Tod und Wandlung | Das Schicksal des Lazarus

AutorIn: Mechtild Oltmann-Wendenburg

Wandlung ist ein übersinnliches Ereignis. Mit äußeren Augen kann niemand sehen, was dabei in einem innersten Raum vor sich geht. Wandlung ist ein Mysterium. Leicht kann es verwechselt werden mit bloßen Veränderungen. Solche erscheinen in Naturprozessen, schon erstaunlich genug, doch bringen sie im Grunde nur das Erwartete, Bekannte, manchmal sogar Berechenbare hervor. Selbst in einer Metamorphose, die sich völlig im Verborgenen, etwa im Inneren einer Raupe, vorbereitet, in tiefem Dunkel, erwarten wir, dass der Schmetterling ausschlüpft. Es ist ein Gleichnis, doch noch nicht die Wirklichkeit einer Wandlung. Diese ist nicht ohne den Tod möglich, ohne einen Tod, den nur Menschen erfahren. Kein anderes Wesen in der Welt stirbt so wie der Mensch. Tiere verenden und Pflanzen vergehen, sie geben sozusagen Leben zurück, das ihnen verliehen war, aber der Mensch hält etwas aufrecht, trägt Bewusstsein und sogar das Bewusstsein von sich selbst durch den Abgrund, wenn das Christuslicht in ihm leuchtet. Es geht dabei nicht nur um das Weiterleben nach dem Tod, sondern um das Bestehen meines Ichs jenseits der Todesschwelle, wenn es von dem Licht des Auferstandenen durchdrungen wird. Von einem solchen Menschen kann man sagen: »Der lebet, auch wenn er stirbt.« Das ist das innerste Geschehen der Wandlung.

 

Kein anderes Wesen in der Welt als der Mensch kennt die Freiheit und die Schuld.

Die Bewältigung der drei Grunderfahrungen unserer Existenz – Tod, Freiheit und Schuld – sind es, welche Wandlungen hervorrufen, sie sind ihre Bedingungen.

 

»Es war einer von den Obersten des Volkes«, auch »der reiche Jüngling« genannt, der die Frage der Fragen stellte, die Frage, um derentwillen der Menschensohn auf die Erde gekommen war: »Wie kann ich das ewige Leben erlangen?« Vielleicht darf man es einmal freier übersetzen: »Wie kann ich ein bewusstes Leben nach dem Tod gewinnen«? Der Evangelist Markus deutet hier ein Geheimnis an, das inzwischen von vielen als Tatsache anerkannt wird. Er fügt in der Geschichte die Worte hinzu: »Und er blickte ihn an und liebte ihn« (Mk 10,21). Eben dieses »Liebhaben« verbindet den reichen Jüngling mit Johannes, denn er ist der Jünger, »welchen der Herr lieb hatte«.

Eine zweite Brücke führt zu Lazarus. Der reiche Jüngling fühlt eine Art schuldige Ohnmacht der Aufgabe gegenüber, die ihm gestellt wird, nämlich all seinen Reichtum zu verkaufen und den Erlös den Armen zu geben. Das vermag er nicht. Es kann sein, dass dieses Unvermögen zu einem Schuldempfinden führte, das ihn krankmachte.

Lazarus lag krank darnieder. Er macht in dieser Krankheit den Tod durch, aber sie war letztlich nicht »zum Tode«, sondern führte zu seiner Einweihung – zu seiner vollkommenen Wandlung von Lazarus in Johannes, den Jünger, der geliebt wurde. Diese Liebe hat ihn getragen, die Schuld überwunden und den Weg geebnet, unter dem Kreuz stehen zu können.

Nie hat er etwas über den Inhalt seiner Einweihung gesagt; schweigend handelte er. »Dann folge mir nach«, war die gewiesene Richtung, in Freiheit. Dieser Weg führte ihn nach Golgatha, wo seine Frage für die ganze Menschheit beantwortet werden sollte, wo es galt, das ewige Leben zu erringen. Vollkommen schuldlos, in absoluter Freiwilligkeit ging Christus in den Tod, nicht für sich selbst, sondern aus Liebe. Diese Todeserfahrung verwandelte ihn im Grunde erst vollkommen zum Menschen, anders gesagt: Die Menschwerdung des Gottes vollendete sich erst am Kreuz.

Dazu bedurfte es des Zeugen, der danebenstand und den Tod schon kannte, so wie Johannes der Täufer der Zeuge am Jordan war, der das Licht schon kannte. Lazarus wurde nicht nur ein Bei-Stand unter dem Kreuz, sondern ein Repräsentant gegenseitiger Liebe zwischen dem Gekreuzigten und der Menschheit.

Die Einweihung gibt es in unserer Zeit in verwandelter Form wieder neu. Sie ist in herausgehobenen Erfahrungen auch mitten im Leben und bei vollem Bewusstsein möglich, nicht selten verbunden mit fremder oder eigener Schuld. Vor allem tritt sie aber in dem völlig gewandelten Todeserlebnis am Ende des Lebens auf. In diesem Augenblick begegnet jeder Mensch seit dem Ende des 20. Jahrhunderts dem Christus. Jeder hat dann sein »Nahtoderlebnis«, ob er es schon erkennt oder noch nicht gleich. Da, wo früher Moses mit den Gesetzestafeln erschien und dadurch Schuldbewusstsein erzeugt wurde, leuchtet jetzt ein Licht auf, in dem ich selbst mein eigenes »Päckchen« ansehen kann.

Die Wandlung wird dann dadurch möglich werden, dass ich erkenne, wer es ist, der mir nahekommt und mich zugleich erkannt hat ohne Verurteilung.

Der »okkulte« Inhalt des Geheimnisses der Wandlung ist: gegenseitige, »wesenschaffende« Liebe.