Über die Sehnsucht

Über die Sehnsucht

In meiner rumänischen Muttersprache gibt es ein Wort, von dem es heißt, dass es unübersetzbar ist: dor! Im Wörterbuch würden Sie es als »Sehnsucht« übersetzt finden. Doch für die rumänische Seele ist es viel mehr. Es ist ein Lebensgefühl. Es wird als charakteristisch für die rumänische Volksseele angesehen, sodass Rumänien sogar einen jährlichen »Tag der Sehnsucht«, Ziua dorului, eingeführt hat.

Diese Sehnsucht, dor, ist Liebe und Leidenschaft, Leiden und Traurigkeit, Hoffnung und Freude zugleich. Sie kann sich bis zur Krankheit steigern, man verzehrt sich, trägt aber immer die Hoffnung und die Vorfreude auf Erfüllung in sich. Man sehnt sich nach etwas, was man kennt, was man vermisst und ohne das man sich nicht vollständig fühlt. Oder man wünscht sich, etwas wiederzubekommen, was einen glücklich machte.

Die Sehnsucht erweckt in der Seele Erinnerungen aus der Vergangenheit. Es sind Erinnerungen von glücklichen Erlebnissen, die uns ein Gefühl der Vollkommenheit, der Harmonie gaben. Diese fehlen uns und wir wünschen sie wieder zurück. So strebt die Sehnsucht in eine Zukunft, in der wir hoffen, den vermissten Zustand wieder einmal zu erleben.

Die deutsche Sprache hat sich für dieses Gefühl nicht auf ein Wort festgelegt. Denn sie hat die Gabe, Wörter zusammenzusetzen: Sehnsucht ist zugleich Sehnen und Sucht. Oder besser gesagt: sich sehnen und suchen. Zwei Tu-Wörter – wie die Kinder sie nennen – bilden ein Hauptwort. Die rumänische Sprache hat dafür ein Hauptwort: dor. Wir sagen Ȋmi este dor de tine« d.h. »Mir ist Sehnsucht nach dir«. Auf Deutsch heißt es »Ich habe Sehnsucht nach dir«. Im Rumänischen ist es ein Ist-Zustand, so wie Hunger oder Durst. Im Deutschen vermisst man etwas zu der eigenen Vervollkommnung, zum Wohlbefinden.

Oder, wir sagen auf Rumänisch: Mă topesc de dorul tău! Das heißt: Ich verschmelze vor Sehnsucht nach dir! Wie würden Sie auf so eine Bekundung reagieren? Vielleicht kann man so ein Bekenntnis annehmen, wenn man das Bild einer Kerze vor Augen hat, die von der brennenden Flamme schmilzt und dabei Licht und Wärme um sich herum ausstrahlt. Der rumänische Komponist George Enescu beschrieb die rumänische Sehnsucht – dor – als »Traurigkeit inmitten der Freude« und erkannte es als Grundstimmung der rumänischen Musik.

»Traurigkeit inmitten der Freude«

Dieses Geflecht von Gefühlen ist in den sogenannten Cântece de dor, Sehnsuchtsliedern, zu erleben. Hier wird die Sehnsucht besungen. Dor hat ein Mädchen nach ihrem Liebsten, der zur Armee gehen musste, dor hat der junge Mann, der in der Fremde arbeiten muss und seine Geliebte vermisst, dor haben die Kinder nach ihren Eltern, oder auch ein Fremder nach seiner Heimat. Sie erinnern sich an schöne Erlebnisse, die sie früher hatten und wünschen sie sich bald wieder zurück. Die Sehnsucht trägt in sich das Bedürfnis, den erwünschten Zustand zu erreichen.

Sehnsucht nach Verstorbenen

Sehnsucht bezieht sich nicht nur auf Menschen, die in der Ferne leben und irgendwann wieder zurückkommen, sondern auch auf liebe Menschen, die verstorben sind. Hier überschreiten wir die Grenze des Lebens und senden unsere Gefühle in eine andere, unsichtbare, aber genauso reale Welt, die geistige Welt der Verstorbenen, seien sie Eltern oder Partner. Auch hier ist sie mit der Hoffnung auf eine Wiederbegegnung verbunden.

Sehnsucht nach einem Ort

Es gibt auch Sehnsucht nach einem Ort oder einer Landschaft. Im Sommer sehnen wir uns nach dem Meer mit seinem kühlen, erfrischenden Wasser, oder nach den hohen Bergen.

Heimweh

Viel tiefgreifender ist die Sehnsucht nach der Heimat. Sie heißt ja auch Heimweh. In den Volksliedern oder in Gedichten wird diese Sehnsucht besungen. Und sie bezieht sich oft nicht auf eine bestimmte Landschaft und einen bestimmten Ort. Sie umfasst alles, was man an diesem Ort erlebt hat, die Liebe der Eltern, den Duft der Blumen im Garten, den Kuchen, den nur die Großmutter backen kann und vieles mehr. Diese Sehnsucht speist sich aus Erinnerungen an die Vergangenheit und projiziert sie in die Zukunft. Man möchte das alles wieder erleben. Auch wenn nicht alles so sein kann wie früher, ist diese Sehnsucht wie eine Triebfeder, die in die Zukunft führt.

Und dann ist noch die Sehnsucht nach der Ferne, Fernweh, oder wie wir sagen dor de ducă, die Sehnsucht wegzugehen.

Fernweh

Diese Sehnsucht kommt nicht aus der Vergangenheit, strebt in die Zukunft und hat doch kein konkretes Ziel. Das Ziel ist eine Ahnung, die wir in der Seele tragen, von etwas, was wir noch nicht erlebt haben, von etwas Neuem und Unbekannten, aber für uns Unverzichtbaren. Wir möchten in die Welt gehen, weit weg von dem Vertrauten, von dem, was einen vielleicht festhält, von Gewohnheiten, Traditionen, Konventionen. Wir streben danach, an einem unbestimmten Ort anzukommen. Es ist wie eine Erinnerung von etwas, was man noch nicht erlebt hat. Es kann ein Ort sein, ein Mensch oder ein Zustand. Hier überschreitet unsere Seele die andere Grenze des Lebens, die Geburt, und sucht in der Zukunft ein unbestimmtes Ziel.

Ein Bauernsohn mit einer starken Sehnsuchtskraft war auch Constantin Brâncuși.

Constantin Brâncuși

Als Kind sah er auf den Wiesen, in den herumliegenden Steinen, verborgene Figuren, die befreit werden wollten. Er sehnte sich, ihnen Leben zu schenken. Zunächst aber schnitzte er die Holzstücke, die er im Wald fand. Als er zehn Jahre alt war, starb sein Vater. Der Junge verließ sein Elternhaus und sein Dorf und ging in die nächste Stadt. Mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten hielt er sich über Wasser. Er half auch in einem Wirtshaus. Einmal verarbeitete er einige Tannenholzlatten von einer Verpackungskiste zu einer wohlklingenden Geige. Diese Fähigkeit brachte ihm die Bewunderung einiger wohlhabender Kunden. Sie ermöglichten ihm ein Studium, zuerst an der Kunstgewerbeschule in der nächsten größeren Stadt, dann an der Kunstakademie in Bukarest.

Aber seine Sehnsucht trieb ihn weiter. Es wird erzählt, dass er zu Fuß nach Paris ging, um dort die große, wahre Kunst kennenzulernen. Später brachte er neue Impulse in die Kunst, die den Weg der Moderne eröffneten. Er verarbeitete seine Werke bis, wie er sagte, der Stein anfing zu singen. Berühmt ist sein »L’Oiseau dans l’espace«, Der Vogel im Raum, von dem er sagte: »Ich habe nicht den Vogel gestaltet, sondern seinen Flug«. Ein anderes bekanntes Werk ist »La Colonne sans fin«, Die Säule ohne Ende. Es ist eine 30 Meter hohe Säule aus Gusseisen, die aus fünfzehn rhombenförmigen Modulen besteht. Jedes Modul geht von einem Punkt aus, weitet sich aus und zieht sich wieder zusammen, um im nächsten Modul diese Bewegung zu wiederholen. Als Betrachter hat man den Eindruck, dass man Stufe für Stufe in den Himmel steigt. Über seine Säule sagte Constantin Brâncuși:

»Du musst unaufhörlich versuchen, aufwärts zu steigen, wenn du sehr weit sehen willst. Und weit zu sehen bedeutet etwas, aber dahin zu kommen ist etwas ganz Anderes«.

Die Suche nach der absoluten Wahrheit im Zusammenspiel des Stoffes und der Form war das Motiv jeder seiner Kunstwerke. Ihm ist es gelungen diese Sehnsucht sichtbar zu gestalten. Als Bauernsohn, der er gewissermaßen ein Leben lang blieb, war Constantin Brâncuși tief gläubig. Und er drückte seine Sehnsucht in einem anderen Aphorismus auch so aus:

»Wir können Gott nie erreichen, aber wichtig bleibt der Mut, zu ihm zu reisen.«

In der Dichtkunst ist die Sehnsucht oft thematisiert worden. Viele Dichter sahen die Erfüllung ihrer inneren Sehnsucht im Tode und jenseits des Todes. Goethe dagegen, in seinem Gedicht »Selige Sehnsucht«, beschreibt den Menschen als das Geschöpf, das die Möglichkeit hat auf der Erde seine Sehnsucht zu erfüllen: Das Lebend´ge will ich preisen / Das nach Flammentod sich sehnet. Etwas später heißt es: Keine Ferne macht dich schwierig, / Kommst geflogen und gebannt, / Und zuletzt, des Lichts begierig, / Bist du Schmetterling, verbrannt.

Im Bild des Schmetterlings beschreibt er die Seele des Menschen, die nach dem Licht strebt, aber in der Berührung mit der irdischen, brennenden Flamme nur den Tod finden kann. Wenn es ihr gelingt, in der physischen Flamme das Wesen ihrer Sehnsucht zu erkennen, kann die Seele neue Lebensimpulse finden. Dann wird der Mensch selbst ein leuchtender Gast auf der Erde: Und solang du das nicht hast, / Dieses: »Stirb und werde« / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde.

In den Evangelien kommt der Begriff »Sehnsucht« nicht unmittelbar vor. Mit anderen Worten beschreiben die Jünger, die nach Emmaus wandern, ihre Sehnsucht jedoch, wenn sie sagen:

Brannte nicht unser Herz in uns, als er auf dem Wege zu uns sprach? (Lk 24,32)“.

Sie sehnen sich nach dem vermissten Meister und Lehrer. Und ihre offenen, vielleicht sogar verwundeten Seelen werden berührt von seiner Anwesenheit. Im Herzen erkennen sie ihn und sind von Freude und Hoffnung erfüllt.

In der Menschenweihehahndlung hören wir in der Passionszeit von Sehnsucht. In dem Zeitengebet, der Epistel, wird der Zustand des Menschen in dieser Zeit des christlichen Jahres beschrieben. Die Seele hat die Verbindung mit dem Geiste verloren. Die Stätte des Herzens ist leer. Eine tiefe Sehnsucht nach der erweckenden Kraft des Geistes lebt schwach im Blut. Allein der Atem ist von Hoffnung durchströmt.

Das Blut ist der irdische Träger unseres Wesens. Im Blut sind wir mit uns allein. Durch den Atem sind wir mit der Welt um uns verbunden, mit anderen Menschen, mit Pflanzen und Tieren, mit Wolken und Sternen. Der erste Mensch empfing mit dem göttlichen Atemhauch das Leben. Jeder Neugeborene wacht zum irdischen Leben auf mit dem ersten Atemzug. In unserem Atem tragen wir die Erinnerung an die Welt, aus der wir kommen, und auch die Hoffnung, ihr wieder zu begegnen. Auf unseren Herzschlag haben wir keinen Einfluss, außer indirekt durch den Atem.

Als Christus am Osterabend wieder mit seinen Jüngern zusammenkommt, haucht er ihnen den lebendigen Atem ein. Geheilt beginnt das Herz wieder zu schlagen, das Blut erlebt die Erfüllung der Sehnsucht und der Atem ist wieder durchgeistigt. So beschreibt es nun die Epistel der Osterzeit.

Sehnsucht im Blut

Unsere alltäglichen Sehnsüchte verbinden sich zu einer tiefen Sehnsucht. Diese begleitet uns von Geburt an durch das Leben. Unsere Sehnsucht ist wie eine Wünschelrute auf unserem Lebensweg. Sie trägt die Erinnerung an eine geistige Welt und sucht ihre Erfüllung in der irdischen Wirklichkeit. Sie führt uns zum Verwirklichen unserer Lebensaufgabe in Beziehung zur Welt und zu anderen Menschen. Sind wir aufmerksam genug, führt sie uns zum Erkennen des Geistigen und zu einer lebendigen Beziehung zum Geist. Unsere Sehnsucht führt uns zu uns selbst.

Verfasst von Anca Burloi

geboren 1960, Priesterin in Erfurt

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