Biblische Begegnungen | Josef – Wie sich Träume erfüllen

AutorIn: Ruth Ewertowski

Der Prophet Jona ist im großen Fisch wie begraben und zugleich aus den Fluten des Meeres gerettet. Im Leib des Fisches dankt er Gott für seine Rettung. War er zuvor vor dem göttlichen Auftrag, den Menschen in Ninive das Strafgericht anzusagen, geflohen, ist er nun – wieder aufs Trockene gesetzt – bereit, ihn zu erfüllen. Aber überzeugt vom Handeln Gottes ist er nicht, denn in sein Weltbild passt es nicht, dass Ninives gottlose Heiden und Feinde Israels schließlich begnadigt werden. Jona ist durch die drei Tage im Fisch, die man allzu leicht als eine Einweihung denkt, noch nicht verwandelt worden. Dass es so etwas wie Gnade und Erbarmen gibt, muss er, wie der ältere Bruder des verlorenen und wiedergefundenen Sohnes, erst noch lernen.
Ganz anders verhält es sich in der Urväterzeit mit Josef, dem Lieblingssohn Jakobs. Obwohl dieser zu Anfang weit von jener Bescheidenheit, die einem Einzuweihenden zukommen sollte, entfernt ist, wird doch gerade aus ihm durch Erniedrigung und Todeserfahrung ein Mann der Weisheit, der schließlich souverän und ohne Rachsucht neues Leben bringen kann.
Jakobs Bevorzugung Josefs vor seinen elf Brüdern, die Beförderung seiner Eitelkeit durch das Geschenk eines Ehrenkleides und Josefs Träume, die ihn über seine Brüder stellen, scheinen es geradezu nötig zu machen, dass er einen Dämpfer bekommt. Wenn ein Siebzehnjähriger träumt, dass sich die Garben aus Korn, die seine Brüder banden, vor der seinen neigen, und wenn er darüber hinaus noch träumt, dass sich Sonne, Mond und Sterne vor ihm verneigen, und er diese Träume nicht für sich behalten kann, wundert es nicht, dass er sich die Brüder zu Feinden macht. Doch statt ihn die nötige Bescheidenheit zu lehren, schickt Jakob Josef, der ihm auch sonst schon hinterbrachte, was man über seine älteren Brüder so spricht, nach dem fernen Ort, an dem diese derzeit das Vieh hüten, um zu sehen »ob’s gut steht« mit ihnen und dem Vieh (1 Mose 37,14). Man kann sich vorstellen, wie es in ihnen rumort, als Josef in seinem bunten Kleid ankommt und, wie es Thomas Mann zuspitzt, zu ihnen spricht: »Ja, ja, gegrüßt! … Traut euren Augen nur, liebe Männer! Ich bin gekommen von Vaters wegen auf Hulda, der Eselin, um nach dem Rechten zu sehen bei euch …« Jetzt reicht’s. Sie beschließen einen Anschlag auf ihn. Sterben soll er, damit nicht seine selbstherrlichen Träume gar noch in Erfüllung gehen. Nur Ruben, der Älteste, der dem Vater Rechenschaft wird ablegen müssen, will das Schlimmste verhindern, und so wird Josef nur in die »Grube«, eine trockene Zisterne, geworfen. Zuvor hatte man ihm das Kleid ausgezogen, es im Blut eines Ziegenbocks getränkt, auf dass der Vater daraus, ohne dass sie ein Wort sagen müssen, den erhofften Schluss zieht: Tot ist er, der Liebling.
Was so psychologisch motiviert beginnt, wird nach und nach in eine Geschichte münden, in der sich göttliche Fügung und Führung auf verschlungene Weise mit menschlichem Handeln vereint, ohne dass je abzusehen wäre, was kommt.
Nackt in einer Grube, einem Gefängnis, einem Grab – das ist die Situation, die den Geschmack des Todes hat. Josef bekommt ihn zu kosten. Niemand verneigt sich vor ihm, vielmehr ist er selbst ganz unten. Doch aus dieser Tiefe wird er wieder herausgezogen, weil Kaufleute daherkommen und die Brüder die Gelegenheit ergreifen, Josef nun noch gewinnbringend und ohne Blutschuld loszuwerden. Sie verkaufen ihn an die Ismaeliter, die ihn in Ägypten selbst wieder an Potifar, einen königlichen Würdenträger veräußern. Josef wird Sklave. Es ist seine zweite Erniedrigung. Aber aus dieser Tiefe arbeitet er sich hinauf, und Potifar merkt bald, was er an ihm hat, wie umsichtig und verlässlich Josef ist, und überlässt ihm in allem die Sorge um sein Haus. Josef nutzt seine Stellung nicht aus, sondern weiß, wohin er gehört und entzieht sich den Avancen von Potifars Frau, die sich ihn zum Liebhaber wünscht. Er bleibt gegenüber ihrer Verführung standhaft. Aber auf der Rückseite seiner Loyalität gegenüber Potifar wirkt Josefs Verweigerung wie eine Erniedrigung der Frau, und diese rächt sich an ihm, wie es zuvor seine Brüder taten. Josef muss erneut ganz tief hinab. Wieder ist er nackt, denn die Frau hält nicht Josef, sondern nur das Kleid des Fliehenden in der Hand, das ihr nun zum Beweis des »Mutwillens«, den er ihr angetan haben soll, dient. Josef kommt unschuldig ins Gefängnis.
Es ist der dritte Abgrund. Aber wieder erweist er sich als geschickt und vertrauenswürdig, so dass ihm der Amtmann des Gefängnisses wie zuvor Potifar alle Geschäfte seines Hauses überlässt. Hier nun helfen ihm Träume, also das, was ihm in seiner Heimat zum Verhängnis wurde, entscheidend weiter. Denn Josef deutet die Träume zweier Mitgefangener genau so, wie sie sich später erfüllen werden. Den obersten Mundschenk des Pharao, dem Josef aufgrund seines Traums Entlassung aus dem Gefängnis und Wiedereinsetzung in sein Amt verkündet, bittet Josef sich beim Pharao für ihn einzusetzen. Doch der vergisst ihn.
Zwei volle Jahre noch bleibt Josef ein Gefangener – eine lange Zeit des inneren Wandels und Wachsens. Und dann sind es wieder Träume, die sein Schicksal wenden, denn der Pharao träumt, was ihm keiner deuten kann: von sieben fetten Kühen, die von sieben mageren verschlungen werden, von sieben Ähren, voll und dick, die von sieben dünnen verzehrt werden. Das alles verheißt nichts Gutes und hat als Königstraum großes Gewicht. Da endlich erinnert sich der Mundschenk an jenen Mann, der ihm einst seinen Traum richtig gedeutet hat. Der Pharao lässt Josef rufen.
Jetzt ist seine Stunde gekommen. Auf die Anrede des Pharao, dass er gehört habe, Josef könne Träume deuten, sagt dieser: »Das steht nicht bei mir; Gott wird jedoch dem Pharao Gutes verkünden« (41,16). Bescheiden, aber doch sicher – noch bevor er die Träume kennt – verkündet er, dass Gott auf der Seite des Pharao ist. Die Träume selbst werden klar und entschieden gedeutet: Auf sieben Jahre der Fülle werden sieben der Hungersnot kommen. Doch das ist kein Grund zu verzagen, denn in den fetten Jahren kann für die magern vorgesorgt werden, damit niemand Hunger leiden muss. Um diese Vorsorge treffen zu können, hat Gott dem Pharao die Träume gesandt. Jetzt kommt es nur darauf an, den richtigen Mann zu finden, der das leiten kann. Josef deutet so klar und optimistisch, dass der Pharao sogleich sicher ist, seinen Mann gefunden zu haben. So wird Josef nach Grube, Sklave und Gefängnis zum zweiten Mann in Ägypten, zum Stellvertreter des Pharao. Was wie eine steile Karriere aussieht, hat zum Hintergrund etwa dreizehn Jahre stillen Reifens und bedeutet nun eine enorme Verantwortung. Josef wird zeigen müssen, dass er das Vertrauen verdient. Und er wird tatsächlich offenbaren, dass er der Mann ist, von dem er als Siebzehnjähriger geträumt hat: einer, vor dem man sich verneigen wird. – Jetzt kann er dieser Mann werden, aber eben nur, weil er durch den Abgrund gegangen ist, in den er ausgerechnet wegen jener Träume, die sich damals so ungehörig ausnahmen, stürzen musste. Das ist das Besondere an Josefs Geschichte, an seiner Bestimmung, seinen Fehlern und seinem Gelingen, dass die Träume von damals kündeten, was kommen wird, aber für das Bewusstsein – sein eigenes wie das seiner Brüder – waren sie zu diesem Zeitpunkt so unangemessen, dass er sich mit ihnen jenen Weg durch den Abgrund eingehandelt hat, der ihn erst zu jenem Mann werden ließ, für den diese Träume nun in Geltung kommen. Josef wird tatsächlich der Mann werden, von dem er träumte. Aber die Erfüllung dieser Träume geschieht auf einem Einweihungsweg, der ihn hart angeht.
Josef ist etwa dreißig Jahre, als er in den Dienst des Pharao tritt. Und es sind noch einmal über sieben Jahre, bis er seine Brüder wiedersehen wird. Denn es kommen zuerst die sieben Jahre des Überflusses, und auf diese die angekündigte Hungersnot, für die Josef die rechte Vorsorge trifft. In der Zeit der Fülle werden ihm zwei Söhne geboren, denen er Namen gibt, die für seine Lebenssituation bezeichnend sind. Den Erstgeborenen nennt er Manasse (= der vergessen macht), denn, so sagt er, »Gott hat mich vergessen lassen all mein Unglück und mein ganzes Vaterhaus« (41,51). Das heißt nicht, dass alles aus seinem Gedächtnis getilgt wäre, sondern dass Josef allen Verlust und alle Verletzungen hat loslassen können. Und seinen zweiten Sohn nennt er Ephraim (= doppelt fruchtend), denn: »Gott hat mich wachsen lassen in dem Lande meines Elends« (41,52). Josef ist der Mann des Gelingens, aber erst im Durchgang durch ein Leid, das er nicht nachträgt. Er ist ein Begnadeter, aber die Gnade ist kein Zuckerschlecken. In ihr liegt die Schwere des Auftrags zur Selbstüberwindung. Die Namen der Söhne bezeichnen die Gnade und das Ringen Josefs: das Verzeihen- und das Schöpferisch-sein-Können.
Es kommen die Hungerjahre, »und alle Welt kam nach Ägypten, um bei Josef zu kaufen« (41,57). So kommen auch die Söhne Israels, und – sie fallen vor ihm nieder. Josef erkennt seine Brüder sofort und denkt auch sogleich an seine Träume von einst. Aber er gibt sich nicht zu erkennen, sondern stellt sie erst auf harte Proben. Auch sie müssen bis zur Versöhnung Schritte einer Einweihung gehen. Er unterstellt ihnen, Spione zu sein, und sie müssen sich rechtfertigen und zeigen, wer sie über all die Jahre geworden sind. Da Benjamin, Josefs einziger Vollbruder, nicht mit ihnen ist, behält er einen der Brüder als Geisel zurück, damit er sehen kann, ob sie nun zueinanderstehen und ihn auslösen. Widerwillig lässt der Vater schließlich wegen des fortdauernden Hungers in Kanaan auch Benjamin, der ihm nach dem totgewähnten Josef der Liebste ist, mit ihnen ziehen. Auch bei ihrem zweiten Besuch verneigen sie sich und fallen vor ihm nieder. Und ein drittes Mal noch werden sie das tun, dann ist die Prüfung vollendet. Josef hatte heimlich seinen silbernen Becher in Benjamins Sack mit dem erworbenen Korn packen lassen, um ihn, der sich schon auf der Rückreise befand, als flüchtigen Dieb dingfest zu machen und bei sich zu behalten. Das aber wäre der sichere Tod Jakobs. Die Brüder fallen ein letztes Mal vor Josef nieder, und Juda ergreift das Wort zu einer langen mutigen Rede, in der er sich um des Vaters willen im Austausch gegen Benjamin als Sklave anbietet, denn er könnte den Jammer nicht sehen, der über Jakob kommen würde, verlöre er nun auch noch den zweiten Liebsten. – Jetzt ist es genug. Josef erkennt die Rechtschaffenheit seiner Brüder. Auch sie sind einen Weg der Bewährung gegangen. Versöhnung ist möglich. Da gibt sich Josef den Erschrockenen zu erkennen, und jetzt würde der Satz passen: »Traut euren Augen nur, liebe Männer!« Er ist es, und er ist ein Auferstandener für sie. – Die Situation trägt vorwegnehmend Züge des Mysteriums von Golgatha. Den Brüdern ist vergeben, denn sie wussten nicht, was sie taten, als sie Josef verkauften. »Und nun bekümmert euch nicht und denkt nicht, dass ich darum zürne, dass ihr mich hierher verkauft habt; denn um eures Lebens willen hat mich Gott vor euch her gesandt. … dass er euch übrig lasse auf Erden und Euer Leben erhalte zu einer großen Errettung« (45,5f). Gott hat die bösen Absichten der Menschen gewandelt. Das heißt nicht, dass das Böse Bedingung des Guten wäre, sondern es kommt anders, als menschliches Ermessen es für möglich hält. »Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen«, sagt Josef vollkommen versöhnt ganz am Ende seiner großen Geschichte, »aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk« (50,20).
Erwarten könnte man nun, dass die beiden Söhne Josefs zu Urvätern jenes Stammes würden, aus dem Jesus von Nazareth hervorgeht. Das aber geschieht nicht. Ein Urvater Jesu wird Perez, jener Sohn, den Juda mit seiner Schwiegertochter Tamar auf ungehörige Weise zeugt. Die delikate Geschichte dieser beiden ist in die Josefsgeschichte eingefügt, und zwar genau dort, wo Josef verkauft wurde. Hier schon fallen Würfel für die Zukunft Israels, die in die Inkarnation Christi münden wird. Und Juda, der sich zuerst so fragwürdig verhielt, wird in seiner Bereitschaft, sich für Benjamin vor Josef zu opfern, nun doch zu einem würdigen Träger des Stammbaums Jesu.
All diese Geschichten sind so wunderbar ineinander verschlungen, dass alles Planen und Rechnen vor einem viel geistvolleren Autor der großen Geschichte verstummen muss.