verstanden und gefördert hat, andererseits belastete ihn ihre übermäßig frömmelnde Art, ihr zerstreutes Wesen, ihr unstetes Reisen, sodass er ihr nur selten und die letzten zehn Jahre seines Lebens überhaupt nicht mehr persönlich begegnen wollte. Umso überraschender wirken die mehr als 1000 Briefe, die er ihr bis zu seinem Tode schrieb. Stets ist er in Sorge um ihre labile Gesundheit, gibt eine Fülle an Ratschlägen, berichtet unermüdlich von Reisen, Begegnungen und schickt ihr seine Werke.
Eine Kostbarkeit innerhalb dieses Briefwechsels sind seine Weihnachtsbriefe, die als Inselbändchen erschienen sind. Er schafft dabei einen Seelenraum mit der Mutter, der für diese Beziehung heilend ist. Mehr als zehn Weihnachtsfeste hat Rilke allein an verschiedenen Orten, manchmal verbunden mit dem Besuch einer Mitternachtsmesse, verbracht. Mit der Mutter vereinbart er, zur »Sechs-Uhr-Stunde« gemeinsam kniend der Christgeburt zu gedenken. Im letzten dieser Briefe, Weihnachten 1925, hält er Rückschau und greift ein letztes Mal die Kindheit auf: »Wenn mein Dasein später, unter dem furchtbaren Druck der Militärschule, gewissermaßen in meine eigenen, oft so schwachen und ratlosen Hände überging –, damals, zur Zeit jener Weihnachten, hielt ich es noch nicht, gab es Euch aber, Dir und Papa, manchmal zu halten, und es ist sicher bestimmend für mich gewesen, dass Ihr fähig und entschlossen wart, es dann unter dem Schutze und Glanze dieses Festes so hoch als möglich in den Jubel hinaufzuheben, in jenen Jubel, der mir die Engel geschenkt hat, deren Bewusstsein, weit entfernt mir verloren zu gehen, auf allen Stufen des Lebens mit mir gewachsen ist.«[7]
Die Gabe, andern Menschen aus dem Herzen zu sprechen
Versuchen wir, die Elemente der therapeutischer Briefkunst Rilkes, stellvertretend für viele andere, zu ordnen, dann ist es immer eine schicksalshafte Gemeinsamkeit, die Rilke erlebte, eine Not, die er selbst durchlebt und zu überwinden versucht hatte. Es gelingt ihm, teilweise ohne persönliche Kenntnis des Briefpartners, ein starkes Gefühl von Nähe zu erreichen, auf sehr konkrete Einzelheiten aus dem Leben der Empfänger einzugehen und so zu raten, dass diese sich zutiefst verstanden fühlten, zugleich jedoch Worte zu finden, die auch späteren Lesern der Briefe aus dem Herzen gesprochen waren, Worte voll allgemeingültiger Lebensweisheit.
In seiner Wirkung, in seiner Ausstrahlung, wurde Rilke mehrfach mit Franz von Assisi verglichen, in dem er den Menschen sah, der das Christentum am reinsten verwirklichte. Marie Taxis, die Seelenfreundin aus Duino, nannte ihn »Serafico«, erkannte in ihm sein engelhaftes Wesen. Stefan Zweig und andere, die Rilke persönlich begegneten, beschreiben, dass in seiner Gegenwart keine zweideutigen Worte ausgesprochen werden konnten, sich eine Atmosphäre von dichter Intimität entwickelte, gehässige Gefühle verstummten, man sich durchlichtet und wie gereinigt fühlte.
Immer wieder wurde Rilke heimatlos und fühlte sich zugleich in vielen Ländern, Russland, Frankreich, Ägypten, Spanien, Skandinavien, zuletzt der Schweiz zu Hause. Gesundheitlich labil, über lange Abschnitte seines Lebens seelisch wie gelähmt und hilfebedürftig, lehnte er für sich eine vorgeschlagene Psychoanalyse ab. Sigmund Freud kannte er persönlich, war aber davon überzeugt, dass man ihm dabei neben den Dämonen auch die Engel austreiben und sein Künstlertum lähmen würde. In der Kunst fand und verwandelte er sich selbst, schuf sie als Schutzraum der menschlichen Seele.
Rudolf Steiner erkannte in Rilkes Lyrik einen eigenständigen Weg, in die Gründe des Weltgeschehens schöpferisch einzutauchen: Rilke brauche die Anthroposophie nicht, er sei ja Dichter.
Die Möglichkeiten einer Kunsttherapie sind für uns inzwischen selbstverständlich geworden. Rilke hat vorgelebt, wie Dichtung, wie Schreiben für ihn selbst, aber auch für andere heilend wirkt. So wünschen wir ihm zum 150. Geburtstag in Zeiten eines mediengeprägten Sprachverfalls neue Aufmerksamkeit und eine Wiederbelebung therapeutisch wirkender handschriftlich-beseelter Briefkunst.
[1]Rainer Maria Rilke: Briefe an eine junge Frau, Insel-Bücherei Nr. 409, S. 5.
[2]Ebd., S. 37.
[3]Lisa Heise: Briefe an Rainer Maria Rilke, Berlin 1934, S. 50.
[4]Rainer Maria Rilke: Briefe an einen jungen Dichter, hrsg. von Erich Unglaub, Göttingen 2019, S 9–11.
[5]Ebd., S. 57.
[6]Ebd., S. 50.
[7]Rainer Maria Rilke: Weihnachtsbriefe an die Mutter, Leipzig 2013, S. 83.
Verfasst von Dr. René Madeleyn
geboren 1951, Kinderarzt an der Filderklinik in Filderstadt



